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»Als wir gehört haben, dass die Stromversorgung weiter unterbrochen ist, sind wir los, um dich zu holen. Aber als wir beim Haus ankamen, warst du schon weg«, erzählte Romy, während sie den Wasserkessel vom Herd nahm und ihnen Tee einschenkte.

Evie und ihre Mutter saßen am Küchentisch. Ein massives Konstrukt aus Eichenholz, das Vito selbst gezimmert hatte. Seitdem sie das Haus betreten hatten, hielten Evie und ihre Mutter einander an den Händen.

Aus dem Wohnzimmer drangen das Knacksen und Rauschen des Batterieradios zu ihnen herüber. Vito suchte nach einem Sender, um die neuesten Informationen einzuholen.

»Als wir die offene Haustür gesehen haben, hat uns das einen riesigen Schrecken eingejagt. Wir haben bei den Nachbarn geklopft. Frau Miran hat uns gesagt, dass du alleine losgezogen bist«, sprach Romy weiter. »Wir wollten gerade aufbrechen, da stand Mama auf einmal in der Tür.«

»Wir wären schon gestern zurückgekommen, aber als es anfing zu dämmern, haben wir entschieden, erst heute Morgen loszufahren«, ergänzte ihre Mutter.

Evie entging nicht, wie sie unauffällig versuchte, den Kater mit den Fuß von sich wegzuschieben. Sie hasste Katzen.

»Ich bin so froh, dass du es sicher hergeschafft hast«, sagte ihre Mutter.

»Ich auch«, erwiderte Evie.

Ihre Mutter fasste ihr an die Stirn und strich ihr über die Wange. »Geht es dir besser?«

Evie nickte. Zwar fühlte sie sich noch immer etwas fiebrig, aber sie hatten ihre Temperatur gemessen und sie war lediglich leicht erhöht. Ihr Hals kratzte. Sie hatte sich unterwegs erkältet.

»Hast du was Verdorbenes gegessen?«, fragte ihre Mutter.

Evie schüttelte den Kopf. Das Wasser aus der Regentonne kam ihr in den Sinn. »Aber getrunken.«

»War wohl alles zu viel«, sagte ihre Mutter.

Romy setzte sich zu ihnen an den Tisch. Mit dem Zeigefinger fuhr sie über den Rand ihrer Teetasse. »Es gibt da noch etwas, das ich euch sagen muss.«

Evie schluckte schwer. »Nichts Schlimmes, hoffe ich?«

Romy lächelte ihr typisches breites Lächeln. »Nein, überhaupt nicht.«

Sie lehnte sich zurück und legte die Hand auf ihren Bauch. Erwartungsvoll sah Romy die beiden an. Eine Erläuterung war nicht nötig.

»Wie lange weißt du es schon?«, fragte Evie mit einer Mischung aus Unglauben und wachsender Aufregung.

»Seit drei Wochen. Ich wollte es euch schon früher sagen, aber …« Ein unsicheres Zucken ging durch Romys Gesicht. »Es wird nicht einfach.«

Bei diesen Worten sprang ihre Mutter auf und legte die Arme um Romy. »Oh, Schatz«, sagte sie und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Das ist die beste Nachricht seit Langem.«

Evie stand ebenfalls auf. Sie ging um den Tisch herum und strich Romy über den Rücken. Besorgnis lag in den Augen ihrer großen Schwester.

»Du wirst eine gute Mutter«, sagte sie. »Du bist es schon jetzt.«

Das Lächeln schlich sich zurück auf Romys Lippen. Einen Moment lang lagen sich die drei Frauen in den Armen.

Romy hatte recht, es würde nicht einfach werden.

»Im Gegensatz zu uns kennt das Kleine nur eine Welt mit Fieber«, erkannte Evie.

Für Romys und Vitos Kind gab es kein Davor. Nur das Danach.

***

In den darauffolgenden Tagen harrten die vier auf dem Hof aus. Daniel und Laura, die beiden Mitbesitzer des Hofes, kehrten gemeinsam mit Daniels Großvater zurück. Den Opa zogen sie in einem Bollerwagen hinter sich her.

