Schlaffe Äste schlugen Evie entgegen wie mit Lametta behängte Arme. Immer tiefer drang sie in den Wald ein. Totes Laub und Nadeln raschelten unter ihren Füßen. Unsicher blickte Evie zurück. Hinter ihr lag das tiefe Grün des Waldes. Vor ihr aber erstreckte sich eine Steppe aus Orange- und Brauntönen. Der Boden war mit trockenen Nadeln bedeckt. Die Bäume glichen armen Bettlern, die man jeder Kleidung beraubt hatte. Abgeschlagene Stümpfe lugten zwischen den Gerippen hervor.
Der Wald war abgestorben, so weit Evie blicken konnte. Lediglich ein paar dünne Gräser stießen aus dem braunen Meer hervor. Im trüben Licht der hereinbrechenden Dämmerung bereitete der Anblick der Baumskelette Evie zunehmend Unbehagen. Wo sie auch hinblickte, vor oder zurück, überall lag der Tod. Evie war nicht abergläubisch, doch in diesem Moment hatte sie eine düstere Vorahnung.
Die Zeit lief ab.
Evie blickte auf die Uhr an ihrem Handgelenk und biss die Zähne zusammen. Wie viele Stunden blieben ihr noch? Oder waren es Minuten?
Schlitternd kam sie zum Halt, als sie von der Uhr aufblickte. Vor ihr erhob sich ein anderthalb Meter hoher Maschendrahtzaun. Evies Mund klappte wortlos auf. Ihr Herz trommelte in der Brust. Tausend Nadelstiche erfüllten ihre Lunge, als sie tief Luft holte. Um sicherzugehen, dass sie nicht halluzinierte, berührte Evie das Drahtgeflecht mit den Fingerspitzen.
Tatsächlich. Ein Zaun. Ein Stück Zivilisation.
Sie rüttelte an dem Draht. Anhand von Metallpfosten war er fest im Boden verankert. Evie ließ das Gewehr über den Zaun gleiten. Dann nahm sie den Rucksack von der Schulter und warf ihn auf die andere Seite. Evie setzte die linke Schuhspitze in eine der Maschen und schwang sich über die Barriere. Mit wackligen Beinen landete sie zwischen toten Nadeln und Blättern.
Evie leckte sich über die Lippen. Der salzige Geschmack von Schweiß lag auf ihrer Zunge.
Sie blickte zurück zum Zaun. Die Gewissheit, auf der anderen Seite des Drahtes zu hocken, vermittelte ihr das Gefühl von Sicherheit.
Sie zog ihre Trinkflasche aus dem Rucksack und benetzte ihre Zunge mit der Flüssigkeit. Den Rest spuckte sie auf den Boden. Sie konnte sich nicht dazu überwinden, ihn herunterzuschlucken, obwohl Evie das Gefühl hatte, von innen zu verglühen und von außen zu erfrieren. Ihr war speiübel.
Erneut wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und lief ein paar Meter über das Gelände. Doch ihre Beine wurden mit jedem Schritt schwerer. Sie biss die Zähne aufeinander, kämpfte gegen das lähmende Gefühl an. Schwarzer Teer zog sich über ihre Glieder und umschlang ihre Muskeln. Ihre Knie zitterten.
Evies Fuß verfing sich an etwas Hartem. Sie geriet ins Stolpern. Bäuchlinks landete sie auf dem Waldboden. Das Gewehr glitt ihr aus der Hand. Der Rucksack rutschte von der Schulter. Nadeln gruben sich spitz in ihre Handflächen. Ein brechender Schmerz schoss durch ihr linkes Schienbein.
Keuchend setzte Evie sich auf und sah an sich herab. Ihr Fuß war an einem Stein hängen geblieben. Nicht irgendeinem Stein.
Es war ein Grabstein.