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Nach dem Ethikunterricht schnappte ich mir Rics Hand und zog ihn aus dem Raum, ohne mich von Pippa zu verabschieden. Ihre spitzen Kommentare während des Unterrichts hatten mich gekränkt.

»Was ist los?«, fragte Cedric, als ich ihn kommentarlos hinter mir herzog. »Sonst bin ich derjenige, der es kaum erwarten kann, hier rauszukommen.«

Zur Antwort blieb ich stehen und gab ihm einen Kuss. Darauf hatte er, bis auf ein Grinsen, nichts zu erwidern.

»Lass uns was unternehmen«, sagte ich und schlang die Arme um seinen Hals. »Ich habe genug von den ganzen Diskussionen.«

Ric lächelte. »Da bist du bei mir an der richtigen Stelle.«

Händchen haltend verließen wir das Schulgebäude. Ich konnte es kaum erwarten, mich gemeinsam mit Ric ins Wochenende zu stürzen.

Die Tür fiel hinter uns ins Schloss und schwang kurz darauf wieder auf. »Evelyn.«

Die Nackenhaare stellten sich bei dem Klang meines vollen Namens auf.

»Evie«, murmelte ich und ging weiter.

Ric hielt mit mir Schritt.

Pippa kam hinter uns hergelaufen. »Evelyn. Jetzt bleib doch mal stehen.«

Ich hatte keine Lust auf ein erneutes Wortgefecht mit ihr. Sie war für den Rest der Woche aus meiner Planung gestrichen. Vermutlich wollte Pippa mich nur davon überzeugen, mit zu der Demo zu kommen. Bei dem Thema ließ sie nie locker.

Am Schultor holte sie uns ein. »Warum wartet ihr denn nicht?«

Ich setzte zu einer passenden Antwort an, da hielt sie mir das Display ihres Smartphones entgegen. »Lies das.«

Fragend sah ich sie an. Was sollte das denn jetzt schon wieder?

»Na, mach.« Pippa drückte mir das Smartphone in die Hand.

Mysteriöse Todesfälle geben Weltgesundheitsorganisation Rätsel auf, stand dort in fetten Buchstaben. Ich nahm das Handy und überflog den Text.

»Mehreren Journalisten wurde ein interner Bericht der Weltgesundheitsorganisation zugespielt, der Bedenkliches zutage fördert«, las ich leise.

»Dachte mir, dass dich das interessieren würde«, sagte Pippa und rückte den Riemen ihrer Tasche zurecht.

»Was ist das?«, fragte Cedric und legte das Kinn auf meine Schulter, um mitzulesen.

Anstatt ihm direkt zu antworten, erklärte Pippa: »Da steht, dass die schon seit Monaten an den Fällen dran sind. Die Sicherheitsbehörden sind längst informiert. Die Leute haben alle die gleichen Symptome. Schweißausbrüche, glänzende Augen, Gliederschmerzen. Gefolgt von Schüttelfrost. In manchen Fällen Erbrechen, sogar Verwirrtheit und Halluzinationen.«

»Das kenne ich«, sagte Ric. »Man nennt es Vollrausch.«

Pippa verzog keine Miene. »Und steigt bei dir dann auch die Körpertemperatur auf 42,5 Grad an?«, fragte sie unbeeindruckt.

Ric dachte noch über die Frage nach, da antwortete sie bereits selbst: »Ganz sicher nicht. Dann wärst du nämlich tot. 42,5 Grad – das überlebt niemand. Ist die Grenze einmal überschritten, gibt es kein Zurück mehr. Die Betroffenen sterben angeblich innerhalb von vierundzwanzig Stunden. Ohne Ausnahme.«

Ein Frösteln durchfuhr mich bei ihren Worten. »Da steht, dass sie inzwischen in über hundert Todesfällen ermitteln. Wieso erfahren wir das jetzt erst?«

»Angeblich wollten sie die Öffentlichkeit nicht beunruhigen. Deshalb haben sie es unter Verschluss gehalten. Und was hätten die uns schon sagen sollen? Die sind sich ja nicht einmal sicher, was die genaue Todesursache ist. Die haben Autopsien durchgeführt. Sie konnten keine Erreger ausmachen, auch keinen Hinweis auf giftige Substanzen oder sonst was. Das sind die führenden Mediziner der Welt, und die wissen nicht, womit sie es zu tun haben. Wer weiß, wie viele Fälle es noch gibt, auf die sie noch gar nicht aufmerksam geworden sind?«

»Etwas haben die Opfer gemeinsam«, bemerkte Ric, als er die Bilder auf dem Display betrachtete. »Die sind alle steinreich.«

Pippa nickte. »Richtig. Deswegen dachten die Experten auch erst, dass es sich um gezielte Angriffe handelt.«

»Und was glauben sie jetzt?«, fragte ich.

»Sie gehen davon aus, dass es eine neue Art von Krankheit ist.«

»Ein neues Virus?«, fragte Ric alarmiert.

Pippa schüttelte den Kopf. »Das hier ist eine ganz andere Nummer. Ein Leiden, das so weit entwickelt ist, dass es sich mit der modernen Medizin nicht erklären und schon gar nicht behandeln lässt.«

»Man kann nichts dagegen machen?«, fragte ich ungläubig.

Bei einem normalen Virus gerieten manche Leute schon in Panik. Wie reagierten sie dann erst, wenn diese Krankheit weiter um sich griff?

Ratlos zuckte Pippa mit den Schultern. »Die können ja nicht mal sagen, woran diese Leute sterben«, seufzte sie. »Die Symptome sind klar, die Ursache nicht. Da steht, dass es wie eine Viruserkrankung verläuft. Nur ohne Virus. Kaum zu fassen, oder?« Sie stupste mich an. »Du hattest recht. Die Sache im Flugzeug – das war kein epileptischer Anfall.«

»Heißt das, dass bald wieder ein Lockdown kommt?«, fragte Ric.

