»Stoppt! Fieber! Jetzt! Stoppt! Fieber! Jetzt!«
Atemwölkchen platzten aus unseren Mündern heraus. Ein eisiger Nebel hing in der Luft. In Schals, Mützen und Mäntel gewickelt, marschierten wir durch die Straßen und hielten erwartungsvoll die Schilder hoch. Zu Tausenden kamen wir im Regierungsviertel zusammen.
Inmitten der Menschen fror ich nicht. Wir waren in alle Richtungen eingeschlossen. Ich zog mir den Schal ins Gesicht und hakte mich bei Lucy ein.
Jeden Tag warteten wir auf die Ankündigung einer großen globalen Reform. Auf einen Masterplan gegen Fieber. Für heute hatte der internationale Krisenstab – oder das, was davon übrig war – ein Notfallpaket angekündigt.
»Hoffentlich finden sie eine geeignete Lösung«, sagte Lucy.
»Freu dich nicht zu früh.« Pippas Augenbrauen hingen tief über ihren Augen wie Gewitterwolken. Ich wusste nicht, wann sie zuletzt gelächelt hatte.
»Habt ihr schon die neueste Theorie über Fieber gehört?«, fragte Lucy, während sie sich an mich schmiegte. »Ein Wissenschaftler aus Russland vermutet, dass es sich um ein uraltes Virus handelt, das durch den auftauenden Permafrost freigelegt worden ist. Wäre nicht das erste Mal. Sie haben wohl schon vor ein paar Jahren uralte Virenstämme im schmelzenden Permafrost entdeckt. Jahrtausendealte Krankheitserreger, die eine unglaubliche Gefahr darstellen.«
Ihre Stimme bekam bei den letzten Worten einen tiefen Unterton wie bei einer Geistergeschichte.
»Aha.« Pippa wirkte wenig überzeugt von dieser Theorie. Sie band sich die dunklen Haare zusammen, sodass ihr Undercut zum Vorschein kam. »Peer sagt, dass wir das eigentliche Virus sind.«
Das beendete das Gespräch.
Wer wollte schon als Virus bezeichnet werden?
Vor uns teilte sich die Menge. Peer steuerte auf uns zu. Aufgrund seiner Größe entdeckte ich ihn bereits aus mehreren Metern Entfernung. Sein Schnauzer bildete einen unglücklichen Halbkreis über seinen Lippen. Er sah aus wie die menschgewordene Form eines traurigen Emojis.
»Was ist?«, fragte Pippa.
»Sie haben den Ausstieg aller Mitgliedsstaaten aus der Nutzung fossiler Energieträger beschlossen. Und das mit Fokus auf Innovation, Investition, Infrastruktur und Inklusion. Wenn sie schon die Weltwirtschaft umbauen, dann soll das auch zu mehr globaler Gerechtigkeit führen. Sie hoffen, damit Fieber zu stoppen.«
»Die vier I«, erkannte Lucy.
»Das ist doch fantastisch«, sagte ich. »Das ist genau das, was wir immer gefordert haben.«
Doch Peers Gesicht sprach eine andere Sprache: »Ja, das Was haben sie entschieden, aber nicht das Wann und Wie«, schnaubte er.
Pippa entwich ein Fauchen. Sie ballte die Hände zu Fäusten. Ich befürchtete, sie könnte einen von uns aus reinem Frust schlagen.
»Die bringen uns noch alle um«, entfuhr es ihr. Ich erschrak vor ihrem aggressiven Tonfall.
Fieber zehrte an ihren Nerven. Die Situation war für uns alle zermürbend. Wir wollten nicht noch mehr Menschen verlieren.
»Es geht auch um deren Familien«, widersprach ich. »Deren Leben. Die wissen, dass schnell etwas getan werden muss.«
»Ja, aber anscheinend haben sie keine Ahnung, wie sie es anstellen sollen«, erwiderte Pippa.
»Das dauert alles viel zu lange«, fügte Peer hinzu.
Ich fragte mich, ob Adrian mit seinen Aussagen doch recht gehabt hatte, sosehr sie mir missfielen. Womöglich mussten wir uns mit der Situation arrangieren. Zumindest bis die nötigen Umbaumaßnahmen erfolgt waren. Aber bis dahin würden jeden Tag weiter Menschen an Fieber sterben.
Meine Kehle verengte sich bei dieser Vorstellung. Ich wusste nicht, ob ich einen weiteren Verlust überstand.
Lucy klammerte sich an meinen Arm. »Was sollen wir jetzt tun?«
Unschlüssig blickten wir einander an.
Lange hatten wir darüber gesprochen, ob es noch fünf vor zwölf oder bereits fünf nach zwölf war. Seit der Zweiten Phase hatten wir die Antwort auf diese Frage.
