Während ich mir mein Fahrrad schnappte, legte ich eine neue Playlist auf meinem Smartphone an. Ich suchte nach Songs mit Worten wie »Happy«, »Smile« und »Good« in den Titeln und ließ sie nach Zufallswiedergabe abspielen. Dabei heraus kam eine Mischung aus Soul, Indie-Pop und Elektro, die überhaupt nicht zusammenpasste, aber gute Laune machte.
Die Last der letzten Tage und Wochen fiel von meinen Schultern, als ich dem Rhythmus der Musik folgte. Sie gab mir Auftrieb. Das Fieberproblem war lange nicht gelöst, aber ich hatte das Gefühl, dass ich zu Hause einen Schritt in die richtige Richtung gemacht hatte. Und auch auf höherer Ebene bewegte sich endlich was.
Eine halbe Stunde ließ ich mich von der Musik antreiben. Sie gab mir Rückenwind. Die Songtexte versetzten mich zusätzlich in positive Stimmung.
Zehn Lieder später kam ich auf dem Schulhof an. Dort wartete eine Menschentraube vor der Tür. Bei dem Anblick zog ich sofort die Bremse. Ich sprang vom Rad und stellte es am Zaun ab.
Normalerweise marschierten die Schüler wie mit Scheuklappen vor den Augen in das Gebäude, ohne sich umzusehen. Ich hatte dieses Verhalten perfektioniert, da bei mir grundsätzlich auch noch die Ohren verschlossen waren.
Die meisten Schüler waren auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen und trafen knapp vor Unterrichtsbeginn ein. Wir hatten für gewöhnlich keine Zeit, uns auf dem Schulhof zusammenzurotten, bevor der Schulgong läutete.
Ich nahm den linken Stöpsel aus dem Ohr und hielt Ausschau nach meinen Freunden.
Pippa war die Erste, die ich zwischen den Mitschülern entdeckte. Sobald sie mich sah, kam sie mir entgegen. Ihr Gesicht war noch ernster als gewöhnlich. Das konnte nichts Gutes bedeuten.
»Was ist los?«, fragte ich.
»Hast du die Nachrichten nicht bekommen?«
Ich schüttelte den Kopf und tastete nach meinem Smartphone.
»Herr Thomas«, sagte Pippa. »Es hat ihn erwischt.«
»Der Rektor? Fieber?«
Ich wagte kaum, das Wort auszusprechen. Meine Stimme wurde schon bei dem Gedanken daran brüchig. Es war, als hätte man mich darum gebeten, dreimal hintereinander »Bloody Mary« zu sagen und deren Geist heraufzubeschwören.
Pippa presste die schmalen Lippen aufeinander. Dann nickte sie.
Ich riss an dem Kabel meines Kopfhörers. Die fröhliche Musik, die mein rechtes Ohr bespielte, passte nicht länger zu der Situation.
»Ist er …«, begann ich. Ich brachte den Satz nicht zu Ende. Wenn er nicht jetzt schon tot war, dann würde er es in spätestens vierundzwanzig Stunden sein. »Ich verstehe nicht. Das ist zu früh.«
Herr Thomas hätte noch längst nicht an der Reihe sein dürfen.
»Es ist viel zu früh«, wiederholte ich fassungslos.
»Fieber breitet sich seit letzter Nacht schneller und aggressiver aus als berechnet.« Pippa seufzte. »Wir reden nicht mehr von Hunderten oder Tausenden, Evelyn. Sondern von Hunderttausenden. Jede Sekunde erkranken Menschen auf der ganzen Welt daran.«
Ich zog mein Smartphone hervor. Wie hatte mir das entgehen können? Der Titel des letzten Songs, den ich gehört hatte, lief über das Display. Da fiel mir das kleine Haltezeichen im oberen linken Rand auf. Noch immer war der Nicht-stören-Modus aktiviert. Mir wurden zwei verpasste Anrufe angezeigt.
»Sie sind dabei, die Kategorien neu zu berechnen«, sagte Pippa, während ich die Einstellungen änderte. »Die bisherigen Schätzungen waren zu zurückhaltend. Viel mehr Menschen sind direkt von Fieber bedroht als angenommen.«
»Was soll das heißen?«, fragte ich. Das Smartphone surrte in meiner Hand.
»Bis gestern hat Fieber vor allem das oberste Prozent getroffen. Und da reden wir schon von Millionen von Menschen. Mit dem ursprünglichen Tempo sind die Experten davon ausgegangen, dass den Leuten aus den restlichen Kategorien mehr Zeit bleiben würde, sich anzupassen. Monate, sogar Jahre. Aber seit gestern greift Fieber auf die unteren Kategorien über«, sagte Pippa.
