9

Stöhnend wälzte sich Adrian vor uns auf dem Boden.

Ohne zu wissen, was zu tun war, kniete ich mich neben ihn. Ich packte ihn an den Schultern und versuchte, ihn ruhig zu halten. Es brauchte all meine Kraft. Er wand sich heftig unter meinem Griff.

»Adrian«, sprach ich ihn an. »Was ist los?«

»Die …« Er stockte und verdrehte die Augen. Speichel floss ihm aus dem Mundwinkel. Sein Gesicht lief rot an. Es sah aus, als würde er ersticken.

Ich fuhr zu Cedric herum. »Ruf den Notarzt. Los!«

Ric war wie festgefroren. Er bewegte sich keinen Millimeter, während Adrian unter meinen Händen gegen seinen eigenen Körper ankämpfte.

Ein Totalausfall.

Erneut sah ich zu Adrian. Er strampelte mit den Füßen, traf den Grill. Funken stoben auf.

»Fieb… Ich kann nicht …«, stöhnte er.

Ich fasste ihm an die Stirn. »Er glüht.«

Mit dieser Erkenntnis stieg auch in mir Hitze auf.

Pippa hockte sich neben mich. Gemeinsam fixierten wir ihn. »Wenn es …«, begann sie und schluckte. »Wenn es Fieber ist, dann …«

Dann wird der Notruf nichts bringen. So hätte der Satz enden sollen. Sie wagte nicht, ihn auszusprechen.

Wortlos sahen wir einander an, als uns das bewusst wurde. Nein. Das durfte nicht passieren. Es konnte nicht sein. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich hatte das ein Mal mitgemacht, ich würde nicht ein zweites Mal zusehen, wie jemand Fieber zum Opfer fiel. Erneut drehte ich mich zu Cedric. »Ric! Notruf!«

Er verharrte wie angewurzelt, als hätte ihn jemand in Wachs gegossen, das langsam erstarrte.

»Was ist denn mit dir los?«, schrie ich ihn an.

Ich erkannte meine eigene Stimme nicht wieder. Sie war wie losgetrennt von meinem Körper, platzte aus mir heraus in den Garten hinein. Ich löste die linke Hand von Adrians Handgelenk und holte das Smartphone aus meiner Bauchtasche. Mit zitternden Fingern wählte ich den Notruf.

Ein schriller Laut kam aus Adrians Kehle. Der Ton drang tief in meine Ohren. Seine Finger gruben sich in mein Handgelenk, dann riss er mir das Handy aus der Hand und warf es beiseite. Erschrocken sah ich zu Adrian. Er hatte den Mund weit aufgerissen. Die Augen bildeten zwei schmale Schlitze.

Er lachte.

Er wälzte sich auf dem Boden und lachte.

Mein Schock wich erst Fassungslosigkeit und dann dem Gefühl unkontrollierter Wut. Das war ein Scherz. Er hatte uns einen Streich gespielt und den Anfall vorgetäuscht. Adrian keuchte, als ich ihm mit der Faust auf den Brustkorb schlug. »Du Scheißarschloch!«

Adrian wusste, dass ich einen Mann an dem echten Fieber hatte sterben sehen, und jetzt zog er eine so verschissene Nummer ab? Ich stand auf und wich von ihm zurück.

Cedric blickte mich völlig verstört an. Er war noch immer wie erstarrt. Als wäre die Info, dass Adrian uns etwas vorgespielt hatte, nicht bei ihm angekommen. Als würde überhaupt nichts mehr bei ihm ankommen.

»Natürlich ist mir heiß«, sagte Adrian und setzte sich auf. »Stellt ihr euch mal den ganzen Abend an den Grill.«

Pippa rollte mit den Augen und stand ebenfalls auf. »Du bist der größte Idiot aller Zeiten«, sagte sie, gefolgt von einem langen Seufzer. »Und ich kenne viele dumme Leute. Ich habe fünf Cousins.«

Für sie war er ein hoffnungsloser Fall.

Adrian aber lachte weiter. Er fand seinen Auftritt unglaublich lustig. Damit war er alleine.

»Jetzt seid nicht sauer. Ihr wisst genau, dass ich nicht annähernd in die Risikogruppe falle«, sagte er, als würde das die Aktion rechtfertigen. »Schön wär’s. Dann würde ich nicht in dieser Hütte leben. Und zur Schule würde ich definitiv auch nicht mehr gehen. Dachtet ihr ernsthaft, mich hätte dieses Fieber erwischt?«

Ich trat noch einen Schritt zurück. Beschämt und wütend darüber, dass ich auf seinen Trick hereingefallen war, wischte ich mir eine Träne von der Wange.

