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Pippa und ich hielten einander noch an den Händen, als wir gemeinsam zu den anderen zurückgingen. Die Aussprache hatte uns beide von einer Last befreit, die wir zuvor wie selbstverständlich mit uns herumgeschleppt hatten.

Für die anderen Partygänger war unsere Auseinandersetzung unbemerkt geblieben.

Adrian stand wieder am Grill, als wäre nichts gewesen.

Ric unterhielt sich mit Yaro auf der Terrasse und trank sein mittlerweile zweites oder drittes Bier.

»Ich glaube, ich bleib nicht mehr lange und geh nach Hause«, sagte ich.

Ich sehnte mich in den Katzen-Onesie zurück.

»Was dagegen, wenn ich mitkomme?«, fragte Pippa.

Wie zur Antwort vibrierte das Handy in meiner Bauchtasche. Ich zog den Reißverschluss auf, um nachzusehen. Es war eine Push-Nachricht mit den neuesten Meldungen zu Fieber. Sofort öffnete ich die letzte Mitteilung.

Schlecht fürs Klima? Dann kommt Fieber, lautete die einfallslose Überschrift.

»Was ist?«, fragte Pippa.

»Fieber«, antwortete ich knapp, als würde ihr das irgendwie weiterhelfen.

Ich startete das Video zu dem Beitrag und hielt das Display so, dass Pippa mitschauen konnte. Ein Vlogger mit rot gefärbten Haaren und Kapuzenpullover tauchte auf dem Bildschirm auf. Er ratterte seinen Text in einem Zug herunter, ohne Luft zu holen. Hätte jeder so ein Tempo draufgehabt, dann hätten wir alle doppelt so schnell gesprochen, gegessen und gelebt. Und vermutlich wären wir doppelt so früh gestorben.

»Hey, Leute! Inzwischen habt ihr bestimmt alle von Fieber gehört«, begrüßte er uns. »Dieser total krassen, total tödlichen Krankheit, von der keiner sagen kann, ob es wirklich eine Krankheit ist. Täglich kommen neue Fälle hinzu, und bisher konnte uns keiner erklären, was dahintersteckt.«

Mehrere Fragezeichen poppten im Bild auf.

»In den letzten Tagen gab es megaviele Spekulationen und Gerüchte rund um Fieber. Jetzt hat eine Expertenkommission die bisherigen Todesfälle ausgewertet und festgestellt, dass sich die Ausbreitung von Fieber zu einer ernsten Bedrohung für uns alle entwickeln könnte. Ja, ihr habt richtig gehört: Fieber stellt ein Risiko für die gesamte Weltbevölkerung dar.«

Auf dem Display erschien eine Weltkarte, die mit Totenkopfsymbolen übersät war.

»Mittlerweile zählt man über dreihundert bestätigte Fieber-Opfer«, sprach er weiter. »Fieber breitet sich unaufhaltsam aus, es erfasst Personen aller Altersgruppen, es tritt weltweit auf und zeigt einen ungewöhnlichen Erkrankungsverlauf. Bei allen Opfern gab es bisher keine erkennbaren Vorzeichen. Wie aus dem Nichts steigt die Körpertemperatur an, der Kreislauf bricht zusammen, das Eiweiß gerinnt im Körper …«, Schnitt auf ein Spiegelei in einer heißen Pfanne, »… und am Ende ist der Patient tot.«

Kirchenmusik in D-Moll erklang im Hintergrund.

»Aktuell ist kein Ende in Sicht. Im Gegenteil: Fieber breitet sich von Tag zu Tag schneller aus. Wie? Dazu gibt es jetzt eine neue Theorie.«

Zum ersten Mal machte der VJ eine Pause. Pippa und ich holten ebenfalls kurz Luft.

»Die Experten haben sich ausführlich mit den Vorgeschichten der bisherigen Opfer auseinandergesetzt«, fuhr er fort. »Wie euch sicherlich aufgefallen ist, waren bisher unverhältnismäßig viele Reiche unter den Opfern. Also, eigentlich fast nur … Die globale Elite ist in Panik. Und das zu Recht. Denn die Expertenkommission ist sich inzwischen einig, dass das Erkrankungsrisiko vom ökologischen Fußabdruck der Person abhängt.«

»Was?«, entwich es Pippa und mir gleichzeitig.

»Ihr habt richtig gehört. Was hat das jetzt mit – Achtung, Wortspiel – viel Kohle zu tun?«, fragte der Vlogger. »Na ja, in der Regel gilt: Je mehr man besitzt, desto verschwenderischer lebt man. Und das trifft nicht nur auf die Superreichen zu. Sorry für die schlechten News, Leute, aber selbst wenn ihr euch einbildet, dass ihr nachhaltig lebt, dann ist das oft einfach nicht der Fall. Zumindest nicht, wenn ihr zu den glücklichen Gewinnern unseres Wirtschaftssystems gehört. Und dabei ist egal, ob ihr neunzehn oder neunundneunzig seid.

Je größer euer Vermögen, desto größer ist das Haus, in dem ihr lebt; desto fetter der Fuhrpark, mit dem ihr durch die Gegend brettert; desto weiter und luxuriöser sind eure Reisen. Je extremer der Konsum, umso klimaschädlicher die individuelle Lebensweise – umso größer ist die Gefahr, dass man an Fieber erkrankt.

Kurz gesagt: Die alten Gewinner sind die neuen Verlierer. Zumindest wenn es um Fieber geht. Also, ich würde euch empfehlen, mal euren aktuellen Kontostand zu checken. Ihr wollt ja nicht die Nächsten sein und ein Ende ist momentan nicht in Sicht.

Wenn euch dieses Video gefallen hat, dann vergesst nicht, es zu liken, und falls ihr meinen Kanal nicht abonniert habt, dann tut das jetzt! Haltet die Ohren steif. Adios. Bis zum nächsten Klick.«

Mit offenen Mündern starrten Pippa und ich auf das Display. Gerade als das Video endete, kamen Lucy und Aliye auf uns zu.

»Wo habt ihr denn gesteckt?«, fragte Lucy.

Sobald sie unsere Gesichter sah, blieb sie stehen. »Ist alles in Ordnung?«

Sprachlos sahen Pippa und ich vom Display auf. Wir hatten die Neuigkeiten noch nicht verdaut. Das extreme Sprechtempo des Vloggers hatte nicht dazu beigetragen, die Informationen schneller zu verarbeiten. Im Gegenteil. Mein Kopf ratterte wie mein Laptop beim Virenscan.

»Habt ihr schon die letzten News zu Fieber gesehen?«, fragte Pippa und deutete auf mein Smartphone. »Das ist doch makaber.«

Sofort zog Aliye ihr eigenes Handy hervor und tippte darauf herum.

Lucy wählte den einfacheren Weg: »Was sagen sie denn?«, fragte sie.

»Dass Fieber diejenigen zuerst tötet, die sich am klimaschädlichsten verhalten«, antwortete ich und schluckte.

Aliye legte die Stirn in Falten. »Zuerst?«

Ich hatte soeben Wörter wie Fieber, töten und klimaschädlich ausgesprochen, und doch war es dieses kleine Wort, das für sie hervorstach. Ich fragte mich, ob sie begriff, was ich ihr gerade mitgeteilt hatte. Denn auch ich hatte Mühe, diese neuen Informationen zu verarbeiten.

»Ja. Zuerst«, bestätigte ich. Meine Finger umschlossen das Smartphone fest. »Sie gehen davon aus, dass Fieber weiter tötet«, sagte ich. »Einen nach dem anderen. Und es gibt kein Heilmittel, um es zu stoppen.«