16

Ric und ich verbrachten die gesamte Nacht auf dem Wasser und schliefen irgendwann gemeinsam ein. Als wir uns auf den Rückweg machten, dämmerte es. Das Licht spaltete den Himmel in zwei Hälften. Eine orangefarben, die andere tiefblau. Ich fröstelte in der Morgenluft. Meine Fingerspitzen waren kalkweiß vor Kälte.

In der Bahn zogen wir die Blicke der morgendlichen Pendler auf uns. Für sie brach ein neuer Tag an, für uns ging der letzte erst zu Ende. Der Alkohol lag mir schwer im Blut und zog meine Glieder zu Boden.

Als ich mich unserem Haus näherte, sah ich, dass im ersten Stock Licht brannte.

Ich schlich zur Tür hinein und streifte mir den Mantel vom Körper. Behutsam schlüpfte ich in meine Häschenhausschuhe. Sie waren puderrosa, eine Nummer zu klein und das linke Häschen hatte eines seiner Knopfaugen verloren. Mama drohte regelmäßig damit, mir ein neues Paar zu kaufen, aber ich bestand darauf, dieses zu behalten, bis es mir endgültig von den Füßen fiel.

Im ersten Stock ertönten Schritte. Ich verharrte auf der Stelle und blickte zum Absatz.

In dem Moment glitt eine Figur aus dem dunklen Wohnzimmer direkt vor mir. Vor Schreck schrie ich auf und machte einen Satz zurück.

»Mama. Verdammt.« Ich schnappte nach Luft und fasste mir an die Brust.

»Hattest du eine gute Nacht?«, fragte sie.

Ihr Gesicht blieb ausdruckslos. Sie schlang den Morgenmantel um den Körper. Hatte sie die ganze Nacht auf mich gewartet?

Ich zog den Kopf ein in Erwartung der bevorstehenden Standpauke. Da tauchte Papa auf dem Treppenabsatz auf. Mit seinem Rollkoffer in der Hand kam er die Treppe herab. Jetzt erinnerte ich mich. Ein erneuter Trip nach Zürich stand an.

Während ich jede Woche Aktionen plante und versuchte, zu unseren Mitmenschen durchzudringen, fand ich nicht einmal in meinem eigenen Zuhause Gehör. Die letzten Tage hatte ich zu dem Thema stillgehalten. Ich wusste, dass die Reisen wichtig für Papa waren. Doch jetzt war ich übernächtigt und betrunken und bereit, meinen Ärger darüber zu äußern.

»Du willst doch nicht ernsthaft wieder da hinfliegen?«, fragte ich.

»Dir auch einen guten Morgen. Hast du gut gefeiert?«, sagte Papa und wechselte einen vielsagenden Blick mit Mama.

Wahrscheinlich hatte er meine Champagnerfahne bereits aus mehreren Metern Entfernung gerochen.

»Ich verstehe nicht, warum du da jede Woche persönlich auftauchen musst«, sagte ich und schlurfte ihm hinterher. »Haben die Schweizer noch nie was von Videochats gehört? Mama macht doch auch ständig Homeoffice und das klappt.«

Papa stellte den Koffer vor der Tür ab und überprüfte sein Aussehen im Spiegel, der neben der Garderobe hing. Er würde direkt vom Flughafen ins Büro fahren. Keine Zeit für einen Klamottenwechsel.

Papa zupfte sich ein paar Fusseln von seinem marineblauen Sakko, in dessen Brusttasche die Lesebrille steckte. Wie jeden Tag trug er dazu eine dunkle Jeans. Seine Fingerspitzen fuhren über die kupferfarbenen Haare. Erste graue Strähnen zeichneten sich darin ab. Meine Eltern waren alt. Sie hatten mich erst in ihren späten Dreißigern bekommen.