Pippa legte die Stirn in Falten. »Hast du gerade überhaupt zugehört?«

Er antwortete nicht darauf.

»Das hier ist mit nichts anderem zu vergleichen«, stellte Pippa klar. »Die alten Regeln gelten nicht.«

Diesmal war es meine Stirn, die Falten schlug. Obwohl ich als Erste an die Echtheit dieser Neuigkeit hätte glauben müssen, kam mir die Nachricht unwirklich vor. Einerseits hielt ich die Bestätigung für meine Vermutungen in den Händen. Andererseits hörte sich das Ganze so unwahrscheinlich an, dass ich überzeugt war, es müsse sich um einen Fehler handeln.

Die Haupttür schwang erneut auf und Adrian trat auf den Schulhof. Unter dem Arm trug er einen Rollerhelm. Adrian nahm nicht nur beim Sitzen viel Platz ein, sondern auch beim Laufen. Seine Füße schwangen schräg nach vorne, als wolle er die Umstehenden wegtreten wie einen Fußball. Jeder, der ihm entgegenkam, wich direkt beiseite.

»Pippa«, rief Adrian über den halben Platz und wedelte mit seinem Handy. »Was sagst du dazu? Die Leute einfach wegsterben lassen. Auch eine Lösung.«

»Ha-ha«, erwiderte die trocken. »Es gibt nichts Lustigeres als den Tod Hunderter Menschen.«

Ihre Miene blieb hart.

Adrian gesellte sich zu uns. »War doch nur ein Scherz.«

»Seltsam. Und ich dachte immer, Scherze sollen lustig sein«, sagte Pippa.

Adrian erwiderte dies mit einem unantastbaren Lächeln. »Warum so ernst?«, fragte er. »Bist du heimliches Mitglied im Club der Milliardäre?«

Manchmal hatte ich das Gefühl, dass er Pippa insgeheim mochte. Ständig sah Adrian zu ihr herüber, sprach sie an, zog sie auf. Er aber entsprach allem, was Pippa verabscheute. Abgesehen davon hatte sie die Jungen aus unserem Jahrgang nie interessant gefunden. Sie waren ihr zu unreif.

»Die Sache ist fieser, als du denkst«, sagte Pippa. »Frag Evelyn.«

Adrians Blick ging zu mir. »Was soll das heißen?«

Ich sträubte mich dagegen, die Gedankenschublade aufzuziehen und den Vorfall aus dem Flugzeug hervorzuholen. Aber blieb mir überhaupt eine andere Wahl?

»Sie war dabei, als eines der Opfer gestorben ist«, sagte Pippa.

Adrians Augen weiteten sich überrascht.

»Vermutlich«, wandte Ric ein. Er stupste mich an. »Hundertprozentig weißt du es nicht, oder?«

»Auf jeden Fall gehörte der Kerl nicht zu den hundert reichsten Menschen der Welt«, sagte Pippa. »Die Gefahr ist vielleicht größer, als alle denken.«

Mich überkam bei ihren Worten ein altbekanntes Gefühl der Enge. Der Schulhof schrumpfte auf wenige Quadratmeter zusammen. Erinnerungen zogen an meinen Beinen und brachten mich ins Wanken. Die Umgebung verschwamm vor meinen Augen. Die Stimmen der anderen verstummten unter dem Donnern meines Herzschlags. Ich hatte das Bedürfnis, vor diesem Gefühl wegzulaufen. Aber ich wusste, dass das nichts brachte. Denn es saß tief in mir und würde mir überallhin folgen.

Ich atmete tief durch. Nein. Ich würde nicht zulassen, dass dieses Gefühl die Kontrolle über mich erlangte. Lange hatte ich erfolgreich dagegen angekämpft. Gedanklich zählte ich von fünf rückwärts.

»Keine Ahnung«, murmelte ich, als das beklemmende Gefühl abebbte.

»Das kommt jetzt vielleicht etwas unpassend, aber ich feiere nächsten Samstag meinen Geburtstag nach«, sagte Adrian dann. »Ihr seid eingeladen.« Er sah zu Pippa. »Sogar du.«

»Was für eine Ehre«, erwiderte sie.

»Party? Klingt gut«, sagte Ric und klatschte mit Adrian ab.

Ich reagierte als Einzige nicht auf die Einladung. Die Neuigkeit über diese vermeintliche Krankheit warf einen dunklen Schatten über den Schulhof. Ich hatte einem der möglichen Opfer direkt in die Augen gesehen. Hatte es berührt. Hatte es sterben sehen. Die Erinnerung lag wieder sengend heiß auf meiner Haut.

An den anderen ging all das vorbei. Mit einer Handbewegung verabschiedete Adrian sich von uns.

Sobald er mit seinem Motorroller abgedüst war, wandte Pippa sich uns zu. »Die Schule sollte uns Schmerzensgeld dafür zahlen, dass wir jede Woche mit ihm auf engstem Raum eingesperrt werden.«

Manchmal war ich mir nicht sicher, wen sie mehr hasste: Adrian oder Cedric. Wahrscheinlich war es ein Kopf-an-Kopf-Rennen.

»Wir sollten alle zu seiner Party gehen«, sagte Ric, unberührt von Pippas grimmiger Art. Er legte den Arm um meine Schultern. »Das wird bestimmt lustig.«

Stumm sah ich ihn an. Ich brachte kein Wort hervor. Wenn eine Beschreibung nicht länger zu unserer Situation passte, dann war es »lustig«.