Brandenburg

Die Dämmerung brach über Evie herein.

Ein Husten entwich ihrem Mund. Stöhnend setzte sie sich auf. Ihre Augen fixierten den Grabstein zu ihren Füßen. Flach und matt war er in den Boden eingelassen.

Erneut befürchtete sie, zu halluzinieren. Sie sah sich auf dem Gelände um. Vereinzelt ragten Steine und Kreuze zwischen den Baumstämmen hervor.

Evie blinzelte in das trübe Licht, das sie umgab. Sie kannte diesen Ort. Zuletzt war sie vor einem Jahr hier gewesen, als sie nach einem Besuch auf Romys Hof das Grab ihrer Großtante besucht hatten. Das war keine Einbildung. Nach Stunden der Orientierungslosigkeit und des Herumirrens war sie auf einem Friedhof gelandet.

Evie entwich bei dieser Erkenntnis ein schnaubendes Lachen. Sie konnte es nicht zurückhalten. Es wand sich durch ihre trockene Kehle hinauf über die Zunge durch die spröden Lippen. Ihr Bauch verkrampfte sich unter dem rhythmischen Lachen. Kalter Schweiß rann ihr über die Stirn.

Sie konnte die Zeichen nicht länger ignorieren. Hatte eine höhere Kraft sie an diesen Ort geführt, um ihr endgültig klarzumachen, dass sie keine Chance hatte?

Es hätte so einfach sein sollen. Wenige Stunden auf dem Rad. Die Ankunft bei Romy. Stattdessen saß sie auf dem kalten Boden eines Waldfriedhofes. Durchgeschwitzt, frierend, schwach. Und allein.

Evie konnte nicht mehr. Sie konnte nicht anders, als darüber zu lachen. Sie lachte, bis ihre Stimme in einem krächzenden Laut zusammenbrach.

Vielleicht hatte Cedric doch recht gehabt. Die Zeit war abgelaufen. Sie waren längst tot. Eines Tages würde Fieber sie alle erreichen.

Evie sah sein Gesicht vor Augen. Das ihres Vaters. Das ihrer Mutter. Ihr Lachen wandelte sich in ein unaufhaltsames Schluchzen. Weinend sank sie zurück, legte sich auf den kühlen Waldboden. Evies Gesicht schmerzte, ihr Bauch, ihr ganzer Körper verkrampfte sich. Tränen rollten ihr über die Wangen.

Sie hatte sich mit dem Gedanken arrangiert, dass sie an Fieber sterben könnte. Nicht zurecht kam sie mit dem Zeitpunkt und mit dem Ort.

Warum jetzt?

Warum hier?

Sie hatte gedacht, dass sie es rechtzeitig an ihr Ziel schaffen würde. Aber dann war der Hagel gekommen, dann die Männer und schließlich der Wolf. Eine Verkettung unvorhergesehener Ereignisse.

Und jetzt lag sie hier.

Stellt alles infrage, was ihr für selbstverständlich haltet. Denn absolut nichts ist selbstverständlich.

Als Peer die Worte damals ausgesprochen hatte, hatte Evie dabei an materielle Dinge gedacht. An einen vollen Kühlschrank. An das Wasser, das aus dem Hahn floss. An die Heizung, die sie im Winter wärmte. Ein eigenes Heim, das ihr ein sicheres Dach über dem Kopf bot.

Mittlerweile verstand sie, dass es um viel mehr ging. Es ging darum, woran man glaubte. Wen man liebte. Wie man liebte. Wer man sein wollte. Für wen man weiterkämpfte. Wer bei einem war, wenn alles andere verging.

Evie legte den Kopf in den Nacken. Mit tränenverschleiertem Blick starrte sie in den Himmel. Ein rosafarbener Kranz hatte sich um den farblosen Schleier gebildet.

Einen Vorteil hatte dieser neue Himmel. Er bot dem Betrachter die schönsten Sonnenuntergänge. In Evies feuchten Augen verschwamm er zu einem gewaltigen Ozean aus blutrotem Licht. Vielleicht war es das Letzte, was Evie zu sehen bekam. Dann würde die finale Nacht über sie hereinbrechen. Absolute Dunkelheit. Kein Stern würde am Himmel zu sehen sein. Sie strahlten nicht hell genug.

Das Bild von 7,75 Milliarden leuchtenden Punkten kam Evie in den Sinn. Viele Millionen Lichter, die gegen das vernichtende Schwarz ankämpften, das sie umgab. Das alles verschlingende Universum, das sich endlos erstreckte, während hier unten alles verging.

Evie schloss die Augen. Vielleicht geschah das auch mit ihr, wenn sie starb. Sie würde Energie spenden. Anderen Licht bringen. Bis sie irgendwann zu Sternenstaub zerfiel.

»Moon River«, summte Evie.

Sie bekam die Lippen kaum auseinander, als sie die zarten Töne anstimmte.

Wenn sie an die letzten Monate zurückdachte, dann war das eine ihrer schönsten Erinnerungen. Die Nacht mit Ric auf dem See. Für wenige Stunden hatten sie Frieden gefunden. Sie hatte nichts gespürt als Liebe. Gezielt suchte sie nach den Lichtpunkten in all dem Dunkel. Evie dachte an den Tag, an dem ihr Vater wohlbehalten von seiner letzten Schweizreise zurückgekommen war und sie ihm um den Hals gefallen war. An den Moment, an dem sie ihrer Mutter beim Packen geholfen hatte. Die Aussprache mit Pippa auf Adrians Party … Nichts war selbstverständlich. Auch diese Momente nicht.

Eine Schweißperle rann Evies Schläfe entlang und vermischte sich mit den Tränen. Die Erde unter ihrem Körper wurde weich. Der Boden zog sie an sich, immer tiefer in sich hinein. Die Wurzeln griffen nach ihr und umschlangen sie. Weder war es ihr möglich, den Kopf zu heben, noch die Arme oder Beine. Ihr Bewusstsein sickerte aus Evie heraus in die feuchte Erde.

Evie hatte gedacht, dass sie es rechtzeitig schaffen würde.

»Nichts ist selbstverständlich«, murmelte sie.

Nichts.

Ihr wurde schummrig vor Augen.

Dann verlor sie das Bewusstsein.