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Adrians Worte hingen mir noch im Kopf, als ich nach einer knapp anderthalbstündigen Fahrt auf dem ehemaligen Flughafengelände ankam. Hier würde ich gemeinsam mit rund zweihundert weiteren Helfern Bäume pflanzen. Genau genommen war das Gelände auch jetzt noch ein Flughafen. Nur würde hier so schnell kein Flieger mehr abheben. Wenigstens wurde die Fläche ab sofort sinnvoll genutzt.

Gemeinsam gruben wir Löcher und setzten Setzling für Setzling. Wir pflanzten Bäume, die ihre Blätter und Nadeln das ganze Jahr über behielten und besonders winterfest waren, in der Hoffnung, dass die Aktion eine direkte Wirkung erzielte. Uns blieb keine Zeit, bis zum Frühjahr zu warten. Die Arbeit war schwer und körperlich anstrengend. Bis auf meine gescheiterten Gehversuche im Gemüseanbau war ich nicht sonderlich erfahren in Gartenarbeit. Mein ganzes Gewicht war nötig, um den Spaten in den Boden zu treiben.

Obwohl mir schon bald alle Glieder wehtaten, hatte ich Spaß an der Aufgabe. Ich animierte mich dazu, immer weiterzumachen. Bis auf die körperliche Anstrengung verlangte mir die Arbeit nicht viel ab. Ich brauchte nicht groß nachzudenken. Musste mit niemandem diskutieren oder streiten. Ich drängte alle negativen Gedanken beiseite. Ich schob Adrians irrsinnigen Plan weit von mir weg. Den Zoff mit Pippa ebenso. Stattdessen konzentrierte ich mich auf das, was vor mir lag.

»Alles, was jetzt noch fehlt, ist ein bisschen Sonnenschein«, hörte ich Frau Miran neben mir sagen.

Ich blickte in den blassgrauen Himmel hinauf, hinter dem die Sonne sich seit Wochen versteckte.

»Das waren die Amerikaner. Oder die Chinesen«, sagte einer der Männer. »Oder beide.«

»Was?«, fragte Frau Miran.

»Die haben uns das Wetter versaut«, antwortete er. »Mit ihrem Schwefelmist. Deshalb kommt die Sonne nicht mehr durch.«

»Schwefel?«, fragte Frage Miran erschrocken.

»Aerosole«, brachte ich mich in das Gespräch ein. »Sie verteilen Schwefelpartikel in der Erdatmosphäre, um das einfallende Sonnenlicht stärker zu reflektieren. Damit sich die Erde nicht so schnell erhitzt. Wie nach einem Vulkanausbruch. Es ist ein Versuch, Fieber zu stoppen«, erklärte ich.

»Das habe ich gar nicht mitbekommen«, sagte Frau Miran.

»Stürme hier, Trockenheit dort«, zählte der Mann auf. »Und bei uns gibt’s keinen Sonnenschein mehr. Wenn das Wetter vorher nicht im Eimer war, dann ist es das spätestens jetzt. Wir sind schon blass wie Leichen, bevor uns dieses idiotische Fieber dahinrafft.«

Nachdenklich blickte ich in den verhangenen Himmel. Der Winter zog sich. Jetzt erst recht. Wir alle vermissten den Anblick der Sonne. Wie lange sie sich hinter der Wolkenschicht verbergen würde, konnte keiner sagen.

Während Frau Miran ihre Runden drehte und weiter Small-Talk betrieb, fuhr ich mit meiner Arbeit fort. Die anderen Helfer und ich sprachen kaum miteinander. Wenn, dann nur, um zu klären, wie und wo wir den nächsten Baum pflanzen würden. Wir bildeten eine stille Gemeinschaft. Obwohl ich die anderen Teilnehmer nicht kannte, funktionierten wir wie ein eingespieltes Team.

Genüsslich sog ich die frische Luft ein. Sie sorgte für einen kühlen Kopf. Nach wenigen Stunden hatte ich Blasen an den Händen, Grasflecken an den Hosenbeinen und Kratzer an den Unterarmen. Mein ganzer Körper schmerzte. Es war mir egal. Dafür hatte ich das Gefühl, etwas getan zu haben. Und wenn es noch so wenig war. Ich hatte etwas getan.

Gemeinsam betrachteten wir unser Werk. Ein Meer aus grünen Inseln erstreckte sich über dem Gelände. Vor wenigen Stunden hatten wir die große Anzahl an Setzlingen bestaunt und bezweifelt, dass wir alles an einem Tag schaffen würden. Und doch war es uns gelungen. Wir hatten immer weitergemacht. Baum für Baum. Stich für Stich. Uns einfach auf den nächsten Schritt konzentriert, statt über die große Masse an noch zu erledigenden Schritten nachzudenken.