Als Ric die Reaktion in meinem Gesicht sah, wachte er endlich auf. Ein Blitz durchfuhr seinen Körper. Die Bierflasche glitt ihm aus der Hand und landete im Gras. Er stürzte sich auf Adrian und packte ihn am Kragen seines Mantels.

»Das findest du witzig, ja?«, schnaubte er.

Er griff nach dem rohen Stück Fleisch, das auf den Holzpaneelen lag, und zwang es Adrian zwischen die Zähne. »Friss das. Dann erwischt es dich vielleicht wirklich.«

Adrian ächzte unter der Last. Das Steak nahm ihm die Luft zum Atmen.

»Ric!« Ich zerrte an seinem Oberarm, aber ich kam nicht gegen ihn an. Das war das erste Mal, dass ich ihn derartig wütend erlebte.

Adrian würgte an dem Stück Fleisch, das zwischen seinen Zähnen steckte. Cedrics Hand bedeckte sein halbes Gesicht.

»Hör auf.« Pippa kam mir zu Hilfe. Sie geriet ins Wanken, als Cedric sie beiseitestieß. Mit einem Stöhnen landete sie auf der Hüfte. Ich riss Ric von Adrian weg. Am Ende lagen wir alle im Gras.

»Bist du jetzt völlig verrückt geworden?«, fragte ich Cedric, als er sich neben mir aufsetzte.

Er antwortete nicht. Stattdessen blickten Adrian und er einander wild an. Ric schleuderte das Stück Fleisch beiseite. Er rieb sich die verschmierten Hände an der Jogginghose ab.

»Wusste ich doch, dass es eine Scheißidee war, herzukommen«, fauchte Pippa und stand auf. Ihr Gesicht nahm eine tiefrote Schattierung an. Der Mund verformte sich zu einem festen Bumerang. Die dichten Augenbrauen zogen sich tief auf ihrer Stirn zusammen. In diesem Moment war ich mir sicher, dass Pippa die ursprüngliche Inspiration für das Wut-Emoji gewesen sein musste. »Vielen Dank für die Einladung. Nicht.«

Sie strich sich den Dreck von der Hose. Dann stampfte sie davon.

»Warte«, rief ich und sprang ebenfalls auf die Füße.

Pippa hörte nicht auf mein Rufen.

Lucy kam uns entgegen. »Was ist denn passiert?«, fragte sie. Besorgt sah sie zu Adrian und Ric, die auf dem Boden hockten.

Pippa ignorierte sie. Zielsicher marschierte sie über den Rasen in Richtung Auffahrt.

»Pippa, jetzt warte doch mal«, rief ich und lief ihr hinterher. »Pippa«, forderte ich erneut, um es schließlich mit einem energischen »Filippa« zu versuchen.

Sie fuhr herum. Ihre Augenlider flatterten vor Aufregung. »Ernsthaft. Mit dem Kerl willst du zusammen sein?«

»Adrian hat es drauf angelegt«, verteidigte ich Ric, obwohl auch ich seine Reaktion überzogen fand. Ich war ebenfalls wütend auf Adrian, aber ein Stück rohes Fleisch hätte ich ihm deswegen nicht um die Ohren geschlagen.

Pippa schnaubte. »Wenn wir ihn nicht davon abgehalten hätten, wäre Adrian an dem Steak erstickt.«

»Jetzt übertreibst du aber«, sagte ich.

Sie schlug die flachen Hände auf die Oberschenkel. »Warum nimmst du Ric ständig in Schutz? Immer bist du auf seiner Seite.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Was ist eigentlich dein Problem?«

Adrian hatte soeben vorgetäuscht, an einem Fieberanfall zu sterben, und uns damit eine Heidenangst eingejagt. Warum war sie nicht auf ihn wütend, sondern auf Ric?

»Was mein Problem ist?«, entfuhr es Pippa.

»Du konntest Ric von Anfang an nicht ausstehen. Seitdem wir zusammen sind, hast du nicht ein nettes Wort über ihn verloren. Wenn er im gleichen Raum ist, tust du so, als würde er nicht existieren. Bist du eifersüchtig?«

Entgeistert sah Pippa mich an. »Eifersüchtig? Auf wen? Auf dich oder auf Cedric?«

Ich antwortete mit einem Schulterzucken. In dem Moment hielt ich alles für möglich. »Warum redest du nicht einfach mal Klartext?«

»Klar. Ich bin eifersüchtig auf euch. Cedric und Evelyn – das Traumpaar.« Ihr Sarkasmus schlug mir hart entgegen.

