Papas Beerdigung fand nach langem Warten auf einen Termin in kleinem Kreis statt. Nur Verwandte und enge Freunde waren dabei. Pippa und Ric standen mir zur Seite. Oma und Opa blieben in Italien. Gerne wären sie gekommen, aber wir wollten nicht, dass sie in ein Flugzeug stiegen.
Der Himmel war an diesem Tag lichtblau. Es passte nicht zum Anlass. Aber wenn man nach der täglich wachsenden Zahl an Fiebertoten ging, dann hätte die Sonne an keinem Tag mehr scheinen dürfen.
Dem Wetter waren persönliche Befindlichkeiten einerlei. Fieber auch. Es hatte keine Geduld, kannte keine Nachsicht. Beweggründe zählten nicht. Fieber kümmerte nicht, ob ein Flug wichtig oder unnötig war. Fieber scherte sich nicht um Aktienkurse oder Anleger. Und schon gar nicht darum, ob wir unser Haus abbezahlen konnten. Unsere Gefühle waren ihm egal. Trauer war ihm fremd.
Nach dem Leichenmahl fuhren Romy, Vito, Mama und ich zu uns nach Hause. Noch bevor Mama ihren Mantel abgelegt hatte, ging ich auf mein Zimmer. Ich wollte allein sein. Die Ereignisse der letzten Tage waren für mich nicht zu begreifen. Erschöpft sank ich auf mein Bett und grub die Finger in die Matratze. Stumm saß ich da und starrte ins Leere.
Was war passiert?
Ich hatte die Gefahr gespürt. Ich hatte die Warnung ausgesprochen. Menschen starben an Fieber. Aber erst jetzt begann ich zu begreifen, was dies für jeden Einzelnen von uns bedeutete. Welche persönlichen Schicksale sich dahinter verbargen.
»Alles wird gut.« Das waren die letzten Worte, die ich zu Papa gesagt hatte. Ein schrecklicher Irrtum. Die Zweite Phase hatte die gesamte Menschheit erfasst. Die Katastrophe war da. Sie stand nicht mehr vor der Tür, sie war ins Haus eingedrungen und hatte sein Innerstes verwüstet. Papa war fort und er würde niemals zurückkehren. Er war fort. Fort. Fort. Ich konnte dieses Wort noch so oft denken, es ging trotzdem nicht in meinen Kopf hinein. Wie konnte ein Mensch einfach verschwinden? Von einem Moment auf den nächsten.
Kurz redete ich mir ein, zu träumen. Vor wenigen Tagen hatte ich ihm noch gegenübergesessen. Er hatte verkündet, dass er sein Verhalten ändern wolle. Es hätte Papa nicht treffen dürfen. Er hatte keine Chance gehabt, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.
Gute Absichten waren Fieber offenbar nicht genug.
»Warum?«, flüsterte ich leise.
Ich wünschte mir eine klare, nachvollziehbare Antwort.
Ich bekam sie nicht.
Mein Blick fiel auf die Zeitung, die auf meinem Nachttisch lag. Es war das Exemplar, das Papa an dem Tag gelesen hatte, an dem er gestorben war. Im oberen Eck der Titelseite stand die Todesmeldung eines südamerikanischen Fußballstars. Im Sportteil befand sich ein großer Artikel über die international bekannten Athleten, die bis dahin an Fieber erkrankt waren. Ich hatte Mama rechtzeitig davon abgehalten, die Zeitung in den Papiermüll zu werfen. Seitdem hatte ich den Artikel Dutzende Male gelesen. So seltsam es klang, die Zeitung gab mir das Gefühl, Papa nahe zu sein. Es war einer der letzten Texte, den er in seinem Leben gelesen hatte. Hatte er an dem Morgen insgeheim geahnt, dass Fieber ihn bereits befallen hatte?
Ein vorsichtiges Klopfen ertönte. Für einen Moment erwartete ich, dass Papa hinter der Tür zum Vorschein kam. Dass das unmöglich war, kam mir erst in den Sinn, als Mama durch einen Spalt ins Zimmer lugte.
»Möchtest du einen Tee?«, fragte sie.
Ich wandte das Gesicht von ihr ab. Ich wollte sie nicht sehen. In ihrem schwarzen Rock und der schwarzen Bluse. Viel lieber wollte ich, dass die Tür zuging, sich erneut öffnete und diesmal wirklich Papa auf der Schwelle stand. Papa in seinem dämlichen Jackett und mit dem blöden Rollkoffer in der Hand. Diesmal würde ich ihn davon abhalten, fortzugehen. Ich würde mich ihm in den Weg stellen. Dafür sorgen, dass er zu spät zum Flughafen kam. Die Haustür vernageln, wenn es nötig war.
Deshalb ist die Hoffnung so schön. Sie muss nicht rational begründet sein. Sie muss nicht einmal realistisch sein.
»Evie«, sprach Mama mich an. Als ich nicht reagierte, kam sie näher. Sie stellte sich in mein Blickfeld. Ich schlug die Augen nieder, um ihr nicht in das besorgte Gesicht sehen zu müssen. Mama trug eine dunkle Strumpfhose und schwarze Lackschuhe. Trauer überall. Mein Blick wanderte zum Teppich.
Sie setzte sich neben mich und legte mir die Hand auf den Rücken. »Kann ich irgendwas für dich tun?«
Ich hätte ihr dankbar sein müssen, dass sie ihre Gefühle zurückstellte, um meinen den Vorrang zu geben. Doch ich war nicht dankbar. Stattdessen kroch die Wut in mir hoch.