Der Schmerz, den ich am Abend in den Beinen spürte, als ich mit dem Fahrrad zurück nach Hause fuhr, kam mir wie eine zusätzliche Belohnung vor.

»Ich hoffe, du fühlst dich gut dabei«, hatte Pippa gesagt.

Ja, das tat ich.

***

Die Nacht brach herein, als ich vom Pflanzen zurückkam. Etwas Friedliches lag in der menschenleeren Stille. Zum ersten Mal seit Wochen verspürte ich nicht dieses Gefühl der Beklemmung, das sich um meinen Körper legte wie eine Zwangsjacke.

Schwer atmend sprang ich vom Sattel und schob das Rad die letzten Meter zu unserem Haus. Ich verlangsamte meinen Schritt, als ich Philipps gelben Sportwagen vor dem Haus sah. Ich fragte mich, was er hier wollte. Ich war nicht besonders eng mit Rics Brüdern. Schon gar nicht statteten wir einander Besuche ab.

Kurz überlegte ich, einmal um den Block zu gehen, in der Befürchtung, dass es sich um den Überbringer einer schlechten Nachricht handelte. Ich war nicht bereit für niederschmetternde Neuigkeiten. Nicht heute. Nicht nach diesem hoffnungsvollen Tag.

Ich stellte mein Rad auf dem Gehweg ab. Als ich das Grundstück betrat, sah ich Cedric auf den Stufen zu unserer Haustür sitzen.

»Wo warst du?« Seine Stimme klang rau. Als wäre das der erste Satz, den er an diesem Tag sprach.

Verdutzt sah ich zwischen ihm und dem Wagen hin und her. »Wo ist Philipp?«

Ric kratzte sich am Nacken. »Phil hat sich schon als Kind so einen Wagen gewünscht. Nie im Leben hätte er gedacht, dass er wirklich mal einen besitzen würde. Und jetzt … jetzt hat er so ein Teil und traut sich nicht, es zu fahren.« Seine Worte waren in eine lange Kette von Buchstaben verflochten, zwischen denen es weder Anfang noch Ende gab.

»Bist du betrunken?«, fragte ich.

Er zuckte mit den Schultern, als wüsste er die Antwort selbst nicht. »Ich wollte es einmal versuchen, weißt du? Am Steuer sitzen und voll durchtreten. Bäm. Du glaubst nicht, wie leer die Autobahnen sind.«

Wie ich war Ric siebzehn. Er hatte keinen Führerschein. Aber das war, neben seinem offensichtlichen Rausch, nicht das einzige Problem.

Beißend kroch die Wut in meiner Kehle hoch. Den gesamten Tag hatte ich mit anderen Freiwilligen Bäume gepflanzt. Meine Hände waren wund, die Arme zerkratzt, die Knie schmerzten. Und Cedric hatte nichts Besseres im Sinn, als mit 250 Sachen über die Autobahn zu heizen und sein Leben zu riskieren. Sein Leben zu riskieren, auf so vielen Ebenen, dass ich mir gar nicht ausmalen konnte, welcher Tod am schnellsten war.

»Das ist nicht dein Ernst«, entfuhr es mir.

Erst Pippa, jetzt Ric. Verloren langsam alle den Verstand?

Er sah mich nicht an. Stattdessen blickte er starr auf den Wagen vor unserer Tür. Selbst im Sitzen schwankte er hin und her.

»Bist du total bescheuert?«, fuhr ich ihn an. »Andere tun alles Mögliche, um sich selbst zu retten, und du fährst das alles freiwillig gegen die Wand. Willst du dich umbringen?«

Ich konnte die Wut nicht zurückhalten.

»Es macht doch eh keinen Unterschied«, murmelte Ric und starrte auf die Steinplatten vor seinen Füßen.

»Das weißt du doch gar nicht.«

»Sie ist tot.« Jetzt sah er mich geradeheraus an.

Alles Blut wich mir aus den Adern, als ich in seine glasigen Augen blickte. »Wer?«

Er musste sich sammeln, bevor er es aussprach. »Meine Mutter.«

So viele Tote in so kurzer Zeit, und dennoch war es jedes Mal wieder ein Schlag, der einen von den Füßen riss. Ich sank auf die Stufen neben Cedric. »Es tut mir so leid.«

Mehr fiel mir nicht ein. Ich hatte es selbst mitgemacht. Worte waren in diesem Fall wie Pflaster. Sie legten sich schützend um die Wunde. Die Verletzung aber blieb. Und sie tat weh.

»Wusstest du, dass sie mittlerweile Sammelbestattungen machen?«, fragte Ric mit zitternder Stimme. »Zu viele Tote.«

Ein Schauer lief mir bei dieser Nachricht über den Rücken. Ich legte den Arm um ihn und schmiegte mich an seine Seite.