In der Ferne ertönte die Sirene eines Krankenwagens.
»Wie lautet die neue Prognose?«, fragte ich. »Sind wir betroffen? Ab welcher Kategorie ist man nicht mehr bedroht? Wie kommen wir dahin?«
Die Worte sprudelten nur so aus mir heraus.
»Atme mal tief durch. Du erstickst noch an deinen Fragen«, sagte Pippa. »Ich weiß es doch auch nicht. Sie haben wohl Probleme mit den Berechnungsmodellen. Fällt ein Flug in der Business-Klasse mehr ins Gewicht als einer in der Economy? Was ist mit Umweltverschmutzung? Und was ist mit Methangasen und dem ganzen anderen Zeug? Diese Fragen können darüber entscheiden, wen es als Nächstes trifft. Das Ganze ist völlig verrückt. Was hat Herr Thomas gemacht, um an Fieber zu erkranken? Keine Ahnung. Er ist bestimmt nicht wöchentlich mit dem Privatjet um die Welt geflogen und hat in einer klimatisierten Megavilla gehaust.«
War es eine Vielzahl an kleinen Handlungen und Entscheidungen gewesen, die dazu beitrugen, dass Herr Thomas an Fieber erkrankt war – oder hatte eine Urlaubsreise zu viel den Ausschlag gegeben? Vor wenigen Wochen war er zu einem der Kurse der Bewegung gekommen und hatte sich beraten lassen. Die kleinen Anpassungen im Alltag reichten nicht aus, um sich zu schützen. Und das machte so ziemlich jeden von uns zum nächsten potenziellen Opfer.
Mein Handy summte erneut, das Display leuchtete auf. Mama hatte mehrmals versucht, mich zu erreichen. Etwas stimmte nicht. Mama rief mich so gut wie nie an. Sie schickte immer Nachrichten.
Ich stolperte zurück.
Pippa ergriff mein Handgelenk. »Was ist?«
»Ich muss nach Hause«, brachte ich stotternd hervor.
Ohne eine weitere Erklärung wandte ich mich um und rannte vom Schulhof. Als ich um die Ecke bog, lief ich Adrian in die Arme.
»Achtung.« Er fing mich ab und hielt mich fest. »Alles okay?«
Er wirkte ernsthaft besorgt, aber ich antwortete nicht. Stattdessen stieß ich mich von ihm ab und rannte weiter. Im Laufen wählte ich unsere Nummer. Das Freizeichen verhallte in meinem Ohr. Niemand hob ab. Als Nächstes versuchte ich es auf Mamas Handy. Dann auf Papas. Keine Reaktion.
Mein Magen verschlang sich zu einem festen Knoten, als ich den Gehweg entlangsprintete. Mit dem Rad war ich zu langsam und der nächste Bus fuhr erst in zwanzig Minuten. So lange konnte ich nicht warten. Als mir ein Taxi entgegenkam, winkte ich es herbei.
»Scheiß drauf«, fluchte ich.
Ohne zu prüfen, ob ich genug Geld dabeihatte, sprang ich auf die Rückbank und wies den Fahrer an, mich so schnell wie möglich nach Hause zu bringen.
Die gesamte Fahrt über versuchte ich, meine Eltern zu erreichen. Doch niemand nahm ab. Ich schickte Mama eine Nachricht. Nervös blickte ich auf das Display, als das Smartphone in meiner Hand mehrmals vibrierte. Die Nachrichten im Klassenchat überschlugen sich. Pippa fragte, ob alles in Ordnung sei. Ich antwortete nicht. Stattdessen feuerte ich eine weitere Nachricht an Mama ab, obwohl sie die letzte noch gar nicht gelesen hatte.
Ich hielt die Luft an, sobald wir in unsere Straße einbogen. Aus der Ferne sah ich den Krankenwagen. Die Haustür stand sperrangelweit offen. Mama stand in ihrer Wolljacke auf der obersten Stufe. Sie hatte die Arme um den Körper geschlungen.
Das Taxi rollte noch, da stieß ich bereits die Tür auf und stürzte von der Rückbank. Der Fahrer rief mir hinterher. Ich hörte nicht auf ihn. Stattdessen stürmte ich auf den Krankenwagen zu, in den die Sanitäter in diesem Moment die Trage schoben. Darauf lag Papa.
