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»Taschenlampe. Dosenöffner. Taschenmesser. Ladekabel. Wasser«, ging ich die Liste durch.

Ich nahm die Trinkflasche in die Hand und begutachtete die trübe Suppe. Ich war mir nicht sicher, ob ich das Regenwasser gut abgekocht hatte.

Nachdem Frau Miran sich verabschiedet hatte, war ich durch das Haus getigert, auf der Suche nach letzten Vorräten. Ich blickte in leere Vasen, Blumentöpfe, schüttelte einen Kanister, in dem sich einmal destilliertes Wasser befunden hatte. Konnte man das überhaupt trinken?

Schließlich kam mir unsere Regentonne in den Sinn. Sie war voll mit Auffangwasser.

Ich nahm einen Topf und zündete meine letzte Kerze darunter an, um das Wasser abzukochen. Natürlich reichte die Flamme nicht aus, um die Flüssigkeit auf über hundert Grad zu bringen. Ich wusste nicht, ob man das Wasser trinken durfte, aber ich hatte keine Möglichkeit, die Informationen nachzuschlagen.

Vorsorglich mischte ich den letzten Schuss Apfelsaft in das Wasser. Bei dem Anblick verzog ich das Gesicht. Durch den naturtrüben Saft war die Brühe so unansehnlich geworden, als hätte ich sie direkt aus der Toilette geschöpft. Aber wenn alles nach Plan lief, dann würde ich davon ohnehin nicht viel brauchen.

Ich sprintete die Treppe hoch und schnappte mir meinen Lieblingspullover aus dem Schrank. Er war aus dicker Baumwolle und hatte ein Rentier vorne drauf. Oma hatte ihn mir vor einigen Jahren zu Weihnachten gestrickt.

Was sollte ich noch mitnehmen? Fast alles war zu schwer oder würde mir nichts nützen. Ich blickte auf den Laptop, die Musikanlage, die Gitarre, die Lichterkette über dem Bett, die Blumen auf dem Fenstersims, die verfallenen Konzertkarten, die an der Pinnwand hingen.

Mein Blick blieb an den Bildern an der Wand hängen.

Die Fotos.

Ich stieg auf das Kopfende meines Bettes und nahm die Rahmen von der Wand. Dann löste ich die Bilder heraus. Eines von Ric und mir. Eines von Pippa, Lucy und Aliye auf einem Konzert. Romy und ich vor ihrem neuen Haus. Ein weiteres mit Mama, Papa und mir bei unserem ersten Italienurlaub. Behutsam legte ich die Fotos zwischen den Stoff des Pullovers. Zuletzt nahm ich den Zeitungsartikel, den Papa kurz vor seinem Tod gelesen hatte. Dann verließ ich das Haus.

Ich klopfte bei Frau Miran, um mich von ihr zu verabschieden. In ihrem Hausflur stand eine gepackte Tasche. Sie hatte vor, spätestens am nächsten Tag in eines der Notfalllager zu gehen. Auch ihr Kühlschrank war mittlerweile leer.

»Passen Sie auf sich auf, ja?«, sagte ich.

Frau Mirans Hände umfassten meine fest. »Du auch, Evie.«

Wir umarmten einander ein letztes Mal. In den vergangenen Tagen hatte ich sie lieb gewonnen. Obwohl wir einander zuvor kaum gekannt hatten, hatte Frau Miran sich um mich gekümmert. Inmitten all des Chaos bot sie mir Halt.

Nach unserer Verabschiedung setzte ich mir den Rucksack auf und zog das Fahrrad aus dem Blumenbeet. Seitdem Ric es umgefahren hatte, hatte ich es nicht angefasst. Jetzt sah ich, dass das Vorderrad aufgrund des Aufpralls eine Acht hatte. Ich bog den Lenker so gut zurecht, wie ich konnte, und setzte die Kette wieder ein. Die schmierigen Finger wischte ich mir an den Hosenbeinen ab.

Dann fuhr ich los.

***

Den ersten Zwischenstopp legte ich bei Cedric ein. Der Wagen mit dem zerbeulten Kotflügel stand in der Einfahrt. Ich wusste nicht, wann sie ihn hergeschafft hatten. Aber für mich bedeutete das, dass Ric an dem Abend sicher nach Hause gekommen war und seiner Familie von der Spritztour erzählt hatte. Erleichtert atmete ich auf.

