Ein Schrei weckte Evie.
Der Kater sprang von ihren Beinen, sobald sie sich aufsetzte.
Verschlafen fischte Evie ein paar Strähnen aus ihrem Gesicht. Ohne Orientierung sah sie sich um.
Wo war sie?
Ein erneuter Schrei.
Das Geräusch durchdrang Evie. Es klang wie ein verzweifelter Hilferuf. Sie lugte aus dem Fenster hinter dem Sofa, doch sie konnte den Ursprung des unheimlichen Geräusches nicht entdecken. Draußen war es hell. Sie musste lange geschlafen haben.
Evie glitt vom Sofa. Sie schnappte sich ihren Mantel, stieg in ein Paar übergroßer Stiefel und schlurfte dann auf die Veranda. Sie nahm das Gewehr, das sie an das Geländer gelehnt hatte.
Der Kater umtanzte ihre Beine, als sie über den Vorhof blickte. Ihr Rucksack lag noch in der Einfahrt.
Ein weiterer Schrei hallte Evie entgegen.
Diesmal laut und klar. Er kam von der Wiese hinter der Scheune. Langsam stieg sie die Stufen hinab, unsicher, ob sie nach dem Ursprung schauen oder sich besser im Haus verbarrikadieren sollte. Der Schrei klang menschlich und unmenschlich zugleich, schrill und intensiv.
Zögerlich ging sie auf die Scheune zu. Sie entsicherte die Waffe und nahm sie in Anschlag. Evie schlich um die Scheune. Stück für Stück kam die Wiese in ihr Blickfeld. Ein erneuter Schrei ließ sie zusammenzucken. Sie legte den Finger auf den Abzug und sprang um die Ecke. Evies Mund klappte erstaunt auf. Die braunen Augen blickten ihr genauso überrascht entgegen.
Sie gehörten einem Esel. Misstrauisch macht der einen Schritt zurück. Seine Ohren stellten sich auf, sobald Evie das Gewehr sinken ließ. Sie streckte die Hand aus und näherte sich dem Gatter. Der Esel erwiderte die Geste. Zutraulich reckte er ihr das Haupt entgegen. Er schmiegte den Kopf an ihre Brust, als sie ihm über die weiche Schnauze strich. Evie schloss die Augen und sog die frische Landluft ein. Ein lang verloren geglaubtes Gefühl der Ruhe erfüllte sie.
Der Esel machte einen Schritt zurück. Er öffnete das Maul und stieß einen weiteren Schrei aus. Evie kniff bei dem Geräusch die Augen zusammen. Romy hatte recht gehabt. Die Tiere schrien entsetzlich laut.
»Ganz ruhig«, sagte Evie. Vorsichtig strich sie ihm über die Schnauze.
Der Esel riss den Kopf herum und trabte in Richtung Straße. Erneut schrie er. Er machte eine Kopfbewegung, als wolle er Evie etwas zeigen. Sie folgte ihm entlang des Gatters. Nach einigen Metern entdeckte sie die Gestalten, die die Straße entlangradelten. Abrupt stieg Vito in die Bremsen, als er Evie entdeckte. Romy fuhr ihm daraufhin in den Gepäckträger.
»Schatz, du musst aufpassen, wo …« Romy hielt inne, als sie ihre Schwester erblickte. »Mama«, sagte sie und drehte sich zu ihrer Mutter. »Du hattest recht.«
Jetzt rieb Evie sich wirklich die Augen. Zum Test kniff sie sich selbst in die Hand, um sicherzustellen, dass sie wach war und ihr Unterbewusstsein ihr nicht wieder einen gemeinen Trick spielte. Ihre Nägel ließen kaum eine Kerbe in der Haut zurück. Evie betrachtete das wunde Nagelbett. Nie war sie so froh über den Anblick ihrer abgekauten Nägel gewesen.
»Romy. Mama.« Sie lief auf die beiden zu. Bei den letzten Schritten stolperte sie über ihre eigenen Füße. Zu dritt fielen sie sich in die Arme. Evie vergrub ihr Gesicht in den Lagen aus Stoff und Haaren. Sie konnte den Mandelgeruch ihrer Mutter riechen und fühlte den warmen Atem ihrer Schwester im Nacken.
Ihre Mutter strich ihr über die Wange. »Schatz, was ist denn mit deinem Kinn passiert? Das ist ja ganz blau.«
»Nicht so wichtig.« Evie schüttelte den Kopf und hielt die Hand ihrer Mutter fest. Eine Welle der Erleichterung brach in ihr auf und strömte aus ihr hervor.
»Ich dachte, ich wäre zu spät«, sagte sie unter Schluchzen. Evie sah zwischen den beiden hin und her. Die Gesichter verschwammen unter ihrem tränenerfüllten Blick. »Ich dachte, ich würde euch nie wiedersehen.«
»Oh, Evie«, sagte ihre Mutter und strich ihr über den Kopf. »Du warst nicht zu spät. Du warst nie zu spät.«