»Was ist es dann?«, fragte ich. »Wieso gönnst du mir das nicht? Wieso kannst du dich nicht darüber freuen, dass ich jemanden gefunden habe, dem ich etwas bedeute und der mir was bedeutet?«

»Der dir etwas bedeutet«, wiederholte Pippa. »Verstanden.«

Sie klang wie jemand, dem das Herz gebrochen worden war. Enttäuschung zog in tiefen Schatten über ihr Gesicht. Pippa biss sich auf die Unterlippe. Sie schüttelte den Kopf und blickte auf das Stück Rasen, das zwischen uns lag. Saftig grün. Gleichmäßig geschnitten. Kein Blatt Unkraut zwischen den Halmen. Von Menschen gemachte Natur.

»Warum bist du aus der Bewegung ausgestiegen?«, fragte sie dann.

»Was?« Mit diesem Themenwechsel hatte ich nicht gerechnet.

»Wieso kommst du nicht mehr zu den Treffen?«, fragte Pippa. »Du hast mich da reingeholt. Und dann hast du dich einfach verzogen.«

Das war das erste Mal, dass sie mich offen darauf ansprach. Es stimmte. Ich war diejenige, die sich als Erste der Bewegung angeschlossen hatte, um gegen den Klimawandel, das Artensterben und die Umweltverschmutzung zu demonstrieren. Ich hatte nicht länger stumm hinnehmen können, dass wir nach jeder Katastrophe noch mehr Schaden anrichteten als zuvor, anstatt endlich Konsequenzen zu ziehen. Regelmäßig ging ich zu den Treffen. Ich machte mich schlau, engagierte mich, änderte mein Verhalten. Ich wurde Vegetarierin. Ich verbannte Kaffeekapseln, Plastikflaschen und Strohhalme aus unserem Haushalt. Wenn ich duschte, stellte ich einen Timer. Das war noch immer so. Meine Eltern freuten sich. Sie sparten Geld. Damals verzichtete ich sogar auf unseren Italienurlaub, um gemeinsam mit anderen Demonstranten auf die Straße zu gehen.

Darüber freuten sich meine Eltern nicht.

»Also«, sagte Pippa mit fordernder Stimme, »warum kommst du nicht mehr?«

Seit sechs Monaten gab sie mir zu verstehen, dass sie Cedric verabscheute. Und erst in diesem Augenblick begriff ich, worum es wirklich ging.

»Kannst du Ric deshalb nicht ausstehen? Denkst du, ich hätte seinetwegen aufgehört?«

Pippa sagte nichts, verschränkte nur die Arme vor der Brust. Für mich war das Antwort genug.

»Ich bin nicht seinetwegen ausgestiegen«, sagte ich.

Die wahren Gründe hatte ich Pippa nie erzählt. Sie würde sowieso kein Verständnis aufbringen. Dafür bedeutete ihr das Thema zu viel. Aber jetzt war ich sauer über die Tatsache, dass sie Ric so viel Macht über mich zusprach. Dass sie ernsthaft glaubte, mein Freund wäre dazu in der Lage, mich von meinen Interessen abzubringen und meine Freizeit zu bestimmen. Die Wut war so groß, dass die Wahrheit aus mir herausplatzte:

»Ich gehe nicht mehr hin, weil ich es nicht mehr ertragen konnte. Jede Woche die gleichen Forderungen, die Aufrufe, die immer verzweifelteren Versuche, uns Gehör zu verschaffen. Und jedes Mal die gleiche Enttäuschung. Auf jede positive Nachricht kamen zwei negative. Fliegen wird teurer, aber schaut, die Polkappen schmelzen trotzdem und lassen tonnenweise Methan entweichen. Wir investieren in erneuerbare Energien, aber die Arktis brennt weiter und setzt dabei mehr CO2 frei als du in einem ganzen Leben. Du willst kein Fleisch mehr essen? Okay, aber der Amazonas wird jetzt noch schneller abgeholzt.

Es war, als würden wir versuchen, mit einem Wassereimer einen ganzen Waldbrand zu löschen. Und je lauter wir geschrien haben, desto härter wurde der Widerstand. Als wären wir auf einmal schuld an allem. Das hat mich fertiggemacht.«

Ich seufzte, wie ich es damals so oft getan hatte.

Pippa hörte mir geduldig zu.

»Irgendwann stand ich im Supermarkt und mir ist schlecht geworden. Richtig übel, verstehst du? Ich habe mich umgesehen, und alles, was ich gesehen habe, waren Verpackungen und Plastik. Müll. Tonnen von Müll. Und das nur in einem einzigen Supermarkt. Da musste ich mir all die anderen Supermärkte auf der Welt vorstellen. Berge von Müll. In brennenden Haufen, im Ozean versenkt, in Tiermägen, in unseren Körpern. Müll. Überall. Und da habe ich Panik bekommen. Richtige Panik. Die Aufgabe erschien mir zu groß, nicht zu bewältigen. Ich war völlig überfordert.«

Ich fühlte noch immer die Enge in meiner Brust. Den Schwindel, der mich überkommen hatte. Es war, als würde mich die Last der Situation an Ort und Stelle erdrücken. Die Welt zerfiel vor meinen Augen und ich mit ihr. Ich hatte auf dem Absatz kehrtgemacht und war aus dem Supermarkt gestürmt.