»Lynnie«, begann er und zog die Hemdärmel zurecht, »ich kann das nicht per Videokonferenz regeln. Wir bauen da ein neues Office auf und ich trage die Verantwortung dafür.« Er wandte sich mir zu. »Die Alternative wäre gewesen, dass ich für ein Jahr nach Zürich ziehe. Aber das hätte dir noch viel weniger gefallen.«

»Jede Woche hin- und herzufliegen, das ist doch Wahnsinn«, wandte ich ein. »Überleg mal, wie viel Geld eure Firma sparen würde, wenn du nicht so oft fliegen würdest.«

Papa lächelte. »Das Reisebudget ist zurzeit deren kleinste Sorge. Die Aktionäre sind wegen dieses seltsamen Fiebers komplett verunsichert. Hast du dir mal angeschaut, was gerade an der Börse los ist?«

»Natürlich nicht«, antwortete ich.

»Das solltest du aber. Diese ganzen hochrangigen Toten. Das führt zu Turbulenzen. Aktien brechen ein, Geld wird zurückgezogen. Wir stehen kurz vor einer neuen Finanzkrise. Unzähligen Firmen droht der Bankrott. Und das, wo es uns gerade wieder gut ging. Deshalb müssen wir den Partnern und Kunden zeigen, dass bei uns alles in Ordnung ist.«

»Nichts ist in Ordnung«, fuhr ich ihn an.

»Schatz, du solltest dich hinlegen und etwas schlafen, bevor du zur Schule musst.«

»Ich will nicht schlafen«, protestierte ich.

»Das ist ja mal ganz was Neues.« Mama seufzte und verschwand in die Küche.

Papa fasste mir an die Schulter. »Ich weiß, dass du dir das alles zu Herzen nimmst.« Er überragte mich nur um einen halben Kopf, aber manchmal machte er sich größer, als er war. »Du warst schon immer gegen das Fliegen. Und diese Sache im Flugzeug …«

»Ich bin nicht gegen das Fliegen«, unterbrach ich ihn. »Nur gegen sinnloses Fliegen. Denkst du, ich will die Welt nicht entdecken? Ferne Länder erkunden? Neue Kulturen kennenlernen?«, fragte ich. »Aber so, wie das gerade läuft, geht das nicht weiter.«

Papa seufzte. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Ich hielt ihn auf, aber ein wenig Zeit blieb ihm, um mir die Welt zu erklären. »Lynnie, dieser Auftrag ist wichtig für mich. Er könnte über meine Zukunft entscheiden. Unsere Zukunft. Wir bezahlen endlich den Kredit für das Haus ab. Seit Mama ihre Festanstellung verloren hat, hangelt sie sich von einem Job zum nächsten. Das weißt du.« Seine Stimme wurde bei den letzten Worten leiser. Meine Eltern sprachen nicht gerne über das Thema, und wenn sie es taten, dann nur im Flüsterton. »Wenigstens einer von uns braucht Jobsicherheit. Ich kann nicht einfach zu meinem Chef gehen und ihm sagen, dass ich ab jetzt nicht mehr nach Zürich komme.«

Er nahm den Griff des Koffers in die Hand.

Papa hatte hart für diesen Posten gearbeitet. Das wusste ich. Sein Leben lang wollte er es besser machen als seine Eltern. Das war sein ganzer Antrieb. In den letzten Jahren mehr denn je. Papa war so fleißig, dass er seine eigenen Arbeitszeiten nicht kannte. Er war immer auf Abruf bereit, arbeitete an den Wochenenden und meldete sich als Erster, wenn ein wichtiges Projekt anstand. Doch was, wenn alles, worauf er hingearbeitet hatte, bald nicht mehr von Bedeutung war?

»Da draußen sterben Menschen. Dutzende. Täglich«, erinnerte ich ihn an die aktuelle Lage.