Cedric hielt den Kopf gesenkt. »Sind wir schlechte Menschen?«, fragte er. Seine Stimme war nur noch ein raues Hauchen. »Haben wir das verdient? Sind wir selbst daran schuld?«

Diese Frage hatte ich mir in den letzten Wochen oft gestellt. Waren wir Schuldige oder Opfer? Gewinner oder Verlierer? Beides? Vielleicht erst das eine, jetzt das andere. Zwei Seiten einer Medaille.

»Niemand hat das verdient«, sagte ich. »Nicht deine Mama, nicht mein Papa … keiner von ihnen. Sie waren gute Menschen, und sie haben immer das getan, was sie für richtig gehalten haben.«

»Was, wenn das falsch war?«, fragte Cedric.

Die harten Worte, die ich Mama nach Papas Beerdigung an den Kopf geworfen hatte, kamen mir wieder in den Sinn. Sie hatten nur das Beste gewollt. Aber was, wenn das Beste nicht gut war?

»Ich kapier es nicht«, sagte Ric. »Das geht einfach nicht in meine Birne rein. Das ist doch Wahnsinn.«

»Du darfst nicht aufgeben«, sagte ich. »Ich weiß, dass es schwierig ist. Aber bitte, setz nicht dein eigenes Leben aufs Spiel. Nicht so.«

»Ich pack das nicht mehr. Nicht zu wissen, wann es mich treffen könnte. Wie lange uns noch bleibt. Das ist doch kein Leben.«

Bei seinen Worten kam das überwältigende Gefühl der Ohnmacht zurück. Das Gefühl der Unfähigkeit, auch nur irgendwie auf das eigene Schicksal einwirken zu können. Für eine Weile war ich darüber hinweggekommen.

Ich hatte mir das Ende anders vorgestellt. All die Endzeitszenarien. Ein Asteroid, der auf die Erde zuraste und uns mit einem Schlag vernichtete. Eine Atombombe, die uns in einem großen Pilz zerstörte. Eine Alien-Invasion, die von einem auf den nächsten Tag über uns herfiel und uns alle auslöschte. Das hier aber war ein Prozess. Er begann schleichend, kroch an uns heran, bedrängte uns, dann schlug er zu.

Mit aller Kraft wehrte ich mich gegen die dunklen Gedanken, die mich zu übermannen drohten. Gegen die Panik, die stets hinter mir her war, um mich bald von den Füßen zu reißen. Ich würde nicht zulassen, dass sie mich einholte.

Mit dem Daumen fuhr ich über die tiefgrünen Flecken auf meiner Jeans. Wir hatten heute Bäume gepflanzt, alle zusammen. Hatten Hoffnung geschöpft. Baum für Baum. Schritt für Schritt. Nur so ließ sich diese Mammutaufgabe bewältigen.

Wenn wir das Problem waren, dann konnten wir auch die Lösung sein. Es musste so sein.

Mein Arm legte sich fest um Cedric. »Wir stehen das durch.«

»Und wenn es schon längst zu spät ist?«, fragte er mit brüchiger Stimme. »Wenn es schon vor zehn Jahren zu spät war? Vor zwanzig? Vielleicht sind wir alle schon tot. Wir wissen es nur noch nicht.«

Zu spät.

Da waren sie wieder. Diese Worte.

Ich gab es ihm gegenüber nicht zu, aber die gleichen Gedanken hatte auch ich schon gehabt. Manchmal fragte ich mich, ob Fieber überhaupt zu stoppen war. Oder ob wir nur darum kämpften, als Letzte sterben zu dürfen. Womöglich war Fieber das Resultat einer Kette von Ereignissen, die bereits vor Jahrzehnten in Gang gesetzt worden waren. So wie die Abgase, die wir gestern in die Luft gepustet hatten, auch in hundert Jahren noch in der Atmosphäre wirken würden. Unkontrolliert. Unaufhaltsam. Unausweichlich.

Ich dachte an die Zivilisationen, die vor uns untergegangen waren. Die Hochkulturen, von denen nur Ruinen blieben. Die Katastrophen, die über sie hereingebrochen waren. An Natur, Tier, Mensch. Scheinbar von einem auf den nächsten Tag ausgelöscht. Dies war nicht die erste Katastrophe. Und nicht die letzte.

Zuvor hatten mir diese Gedanken Angst gemacht. Auf einmal machten sie mir Mut. Denn wir waren hier. Und das bedeutete, dass es kein endgültiges Ende war. Es gab ein Ende nach dem Ende. Und dann noch eines und noch eines und noch eines. Es ging weiter. Auch nach der Katastrophe.