Ich warf zwei Briefe in den Briefkasten. Der eine war ein Trauerschreiben an die Familie, der andere eine persönliche Notiz an Ric. Es war der erste handschriftliche Brief, den ich ihm jemals geschrieben hatte. Eine ungewöhnliche Premiere. Darin berichtete ich ihm von meinen Plänen. Ich versicherte ihm, dass ich für ihn und seine Familie da war. Ich liebte Ric. Ein Teil von mir würde das immer tun.

Dann fuhr ich weiter zu Pippas Wohnhaus. Ich betätigte den Klingelknopf dreimal, bis mir einfiel, dass das sinnlos war.

Schwer atmend wischte ich mir den Schweiß von der Stirn. Ich war mit zu viel Tempo durch die Straßen gerast. Nun stand ich vor verschlossener Tür.

Ich klopfte einmal kräftig gegen das Holz, in der Hoffnung, dass die Nachbarn im Erdgeschoss es hörten. Einen Moment wartete ich ab, ob Stimmen oder Schritte aus dem Haus zu vernehmen waren. Nichts tat sich. Ich klopfte ein weiteres Mal. Wieder nichts.

Ich zog den Pullover über meine kalten Fingerknöchel. Jetzt wusste ich, was ich vergessen hatte: Handschuhe.

Unschlüssig trat ich einige Schritte zurück und blickte an der Fassade hoch. Über zehn Stockwerke ragte sie in die Höhe. Pippa wohnte im sechsten Stock.

Erneut kamen mir all die Menschen in den Sinn, die aufgrund des Stromausfalls in Fahrstühlen stecken geblieben waren. Jetzt gelangte man nur noch über Treppen nach unten oder oben.

Ich zog die Träger meines Rucksacks zurecht und trat auf die Straße, um mir einen besseren Überblick zu verschaffen. Alle Fenster waren verschlossen. Das ganze Gebäude wirkte verlassen. Ich musterte die umstehenden Häuser. Sie alle sahen identisch aus und gehörten zu der gleichen Wohnungsgesellschaft. Keine Regung war hinter den Vorhängen zu erkennen.

»Seltsam«, murmelte ich, eher über mich selbst verwundert als über die Situation. Ich war mit der Überzeugung hergekommen, dass Pippas Familie zu Hause war. Dass sie die Tür öffnen und mich hereinbitten würden. Wieso war ich nicht auf den Gedanken gekommen, dass auch sie ihr Haus verlassen haben könnten?

Die Frage war, wohin sie gegangen waren und für wie lange. Ich erinnerte mich daran, dass Frau Miran erzählt hatte, dass einige Häuser aufgrund von Seuchengefahr geräumt wurden. Nach und nach wurden die Anwohner in Notfalllager gebracht.

Waren Pippa und ihre Familie auch dort? Waren sie stattdessen zu Bekannten gegangen? Oder war Pippa nach ihrer Aktion vielleicht gar nicht heimgekehrt?

Die Nachbarschaft wirkte geisterhaft. Müllsäcke stapelten sich am Straßenrand. Früher hatte man den Müll ins Ausland exportiert. Aus den Augen, aus dem Sinn. Doch seit der Zweiten Phase wollte ihn kein anderes Land mehr annehmen. Jetzt holte ihn gar keiner mehr ab.

Die triste Wolkendecke hob die vielen Grautöne hervor. Graue Gehwege, graue Straßen, graue Häuserfassaden.

Ich zog die Trinkflasche aus dem Rucksack. Meine Kehle war so rau wie Sandpapier. Erst als ich die Flüssigkeit herunterschluckte, merkte ich, wie ekelhaft sie schmeckte. Der zusätzliche Schuss Apfelsaft hatte die Rezeptur nicht verbessert. Ich wischte mir die Lippen mit dem Ärmel ab.

Aus dem Rucksack kramte ich einen Stift und einen zerknitterten Kassenbon hervor. Ich hinterließ eine kurze Notiz für Pippa und ihre Eltern. Behutsam klemmte ich sie in den Türrahmen.

Ich blickte auf Papas alte Armbanduhr an meinem Handgelenk. Wenn ich schnell fuhr, dann war ich weit vor Einbruch der Dunkelheit auf Romys Hof. Von hier aus hatte ich die Route grob im Kopf. Für den Rest würde ich mich an den Straßenschildern orientieren. Die Strecke war locker an einem Nachmittag zu schaffen.

Ich nahm mein Fahrrad und schwang mich auf den Sattel.

Zielgerichtet blickte ich die Straße herab.

Nur wenige Stunden und ich war in Sicherheit.

Dachte ich.