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Wenn man die Information bekommt, dass der eigene Todestag vom ökologischen Fußabdruck abhängt, dann gibt es zwei mögliche Reaktionen: Man bricht entweder in hysterisches Gelächter aus und tut das Ganze als Fake News ab, oder man fängt an, genauer über den eigenen Fußabdruck nachzudenken.

Fieber stellte alle bisherigen Annahmen auf den Kopf. Der Klimawandel traf vor allem die Verletzlichsten zuerst. Die Schwachen, Armen und Älteren.

Fieber aber arbeitete sich genau andersherum vor. Es traf jene als Erstes, die sich lange in Sicherheit gewogen hatten. Jene, die zugleich die meiste Verantwortung trugen. Und das tat es unmittelbar und unaufhaltsam. Manch einer sah darin eine Art ausgleichende Gerechtigkeit. Andere sprachen von der Strafe Gottes.

Ich weiß nicht, ob Gott etwas damit zu tun hatte, aber ab jetzt machten täglich Schlagzeilen über Superreiche die Runde. Von heute auf morgen spendeten viele von ihnen Unmengen an Geld an Umweltprojekte, Forschungsstiftungen und die Weltgesundheitsorganisation, in der Hoffnung, verschont zu bleiben oder schnell ein Gegenmittel zu finden. Investoren zogen ihre Gelder aus Öl, Gas und Kohle zurück. Vorstandsvorsitzende großer Konzerne gingen frühzeitig in den Ruhestand, um die Verantwortung an den nächsten Willigen weiterzureichen. Internationale Politiker traten von ihren Ämtern zurück.

Nach wenigen Tagen erschien eine App, mit der jeder selbst berechnen konnte, in welche Risikogruppe er oder sie fiel. Ein Regierungssprecher riet davon ab, den Rechner zu nutzen. Es gäbe keinen Grund zur Beunruhigung. Die Einteilung der Weltbevölkerung in Fieber-Kategorien sorge für unnötige Panik. Die Lage sei für die breite Bevölkerung bei Weitem nicht so ernst, wie in den Medien behauptet würde.

Ich wusste nicht, ob er das wirklich glaubte oder ob er das nur sagte, um die Öffentlichkeit in Sicherheit zu wiegen. Vielleicht war es ein wenig von beidem.

Ich sah aus Neugier trotzdem nach.

Man musste einen endlosen Fragenkatalog ausfüllen, um herauszufinden, in welche Kategorie man fiel. Die Fragen gingen vom Ernährungsverhalten über die Größe des Hauses sowie den Wasser- und Energieverbrauch bis hin zu Hobbys, Konsum und Reiseverhalten.

Da Mama sich weigerte, mir den Ordner mit den Rechnungen zu zeigen, gab ich grobe Richtwerte ein. Ich hatte keine genaue Vorstellung davon, wie teuer oder billig unser Leben war.

Nervös rollte ich mit dem Schreibtischstuhl hin und her, während das Ergebnis lud. Kurz darauf blitzten mehrere rote Zahlen auf dem Display auf. Beinahe kippte ich mit meinem Stuhl um. Ich ergriff die Schreibtischkante und hielt im letzten Moment das Gleichgewicht.

Kinder und Jugendliche, die bei ihrer Familie lebten, wurden vorerst mit ihren Eltern in die gleiche Kategorie gezählt. Daher fiel ich gemeinsam mit Mama und Papa in die Kategorie 8. Von zehn. Hätte jeder so gelebt wie wir, hätte es zweieinhalb Erden gebraucht. Und Papas berufliche Reisen waren darin nicht eingerechnet. Dafür gab es nicht einmal ein entsprechendes Eingabefeld.

»Kategorie 8?«, murmelte ich.

Über uns standen viele Millionen Menschen – aber das beruhigte mich nicht. Nach uns kamen Milliarden.

Das Ergebnis hätte mich nicht überraschen dürfen. Bereits zu meiner Zeit bei der Bewegung hatte ich diverse Fußabdruckrechner benutzt und die Resultate waren jedes Mal ernüchternd gewesen. Dennoch war ich erstaunt. Ich hatte gehofft, dass die kleinen Maßnahmen, die ich in den letzten anderthalb Jahren eingeführt hatte, einen größeren Einfluss auf unsere Bilanz haben würden. Aber das hatten sie offenbar nicht. Es reichte nicht. Allein mit unseren Küchengeräten verbrauchten wir mehr Energie als andere im ganzen Jahr.

Direkt bereute ich, den Rechner benutzt zu haben. Ich schloss die App und deinstallierte sie umgehend.

Vielleicht hatte der Regierungssprecher recht. Den Rechner zu benutzen, war keine gute Idee. Wer wusste, ob die Berechnungsgrundlage stimmte? Die Daten, die ich eingegeben hatte, waren ungenau. Wer konnte schon sagen, welche Handlung und welche Entscheidung wie stark ins Gewicht fiel? Womöglich hatten wir Glück und fielen in eine niedrigere Kategorie.

Und doch war mir bei dem Gedanken an das Ergebnis unwohl. Acht von zehn. Damit bewegten wir uns im oberen Drittel.

Ich stand auf und schlurfte durch das Haus. Nach und nach sah ich mir die Zimmer an. Sie waren alle bis obenhin vollgepackt mit Möbeln, Klamotten und Krimskrams. Mein Blick wanderte über die Heizkörper, die Lampen, die Wasserhähne. Dinge, die ich lange nicht infrage gestellt hatte.

Ich ging zurück in mein Zimmer und sah zum Fenster hinaus. Mama lud gerade die Einkäufe aus dem Kofferraum des Kombis. Erneut musste ich an meinen Panikanfall im Supermarkt vor einem halben Jahr denken. Ich konnte die Gefahr in diesem Moment so klar sehen wie damals, als ich auf das Meer aus Plastik geblickt hatte. Unser Lebensstil war zu einem direkten Risiko für uns alle geworden.

Ich musste dafür sorgen, dass meine Eltern und ich auf der Liste weiter nach unten wanderten.

Die Frage war nur: wie?