»Es ist nicht zu spät«, sagte ich und schüttelte den Kopf. »Wir können dagegen angehen.«

»Das weißt du nicht«, fuhr Ric mich an. »Du sagst das nur, um mich zu beruhigen.«

Aus ihm sprach jemand, der alle Hoffnung verloren hatte. Er gab auf. Ich konnte nur hilflos dabei zusehen. Meine Worte erreichten ihn nicht. Nichts, was ich tat oder sagte, überzeugte ihn vom Gegenteil. Es brach mir das Herz.

Das Fieber hatte Cedric längst befallen. Aber nicht in seiner eigentlichen Form. Es zehrte an ihm, nagte an seinem Verstand, ließ ihn nicht mehr aus seinem Griff. Wenn er nicht an Überhitzung starb, dann an der Vorstellung daran. Ohne Mut und Hoffnung war er verloren.

»Aber wir leben doch«, sagte ich. »Du und ich.«

Ich lehnte meinen Kopf gegen Cedrics. Spürte die Nähe seines Atems, als müsste ich mich vergewissern, dass er tatsächlich noch lebte. Ich vermisste den alten Ric. Ich wünschte mir seine unbeschwerte Art zurück. Inklusive all der dummen Witze und Streiche. Vor allem aber vermisste ich sein unverschämtes Grinsen, so unpassend es in dieser Situation auch sein mochte.

Doch den alten Cedric gab es nicht mehr. Ich hatte ihn verloren. Ich hatte ihn verloren, als er Adrian auf der Party geschlagen hatte. Ich hatte ihn verloren, als er so getan hatte, als gäbe es das Fieber gar nicht. Ich hatte ihn verloren, als er mir vom falschen Impfstoff erzählt hatte. In all diesen Momenten war ein Teil von ihm weggebrochen. Stück für Stück war er weggebröckelt.

»Ich wünschte, ich könnte dir all das abnehmen«, sagte ich.

Ric antwortete nicht. Sein Körper bebte unter meinen Armen. Ich spürte seine Tränen an meiner Wange. Ich schmiegte mein Gesicht an seines, bis seine Tränen auch an meiner Haut herabflossen. Ich schmeckte das Salz auf den Lippen, als ich seinen Mundwinkel küsste.

»Wir können das schaffen«, sagte ich. »Zusammen.«

Für mich war das die Wahrheit.

Für Cedric aber war es ein Satz zu viel. Eine weitere Lüge, die ihm ein Leben versprach, das für ihn nicht mehr existierte. Er zwang sich aus meiner Umarmung und sprang auf. Ich rutschte dabei fast von der Stufe. Mein rechter Fuß landete im Blumenbeet.

Mit dem Unterärmel wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht. »Hör auf damit!«, fuhr er mich an. »Hör auf, ständig alles gutzureden. Du weißt nicht, ob wir es schaffen werden. Du weißt es genauso wenig wie die Politiker oder die Wissenschaftler oder all die anderen Experten.«

Er stürmte zum Wagen und riss die Fahrertür auf.

»Nein.« Ich stand auf und ging auf ihn zu. »Fahr nicht«, bat ich ihn. Ich packte ihn am Arm. »Bleib hier. Bitte. Steig nicht wieder in den Wagen.«

Cedric hörte nicht auf mich. Er befreite sich aus meinem Griff. Knallend fiel die Tür ins Schloss. Er verriegelte sie von innen.

»Ric!«

Ich schlug gegen die Seitenscheibe. Ein dumpfer Schmerz hallte durch meine Handfläche. Jetzt waren es meine eigenen Tränen, die mir über die Wangen rollten.

Der Motor keuchte, als Ric den Schlüssel drehte. Der Wagen sprang nicht an.

»Ja«, entwich es mir. Stumm flehte ich, dass das Auto stehen blieb.

Cedric schlug auf das Lenkrad. Erneut hustete der Motor unter seiner Bemühung, den Wagen zu starten.

»Bleib«, flüsterte ich. Er konnte mich unmöglich hören, so leise war meine Stimme. »Bleib.«

Beim dritten Versuch heulte der Motor auf. Das Geräusch schreckte mich auf wie das Brüllen eines Löwen.

Starr blickte Ric auf die Straße, die vor ihm lag. Der Motor brummte aufgebracht.

Ich trat in das Licht der Scheinwerfer, blockierte ihm den Weg. Ric legte den Gang ein. Der Wagen machte einen Satz zurück. Er rammte mein Fahrrad, das klappernd im Blumenbeet landete.

Der Motor brüllte erneut. Ein Schrei, der die Natur zum Kampf herausforderte. Dann machte der Wagen eine Kehrtwende und raste davon.

Ich blickte den roten Rücklichtern hinterher. Das Brummen des Motors hallte durch die Straße.

Im nächsten Moment wurde es schlagartig dunkel. Ein Quietschen ertönte. Mit Grauen sah ich, wie ein Auto seitlich in den Ferrari krachte und ihn mehrere Meter über die Kreuzung schob.