Ein lauter Knall ließ uns zusammenzucken. Schreie ertönten. Sofort fuhr mir die Angst durch alle Nerven. Ich sah zur Spitze der Demonstration, die nur wenige Meter entfernt lag. Rauchschwaden stiegen auf.
»Was ist das?«, fragte ich.
Ich wollte einen Schritt zurückweichen, doch zu allen Seiten standen Menschen.
»Molotowcocktails«, sagte Peer, der mit seiner Größe die Menge überblicken konnte. Er ging auf die Zehenspitzen. »Sie haben sie über den Zaun geworfen.«
»Sind die bescheuert?«, fragte ich.
Die Menge geriet in Unruhe. Einige Personen wichen vom Anfang der Demonstration zurück und verursachten damit einen Gegenstrom. Schon bald stieg Rauch aus mehreren Richtungen auf. Einige Demonstranten zündeten bengalische Fackeln. Der Geruch von Schwefel und Ruß zog in einer Wolke über die Köpfe der Anwesenden hinweg. Alarmiert sah ich mich um. Eine falsche Bewegung und wir hatten Schwerverletzte in unseren Reihen.
»Die haben das geplant«, erkannte Pippa und sah sich um. Aus allen Ecken stieg Rauch auf. »Das ist koordiniert.«
Ich wusste nicht, wer diese Leute waren. Sie gehörten ganz sicher nicht zu unserer Gruppe. Diese Aktion war genau das, wofür wir nicht standen.
In hohem Bogen flogen einige der Fackeln über den Zaun des Kanzleramts. Die Unruhe in der Menge entwickelte sich zu einer reißenden Welle. Ein Großteil der Demonstranten stob weg von den brennenden Stäben. Die Aktion mochte koordiniert sein, aber sie fand statt, um Chaos zu stiften.
»Das eskaliert!«, rief Lucy.
Zögerlich blickte Peer in Richtung der Fackeln, während uns immer mehr Leute entgegenkamen.
Schließlich war Pippa es, die vorangehen wollte, um etwas zu unternehmen. Peer fasste sie am Handgelenk. »Lass es.« Er stellte sich auf die Zehenspitzen und sah sich um. »Die Polizei ist im Anmarsch«, verkündete er. »Wir werden eingekesselt.«
Wie kamen wir hier wieder raus?
Ich zog mir den Schal tiefer ins Gesicht. Der Rauch stieg mir beißend in die Nase und erschwerte mir zunehmend die Sicht. Wir waren auf allen Seiten von Menschen umgeben, die sich in entgegengesetzte Richtungen zu bewegen schienen.
Ein bulliger Glatzkopf rempelte Lucy an und stieß sie zu Boden. Ich kam selbst fast zu Fall, als ich zu ihr drängte. Ich ergriff ihre Ärmel und zog sie mit einem kräftigen Ruck auf die Beine, bevor andere über sie hinwegtrampeln konnten. Der Platz um uns herum wurde immer enger. Es ging weder vor noch zurück. Ich deutete in Richtung des Bundestagsgebäudes hinter uns.
»Da lang«, sagte ich und ergriff Lucys Hand.
Zur Versicherung drehte ich mich zu Pippa und Peer um. Doch sie waren verschwunden.
»Pippa!«, rief ich. Ich erkannte Peers Kopf einige Meter entfernt. Sie bewegten sich in Richtung der bengalischen Feuer. Erneut rief ich ihren Namen. Keine Reaktion.
»Los!«, sagte Lucy. »Wir müssen hier weg.«
Eh ich michs versah, zog sie mich hinter sich her.
Körper, Arme und Schultern stießen uns entgegen. Der Lärm war ohrenbetäubend. Die Menschen skandierten, schrien, brüllten. Ein Helikopter kreiste direkt über unseren Köpfen. In unmittelbarer Nähe ertönten Polizeisirenen. Und das alles umhüllt von diesem Rauch.
All meine Sinne waren wie betäubt. Ich sah nur noch Jacken, Ärmel, Gesichter. Lucys Finger schlossen sich fester um mein Handgelenk, als sie mich hinter sich herzog. Hustend kämpften wir uns durch die Menschenmasse. Hinter, neben und vor uns knallte es. Ich wusste nicht, ob es Schüsse oder weitere Molotowcocktails waren. Beides bereitete mir gleichermaßen Angst. Was, wenn wir nicht mehr aus diesem Teufelskessel herauskamen? Noch während mir dieser Gedanke durch den Kopf schoss, verlor ich Lucy. Ihre Finger waren nicht länger bei mir. Menschen rempelten mich von allen Seiten an und stießen mich herum wie einen Kegel. Jeder Stoß trieb mir die knappe Luft aus der Lunge. Keuchend stolperte ich vorwärts.
