Der Lichtkegel der Taschenlampe tanzte auf der Straße auf und ab. Sobald sie den Friedhof verlassen hatte, wusste Evie, welche Richtung sie einschlagen musste. Sie würde einmal durch das kleine Örtchen marschieren und dann der Landstraße folgen. Romys Hof lag nur wenige Kilometer vom Friedhof entfernt.
Bei Evies letztem Besuch mit ihren Eltern an der Grabstätte hatten die drei sich verfahren. Schließlich hatte Evie ihren Vater mithilfe des Handys zum Friedhof navigiert. Damals hatte sie sich darüber amüsiert, dass sie zwanzig Minuten für eine Route benötigten, die knapp vier Kilometer betrug. Jetzt war sie dankbar, dass sie den Weg damals nicht auf Anhieb gefunden hatten.
Das Dorf lag in der stillen Nacht wie eine verlassene Ruinenstätte. Schemenhaft erhoben sich die Häuser am Wegrand. In einigen der Fenster erkannte Evie den Schein von Kerzen. Sonst war es stockduster auf der Straße. Die Straßenbeleuchtung funktionierte auch hier nicht. Die Kulisse war gespenstisch.
Evie fühlte sich elendig, aber jetzt, da sie wusste, dass ihr Ziel nahe war, schien sie wie auf Wolken zu laufen. Vielleicht lag es auch an ihren weichen Knien. Sie ließ den Ort hinter sich und marschierte auf dem Seitenstreifen weiter in Richtung Hof. Felder erstreckten sich auf beiden Seiten, flach und kahl.
Evie wandte den Blick gen Himmel. Ein dünner Schleier hing über dem Mond. Sein Licht erreichte sie hier unten kaum. Als sie wieder geradeaus blickte, sah Evie zwei Augen im Schein ihrer Taschenlampe aufblitzen. Der Fuchs verschwand so schnell, wie er aufgetaucht war. Mit geducktem Kopf flitzte er davon. Evie ging unbeirrt weiter. Sie war einem Wolf begegnet. Ein Fuchs würde sie nicht von ihrem Pfad abbringen.
Kurz darauf erblickte sie ein einzelnes Licht in der dunklen Umgebung. Ein schwaches Zeichen menschlicher Zivilisation.
Der Hof.
Evie aktivierte ihre letzten Reserven, beschleunigte den Schritt und lief auf ihr Ziel zu. Der Lichtpunkt rückte immer näher. Schon bald konnte sie die Umrisse des Haupthauses und der Scheune entdecken. Sobald Evie einen Fuß auf das Grundstück setzte, schob sie den Träger des Rucksacks von der Schulter und warf ihn ab wie einen Ballast, den sie zu lange mit sich herumgeschleppt hatte. Die brombeerrote Fassade des Hauses flackerte im Licht ihrer Taschenlampe auf. Weinreben rankten sich an der Seite des Gebäudes empor. Über der Haustür leuchtete eine einzelne nackte Glühbirne.
Evie lief auf das Haus zu und sprang die drei Stufen zur Veranda hinauf. Sie stellte das Gewehr ab und läutete die Glocke, die neben der Tür baumelte. Der Ton war schrill und befremdlich. Ohne abzuwarten, klopfte Evie an die Tür.
»Romy!«, rief sie. Die Stimme kratzte in ihrem Hals. »Vito.«
In der Ferne kläffte ein Hund.
Obwohl Evie mehrmals die Namen der beiden rief, tat sich im Haus nichts. Sie verließ die Veranda und sah sich um. Das Nebenhaus, in dem die Freunde der beiden lebten, war nicht beleuchtet. Die Glühbirne über der Tür war das einzige Licht weit und breit. Es handelte sich um eine Solarlampe, die nachts automatisch ansprang.
Erneut betrat Evie die Veranda. Vor der Tür ging sie auf die Zehenspitzen und tastete den Rahmen entlang. Sie benötigte ein paar Sekunden, bis sie die Einkerbung ertastete, in der sich der Ersatzschlüssel befand. Mit unruhigen Fingern schob sie den Schlüssel in das Schloss und sperrte die Tür auf.
Im Haus war es kühl. Mit der Taschenlampe leuchtete Evie den Flur aus. Schuhe standen aufgereiht unter der Garderobe. Jacken hingen an den Haken. Über dem Türrahmen wehte ein frisch gewobenes Spinnennetz.
»Romy?«, rief Evie in das dunkle Haus hinein. »Vito?«
Eisige Stille erfüllte den Flur.
Evie schloss die Tür hinter sich und stieg die Treppe empor. Das Holz knarzte unter jedem ihrer Schritte. Der Schein ihrer Lampe erfasste das leere Bett im Pensionszimmer, als sie den ersten Stock erreichte.
Der Lichtkegel erforschte den Rest des Flurs. Am Ende des Ganges befand sich eine Rumpelkammer. Die Tür stand offen. Davor lag ein Besen. Evie wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Ob es überhaupt etwas zu bedeuten hatte.
Ein Geräusch aus dem Schlafzimmer ließ sie aufhorchen. Langsamen Schrittes näherte sie sich der Tür, die einen Spalt offen stand.
»Romy?« Statt zu rufen, flüsterte sie den Namen jetzt.
Zaghaft stieß Evie die Tür auf. Sie leuchtete in den schwarzen Raum hinein. Kurz erschrak sie vor ihrem eigenen Spiegelbild. Als das Licht der Taschenlampe über das Bett glitt, bewegte sich darauf eine Gestalt. Ehe Evie sichs versah, kam sie auf sie zugerast. Sie schrie auf und sprang beiseite. Der schwarze Kater streifte ihr Bein, als er aus dem Raum hetzte.
Im Zimmer ging das Licht an. Erneut schrie Evie auf. Sie sah sich um. Ihr Arm hatte den Lichtschalter gestreift. War der Strom zurück? Als sähe sie zum ersten Mal eine Lampe, blickte sie in den Schein der Glühbirne.
Dann fiel ihr ein, dass Romy und Vito eine Photovoltaikanlage besaßen. Sie versorgten sich selbst mit Strom.
Sie schaltete die Taschenlampe aus und blickte sich im Raum um. Das Bett war gemacht. Und leer.
Romy und Vito waren nicht da.