»Wir fallen nicht in die Risikogruppe«, sagte Papa. »Außerdem werden Arbeitsreisen nicht mit eingerechnet, oder etwa doch? Herrgott, wer weiß, ob all diese Berechnungen überhaupt etwas zu bedeuten haben. Diese ständige Panikmache ist doch nicht auszuhalten. Außerdem hieß es doch immer, dass Flüge nur einen Bruchteil der weltweiten Emissionen ausmachen. Oder stimmt das jetzt auch nicht mehr?«

»Es geht aber nicht um die weltweiten Emissionen, sondern um deine persönlichen.«

»Das ist doch nicht richtig«, entfuhr es Papa.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Ob du das richtig oder falsch findest, ist Fieber wohl ziemlich egal.«

Papa schüttelte den Kopf. »Was sollen denn die Piloten sagen? Sollen die jetzt alle ihren Job an den Nagel hängen? Oder die Arbeiter an Hochöfen oder auf Ölplattformen?«

»Ein Pilot muss fliegen. Du nicht«, wies ich ihn auf den Unterschied hin. »Papa, selbst vor Fieber war es schwer zu rechtfertigen, dass du so oft hin- und herfliegst. Aber jetzt … Es ändert alles, verstehst du nicht? Es arbeitet sich immer weiter vor. Woher willst du wissen, dass es nicht bald auch uns erreicht?« Ich fasste Papa am Arm. »Bitte. Bleib.«

»Denkst du wirklich, dass ein einzelner Flug den Unterschied macht?«

»Vielleicht ja«, sagte ich. »Vielleicht auch nicht. Aber die Möglichkeit, dass es einen Unterschied machen könnte, muss in diesem Fall reichen.«

Papa legte den Kopf schief. »Und was ist dann mit nächster Woche? Und der Woche danach? Führen wir dann wieder die gleiche Diskussion?«

»Ja«, entgegnete ich. »Bis du endlich damit aufhörst.«

Er strich mir mit dem Daumen über meinen Handrücken. »Mittwoch bin ich zurück.«

Ich seufzte.

»Wie wäre es damit?«, sagte er und ging zur Tür. »Ich ziehe das jetzt durch, bis das Büro eröffnet ist, die Wogen geglättet sind, und danach spreche ich mit meinem Chef. Ich werde ihn darum bitten, die Anzahl der Flüge zu reduzieren.«

Für mich klang das nach einem faulen Kompromiss. »Das reicht mir nicht. Der Präsident der Vereinigten Staaten lebt jetzt auf einer Erdbeerfarm – aber du fliegst weiter hin und her?«

»Der kann es sich leisten …«, murmelte Papa und hob eine Augenbraue.

»Du dir auch«, sagte ich.

»Ich kann jetzt nicht alles stehen und liegen lassen, nur weil vielleicht ein Risiko besteht, an einer Krankheit zu erkranken, von der keiner so richtig weiß, wann und wie sie zuschlägt«, sagte er. »Möchtest du wirklich, dass ich deshalb alles aufs Spiel setze?«

»Ich sage ja nicht, dass du gleich den Job hinschmeißen sollst«, stellte ich klar.

Ich war jung, aber nicht dämlich. Mir war bewusst, dass wir Geld zum Leben brauchten. Dass sich nicht von heute auf morgen alles über den Haufen werfen ließ. »Ich bitte dich nur, das Ganze zu überdenken. Es gibt immer eine Lösung.«

»Evie«, erklang Mamas Stimme aus der Küche. »Es reicht. Dein Vater hat einen langen Tag vor sich.«

Missmutig sah ich zu ihr. Hinter mir braute sich ein neuer Streit zusammen, während ich den ersten noch nicht beendet hatte.

»Meine Kollegen warten auf mich«, sagte Papa. Erneut blickte er auf seine Armbanduhr. »Und das Taxi auch.«

Es war beschlossene Sache. Er würde fliegen.

Als er ins Taxi stieg, warf er mir ein aufmunterndes Lächeln zu.

Mama legte mir die Hand auf die Schulter. »Komm. Geh duschen und ruh dich ein bisschen aus, bevor du in die Schule musst«, sagte sie. »Über deine Bestrafung reden wir später.«

Stumm folgte ich ihr zurück ins Haus. Ich hatte ein flaues Gefühl im Magen. Und das nicht nur vom Alkohol. Ich spürte, dass Papa nicht heil nach Hause zurückkehren würde.