Regungslos. Die Augen unter der Sauerstoffmaske geschlossen.
»Papa?«, rief ich.
Seine Augenlider flatterten, als er meine Stimme hörte. Ich wollte zu ihm in den Wagen steigen, doch Mama packte mich von hinten und hielt mich zurück.
»Evie, lass die Leute ihre Arbeit machen«, sagte sie.
Ich wirbelte zu ihr herum. »Was ist passiert?«
Erneut schlang Mama die Arme um ihren Körper.
»Was ist passiert?«, wiederholte ich.
Mama zuckte bei dem lauten Ton meiner Stimme zusammen. Ich hatte nicht vorgehabt, sie anzuschreien, aber die Worte platzten aus mir heraus. Ich sah über die Schulter zu Papa, der schwer atmend im Krankenwagen lag.
»Nach dem Frühstück ging es ihm nicht gut«, sagte sie. »Er hat sich kurz hingelegt. Als er aufstehen wollte, um sich auf den Weg zur Arbeit zu machen, ist er zusammengeklappt. Einfach so.«
Mama zitterte am ganzen Körper. Ihre Augen waren gerötet. Sie sah dabei zu, wie einer der Sanitäter zu Papa in den Wagen stieg. Der andere schlug die Tür zu.
Ich fasste sie an den Schultern. »Ist es Fieber?«
Ich kannte die Antwort. Aber ich musste sie hören. Ich musste sie es sagen hören.
»Ich … sie wissen es nicht«, sagte Mama und begann zu schluchzen. Die Tränen, die sie zuvor unterdrückt hatte, stiegen ihr jetzt in die Augen.
»Hat er was von Hitze gesagt?«, fragte ich. »Hat er gesagt, dass ihm heiß ist? So wie bei dem Mann im Flugzeug?«
Mama schüttelte den Kopf. Sie verneinte die Frage damit nicht. Sie war nicht dazu in der Lage, sie zu beantworten. Es war zu viel für sie.
Der Krankenwagen fuhr davon. Ich winkte den Taxifahrer herbei, der am Straßenrand auf sein Geld wartete. Er sollte uns zum Krankenhaus bringen. Die gesamte Fahrt über hielten Mama und ich auf der Rückbank einander an den Händen. Ihre Finger bohrten sich tief in meinen Handrücken. Noch Tage später schimmerten die blauen Flecken unter meiner Haut.
Kurz nachdem wir im Krankenhaus angekommen waren, verlor Papa das Bewusstsein. Mama und ich wichen nicht von seiner Seite. Die Ärzte konnten nicht viel tun, außer ein paar Tests durchzuführen und seine Werte zu prüfen. Sein Körper glühte, hatte die 40-Grad-Marke längst überschritten. Er wurde auf die Intensivstation gebracht. Krankenhauspersonal eilte ein und aus. Mit uns sprach kaum jemand. Sie schoben uns auf den Flur, legten eine Infusion und bereiteten Wadenwickel vor. Danach ließen sie uns wieder ins Zimmer.
Uns blieb nur zu hoffen, dass ein Wunder geschah. Dass Papas Temperatur sank und er wieder aufwachte. Mit diesem Gedanken retteten wir uns durch die dahinschleichenden Minuten, auch wenn die Werte in eine andere Richtung deuteten. Das Wort ›Fieber‹ fiel kein einziges Mal. Wir konnten uns ohnehin nicht vorstellen, was es bedeutete, wenn Papa davon befallen war. Nur weil man etwas weiß, heißt das nicht, dass man es auch begreift.
Nach zwei Stunden tauchte Romy im Krankenhaus auf. Die Stille im Zimmer war erdrückend. Romy war die Erste, die sie brach. Sie streichelte Papas Hand. »Alles wird gut«, sagte sie. »Du wirst schon sehen.«
Ich schluckte bei der Erkenntnis, dass ich an diesem Morgen die gleichen Worte zu Papa gesagt hatte. Hatte ich ihn unwillentlich angelogen?