Wie konnte sie es wagen, mir jetzt diese Frage zu stellen? Die letzten Wochen hatte sie meine Bedenken ignoriert. Sie hatte die Ohren zugeklappt und so getan, als wäre alles in bester Ordnung. »Es kann sich nicht immer alles um Fieber drehen«, hatte sie gesagt.
»Ob du was für mich tun kannst?«, fragte ich. Meine Stimme klang selbst für mich befremdlich stumpf. Mein Blick brannte sich in das Stück Teppich vor meinen Füßen. »Dafür ist es ein bisschen zu spät.«
Mamas Hand erstarrte auf meinem Rücken. »Evie«, begann sie. Sie sprach nicht weiter. Der Satz hatte kein passendes Ende.
Ich stand auf. Jede Geste, jedes Wort verstärkten das Gefühl des Zorns. Ich ging zu den Plakaten, die an meinem Schrank lehnten. Auf dem vordersten Schild war eine Erde zu sehen, die in Flammen stand. Erst vor zwei Wochen hatte ich es gemalt und war damit auf die Straße gegangen, um zu demonstrieren. Nur eines von vielen Schildern. Wütend packte ich das Plakat und schleuderte es durch den Raum. Dann das Nächste. Und noch eins. Wie kaputte Drachen segelten sie vor Mamas Füße.
»Was ist denn in dich gefahren?« Ratlos blickte sie auf die Plakate.
»Ich habe ihm gesagt, dass er nicht fliegen soll. Ich habe ihn angefleht, habe ihm gesagt, dass es gefährlich ist. Woche für Woche. Aber er wollte nicht hören. Er musste Fieber erst aus nächster Nähe sehen, um die Gefahr zu verstehen. Aber da war es schon zu spät«, brach die Wut aus mir heraus. Die Tränen brannten heiß auf meinen Wangen. Unaufhaltsam quollen sie hervor. »Und was hast du getan? Du hast die Augen zugemacht, hast die Klappe gehalten. Du hast das Thema weggeschoben, als würde es dadurch verschwinden.«
»Evie …« Erneut fehlten ihr die Worte, um den Satz zu beenden. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. Ihre Finger gruben sich fest in den Stoff des Bettlakens.
Ich nahm das nächste Plakat und zerriss es in der Mitte. Zwei halbe Erdkugeln landeten auf meinen Füßen.
»Wieso habt ihr es so weit kommen lassen?«, fragte ich.
Mama stand vom Bett auf. »Hör auf«, bat sie.
Sie kämpfte gegen die Tränen an. Das brachte mich nur noch mehr in Rage. Ohne ihr gedankenloses Verhalten wären wir gar nicht erst in dieser Situation, dachte ich. Wir hätten nichts zu betrauern gehabt.
»Die Gefahren sind lange bekannt. Schon viel länger, als es Fieber gibt.« Ich trat auf das Stück Pappe. Ich schrie beinahe. »Und ihr habt nichts dagegen getan. Stattdessen habt ihr einfach so Kinder in die Welt gesetzt. Und jetzt lasst ihr uns mit den Problemen alleine. Ihr macht euch aus dem Staub und wir werden hier verrotten.«
Ein scharfer Schmerz zog mir über die Wange, als Mama mir eine knallte. Wie tausend Nadelstiche durchdrang der Schlag mein Gesicht. Entsetzt sah ich sie an. Nie zuvor war sie mir gegenüber handgreiflich geworden.
Mama war genauso erschrocken über ihre Reaktion wie ich. Sie hob die Hand vor den Mund.
»Das wollte ich nicht.« Sie streckte die Finger nach mir aus, aber ich wich zurück.
»Du machst alles nur noch schlimmer«, sagte ich. »Siehst du das nicht?«
Mama atmete tief durch. »Denkst du ernsthaft, ich wollte, dass es so weit kommt?«, fragte sie. »Niemand wollte das. Ich nicht. Und ganz bestimmt nicht dein Vater.«
Ich ließ die Hand von meinem Gesicht gleiten. »Wieso habt ihr dann nicht danach gehandelt?«
»Alles, was wir wollen, ist es, euch eine gute Zukunft zu bereiten.«
»Ihr habt das Gegenteil erreicht«, schoss ich zurück.
Mir war nicht klar, wie undankbar das in dem Moment klang. Weil es mir egal war. Ich brauchte einen Schuldigen für diese beschissene Situation. Und Mama stand gerade zur Verfügung.
Sie presste die Lippen aufeinander. Wut, Verletzlichkeit, Unverständnis lagen in ihrem Gesicht.
»Mama? Evie?« Romys Stimme hallte über den Flur.
Wir antworteten nicht, starrten uns weiterhin stumm an. Kurz darauf erschien Romy in der Tür. Sie war ganz blass um die Nase. »Was ist los? Streitet ihr euch etwa?«
»Das musst du deine Schwester fragen.« Mamas Augen forderten mich dazu auf, den Vorwurf zu wiederholen. Ich sollte Romy sagen, dass ich unsere Mutter und unseren Vater für dessen Tod verantwortlich machte. Eben hatte ich es Mama geradeheraus ins Gesicht geschrien. Jetzt brachte ich die Worte nicht mehr über die Lippen.
Ich wusste nicht mehr, was ich glauben sollte. Wer war schuld an Papas Tod? Er selbst? Die Menschheit? Alle, die in diesem Moment auf dem Planeten lebten? Oder alle, die vor uns gekommen waren? Wer hatte uns den Weg in diese Sackgasse geebnet? Die anderen? Wir selbst?
Es musste doch einen Schuldigen geben. Jemanden, auf den ich mit dem Finger zeigen konnte, so wie ich wenige Sekunden zuvor mit dem Finger auf meine Mutter gezeigt hatte.
Wer ist für Papas Tod verantwortlich?
Die Antwort auf diese Frage kenne ich bis heute nicht.