»Lucy!«, rief ich. Doch meine Stimme kam nicht gegen das Chaos an, das mich umgab. Unter schwerem Husten zupfte ich den Schal über meinem Gesicht zurecht und schob mich weiter nach vorne. Ich stemmte mein gesamtes Gewicht gegen die Körper, um hindurchzudrängen, wie ein Fisch durch ein engmaschiges Netz. Jemand stieß mir den Ellenbogen ins Gesicht. Vielleicht war ich aber auch in ihn hineingelaufen. In diesem Durcheinander hatte keiner mehr die Kontrolle über den eigenen Körper.
Strauchelnd gelangte ich einige Meter voran, bis mir etwas Hartes gegen die Rippen schlug. Ich biss die Zähne zusammen und lehnte mich vor. Der Schmerz fuhr in jeden meiner Knochen. Meine Hände umschlossen das kühle Gitter. Eine Metallbarriere versperrte mir den Weg zu der Straße, die zwischen dem Bundestag und dem Kanzleramt entlangführte. Ich war zwischen ihr und der Menschenmenge eingeklemmt. Dahinter stand eine Reihe Polizisten in voller Kampfmontur. Schutzwesten, Helme, Abdrängschilde, Schlagknüppel. Ich sah die Straße hinunter. In der Ferne rollte ein Wasserwerfer heran, einem Panzer gleich.
»Scheiße«, fluchte ich unter Atemnot. Ich steckte fest. Ich kam hier nicht mehr weg.
Eine Wasserfontäne schoss in die Menge. Noch mehr Rauch stieg auf. Geschrei drang mir in die Ohren. Körperteile drückten mir in den Rücken, während mir das Metall jeden Ausweg versperrte. Ich wollte nach Pippa rufen, nach Lucy, nach Mama. Aber ich bekam keine Luft. Mir wurde schwarz vor Augen.
Die Barriere gab unter dem Druck der Menge nach und verschob sich. Ich schnappte nach Luft. Die Demonstranten drängten zu der Straße, auf der die Polizisten eine weitere Barriere formten. Wie bei einer Stromschnelle wurde ich mitgeschwemmt. Gegen meinen Willen drängte ich direkt auf die Polizisten zu. Ich versuchte, stehen zu bleiben und mich in die entgegengesetzte Richtung zu bewegen. Doch es gelang mir nicht. Die Strömung war zu stark.
Geistesgegenwärtig riss ich mir den Schal vom Gesicht. Vor mir sah ich Schlagknüppel in die Höhe schnellen. Schützend hob ich die Hände über den Kopf. Ich bereitete mich auf den Aufprall des harten Gummiknüppels auf meinen Armen vor. Auf meinem Hinterkopf. Meinen Rippen. Ich konnte unmöglich den ganzen Körper vor der Wucht des Schlags schützen.
»Nicht!«, schrie ich, in der Angst, dass sie mir die Knochen brachen.
Im nächsten Moment knallte ich gegen eines der Abwehrschilde. Ein dumpfer Schmerz drang durch meinen Körper. Jemand packte mich fest am Kragen meines Mantels. Blind wurde ich beiseitegerissen. Ich stolperte ein paar Schritte nach vorne, die Hände noch immer schützend über dem Kopf.
»Mach, dass du hier wegkommst«, brüllte mir jemand entgegen.
Erschrocken sah ich auf. Das Visier beschlug unter dem Atem der Polizistin. Sie packte mich am Arm und stieß mich weg. Dann wandte sie sich dem tobenden Mob zu. Orientierungslos sah ich mich um. Ich befand mich hinter der Barriere aus Polizisten.
Mehrere Personen wurden durchgeschleust, während andere mit den Beamten aneinandergerieten, die dadurch weiter zurückgedrängt wurden. Ich stolperte vor der nahenden Bedrohung zurück. Immer mehr Schlagstöcke erhoben sich. Dahinter stiegen die Rauchschwaden gen Himmel, in dem der Helikopter lärmende Kreise zog. Auf einer Seite waren Wasserwerfer positioniert, die ihre gewaltsamen Fontänen auf die Menge schossen und sie in die entgegengesetzte Richtung trieben. Ein koordiniertes Chaos.
Die Trauer, die Wut, die Verzweiflung. Das alles vermischte sich in einem Pulverfass, das mit voller Wucht explodierte. Genau so, wie Pippa es angekündigt hatte. Einige gerieten ungeplant in diesen Strudel. Andere hatten nur auf diesen Moment gewartet. Sie machten aus reiner Zerstörungswut mit. Ihnen ging es nicht um echte Lösungen. Sie waren hier, um alles kaputt zu machen. Und meine Freunde steckten mittendrin.
Fieber brach unsere Welt entzwei – aber wir waren diejenigen, die sie anzündeten.