»Du kommst bald wieder auf die Beine, Papa«, fuhr Romy fort. »Und dann wirst du dein Versprechen einlösen und mich bei der freien Trauung durch unseren Garten führen. Du wirst Vito meine Hand überreichen. Und ich werde zu meinem Wort stehen und meinen Nachnamen behalten, so wie du es wolltest. Und das, obwohl Romy Mora viel besser klingen würde. Aber das willst du ja nicht einsehen.« Sie lachte leicht auf, aber ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie sprach mehr zu sich selbst als mit ihm. »Und in ein paar Jahren wirst du in dem gleichen Garten mit deinen Enkeln spielen. Du wirst sie aufwachsen sehen. So wie du Lynnie und mich hast aufwachsen sehen, ja?«
Ich unterdrückte bei diesen Worten ein Schluchzen. Ich hielt es in dem Zimmer nicht mehr aus. Das Piepen und Pumpen der Maschinen gepaart mit Romys Worten verursachte bei mir einen Schwindel, der mich beinahe von den Füßen holte. Ich sank gegen den Türrahmen. Ich hatte das Gefühl, in einem Albtraum festzustecken, aus dem es kein Erwachen gab. Auf dem Absatz machte ich kehrt und verließ das Zimmer.
Wie ein Zombie schlurfte ich über den Krankenhausflur. Der sterile Geruch des Desinfektionsmittels hing mir in der Nase. Nach und nach ging ich an den Krankenzimmern vorbei. Bei einigen standen die Türen offen. Wiederholt wurde ich Zeugin des gleichen Bildes. Patienten, die mit Sauerstoffmasken auf den Betten lagen, während Angehörige hilflos danebenstanden. Ziellos taumelte ich weiter über die Station. Ich kam an einem Empfangstresen vorbei. Eine Frau lehnte halb auf der Ablage. Sie presste die Stirn gegen das Schutzglas, während sie auf die Schwester hinter dem Tresen einredete. Neben ihren Beinen hockte ein Junge. Sein Gesicht war kalkweiß.
»Er hat seit zwei Tagen erhöhte Temperatur«, sagte die Frau. »Ich verlange doch nur, dass der Doktor ihn sich noch einmal ansieht.«
Ich verlangsamte meinen Schritt.
Die Schwester kam um den Tresen herum und kniete sich vor den Jungen. Sie zog einen Latexhandschuh an und betastete sein Gesicht. »Haben Sie ihm denn die Medikamente gegeben, die der Arzt ihm verschrieben hat?«
»Sie sagen, dass das nichts bringt. Die ganzen reichen Bonzen. Die haben alles Geld der Welt und nicht mal die können sich schützen«, sagte die Frau. Offenbar beharrte sie auf einer anderen Lösung. Einer Lösung, die es nicht gab.
Die Schwester prüfte die Pupillen des Jungen. »Das hat er nicht«, sagte sie. »Nicht, wenn es ihm schon länger schlecht geht.«
»Wie können Sie das wissen?«
»Diese neue Krankheit – dieses Fieber, das läuft schneller ab«, sagte die Schwester. »Vierundzwanzig Stunden maximal.«
Bei ihren Worten wurde mir übel.
»Wer weiß, ob das stimmt? Die haben doch selbst keine Ahnung, was das für eine Krankheit ist. Was, wenn diese sogenannten Experten sich irren? Wäre nicht das erste Mal.«
Ich ließ die beiden Frauen hinter mir und schlich weiter. Stimmengewirr drang über den Gang, als ich mich dem Eingangsbereich näherte. Als ich abbog, flog vor mir eine Flügeltür auf. Eine Tragbahre donnerte über den Flur. Ratterratterratter. Ein Arzt und zwei Schwestern hetzten daneben her. Eine der Schwestern presste die Patientin auf das Polster, während sie mit der anderen den Wagen anschob.
Ich wich zur Seite, als sie an mir vorbeirasten. Auf der Tragbahre lag ein Mädchen, das kaum älter war als ich.
»Was passiert mit mir?« Die Haare klebten ihr feucht in der Stirn, ihre Augen waren weit aufgerissen, sie zitterte am ganzen Körper. Dann schrie sie: »Was passiert mit mir?« Ihre Stimme schnitt mir durch die Brust wie ein Messer. Allein der Laut tat weh.
Während die erste Schwester versuchte, das Mädchen ruhig zu halten, hörte ich die andere sagen: »Was ist das nur? Wie viele noch, Doc?«
Sie beachteten mich nicht und bogen in eines der Zimmer ab.
Ich fasste mir an die Brust, um mich zu beruhigen. Mein Herz schlug so fest, als wollte es aus mir hervorbrechen. Ich erinnerte mich daran, wieder zu atmen. Dann lief ich zurück zu Papas Zimmer.
Ich wich nicht mehr von seiner Seite.
In den Medien wurde dieser Tag als Beginn der »Zweiten Phase« bekannt.
Weltweit starben während dieser Phase Millionen Menschen an Fieber.
Papa war einer von ihnen.