Ich schloss mich für den Rest des Wochenendes in meinem Zimmer ein und weinte. Stundenlang lag ich regungslos im Bett, aber ich schlief nicht. Mein Essen rührte ich nicht an. Ich sah keinen Sinn mehr darin, in die Schule zu gehen. Morgens aufzustehen erschien mir zwecklos. Meine Eltern begriffen nicht, was los war. Mama glaubte, dass ich überreagierte. Papa konnte mein Leiden noch weniger nachvollziehen. Allein Rics Nachrichten boten mir Ablenkung. Seine unbeschwerte Art brachte mich auf andere Gedanken.

Da entschied ich, aus der Bewegung auszusteigen. Nicht nur das. Ich packte das Problem bei den Wurzeln und riss es aus meinem Leben. Ich hörte auf, mich damit zu beschäftigen. Ich blendete jegliche Diskussionen darüber aus. Informierte mich nicht mehr. Ich wandte der Bewegung den Rücken zu, als würden all die Probleme damit verschwinden. Mama schien nahezu erleichtert und Ric hinterfragte die Entscheidung nicht weiter.

Das Traurige war, dass ich mich danach besser fühlte. Das ist das Absurde an diesem Problem. Es war das Absurde an diesem Problem. Nicht die, die gedankenlos weitermachten wie zuvor, litten darunter. Sondern diejenigen, die sich einsetzten. Sie litten jeden verdammten Tag. In Gedanken. Im Herzen.

»Ignoranz ist so leicht«, sagte ich. »Man muss dafür keine Energie aufwenden. Sich zu kümmern, das verlangt Kraft, Zeit, persönliche Opfer.«

Ich ertrug es damals nicht. Zwar hatte ich anfangs ein schlechtes Gewissen, wenn die anderen ohne mich auf die Straße gingen, aber nach wenigen Wochen schlief ich wieder ruhig.

»Ich konnte nicht so weitermachen. Ich kann mich nicht um alles sorgen und selbst daran kaputtgehen«, gestand ich. »Und jetzt ist da dieses Fieber. Und ich habe Angst, dass das alles wieder von vorne losgeht.«

Pippa machte einen Schritt auf mich zu. »Warum hast du mir das nie erzählt?«

Sie fühlte mit mir. Das erkannte ich an ihren sonst geraden Augenbrauen, die jetzt zwei besorgte Häkchen formten.

»Ich hatte Angst, dass du wütend wirst«, gestand ich. »Dass du mich davon würdest überzeugen wollen, doch weiterzumachen.«

»Oh, Süße«, sagte Pippa und strich mir über den Arm. »Du kennst mich zu gut.«

Das entlockte mir ein Lachen.

»Denkst du, ich kenne das Gefühl nicht?«, fragte sie.

Ihre Antwort überraschte mich. Ich dachte, ich hätte Pippa durchschaut, würde wissen, wie es in ihr aussah. Aber in diesem Moment begriff ich, dass auch sie einen Teil ihrer Innenwelt vor mir verbarg.

»Manchmal ist die Angst unerträglich. Ich brauche auch ab und an eine Auszeit. Sonst hält man das nicht aus. Dann gehe ich joggen oder lese oder mache einfach … gar nichts. Und dann denke ich an unsere Ziele. Wir können alles erreichen, wenn wir wollen. Wir müssen nur lange genug durchhalten. Nur so haben wir eine Chance. Es gibt keine Abkürzung.«

Ich bewunderte Pippa für ihren Ehrgeiz. Für ihren Mut. Ihre Unnachgiebigkeit.

Und ich schämte mich für meine Gleichgültigkeit. Meine Feigheit. Meine Ignoranz.

»Aufzugeben ist genauso schlimm, wie das Problem zu leugnen. Beides sorgt dafür, dass nichts unternommen wird.« Pippa nahm meine Hand. »Außerdem musst du es so sehen«, fuhr sie fort, »ohne die Bewegung hätten wir nicht einen Schritt vor und zwei zurück gemacht, sondern drei zurück – und das wäre noch viel schlimmer. Wir haben schon mehr erreicht, als viele denken.«

Ihre Finger verschränkten sich mit meinen.

»Du kannst immer mit mir reden«, sagte sie. »Denk nicht, dass ich deine Gefühle nicht verstehen kann.«

Mit dem Daumen strich sie über meinen Handrücken.

Seit langer Zeit hatte ich endlich wieder das Gefühl, meiner besten Freundin gegenüberzustehen.