Sie berichteten, dass die Stromversorgung wiederhergestellt worden war, aber in einigen Teilen des Landes schnell wieder zusammengebrochen war. Es herrschte weiterhin Chaos.

Evie und die anderen ernährten sich von Eingemachtem, von Gemüse und Obst aus dem Garten und Eiern von den Hühnern. Daniels Opa bereitete jeden Tag eine Kräutersuppe zu. Bei ihm weckte die Situation vor allem Kindheitserinnerungen.

Mittags zog Evie sich in den Garten zurück, hörte über ihr Handy Musik und betrachtete schweigend das Grün, das sie umgab. Manchmal gelang es ihr für wenige Minuten, zu vergessen. Dann war sie eins mit dem Moment. Doch die Realität holte sie am Ende immer wieder ein.

»Evie, das musst du dir anhören«, hallte Romys Stimme am Nachmittag über die Terrasse.

Evie zog die Stöpsel aus den Ohren und wandte sich ihrer Schwester zu, die in der Schiebetür zum Wohnzimmer stand. »Was ist?«

»Fieber«, antwortete Romy.

Evies Herz wurde allein bei dem Klang des Wortes schwer. Das war die einzige Sache, die sie während ihrer Odyssee nicht vermisst hatte. Weitere Horrornachrichten über Fieber.

Ohne ein weiteres Wort verschwand Romy wieder im Haus. Evie war gezwungen, ihr zu folgen, wenn sie Details wissen wollte.

Ein frischer Windzug erfasste sie, als sie über die Türschwelle trat. Die weißen Vorhänge wehten in den Raum wie Flaggen der Kapitulation. Evie folgte dem Klang des Radios in die Küche.

»… konnten wir in den letzten zweiundsiebzig Stunden einen eindeutigen Rückgang der Fälle verzeichnen …«, knarzte eine männliche Stimme aus dem Gerät.

Vito, Romy und ihre Mutter starrten gebannt auf das Radio, das vor ihnen auf dem Küchentisch stand. Als würde es nicht nur Ton sondern auch Bildmaterial übermitteln.

»Was ist?«, fragte Evie erneut.

Vito legte den Finger auf den Mund und bedeutete ihr, dem Programm zu lauschen.

»Bei einigen Patienten, bei denen die Körpertemperatur schon über vierzig Grad lag, sank die Temperatur innerhalb weniger Stunden wieder auf Normalwerte«, sprach die Stimme weiter. »Wir müssen natürlich über Folgeschäden …«

»Heißt das, uns ist endlich gelungen, Fieber zu bekämpfen?«, unterbrach ihn eine weibliche Stimme.

Evies Augen weiteten sich bei diesen Worten. Nun klebte auch ihr Blick am Radio.

»So weit würde ich nicht gehen. Wir haben durchaus noch Fälle von Neuerkrankungen und auch Tote zu verzeichnen. Aber im Vergleich zu den letzten Wochen können wir einen ersten Trend erkennen. Und der ist rückläufig.«

»Das sind doch Nachrichten, die zumindest hoffnungsvoll stimmen.«

»Ja«, stimmte der Experte zu. »Eines sollte aber noch einmal klar und deutlich gesagt werden: Die Gefahr, an Fieber zu erkranken, besteht weiterhin. Dieses Phänomen wird uns womöglich noch über Jahre begleiten, vielleicht werden wir es nie vollständig bekämpfen können. Doch wir scheinen auf einem guten Weg zu sein, es zumindest einzudämmen.

Jetzt ist vor allem wichtig, die richtigen Lehren aus den Geschehnissen zu ziehen. Was lassen wir hinter uns? Was nehmen wir mit in die Zukunft? Ein Zurück zu unserem alten Leben gibt es auf jeden Fall nicht.«

Nach der Radioübertragung kehrte Evie wortlos in den Garten zurück. Eine frische Brise erfasste ihren Körper. Sie wickelte sich Romys Strickjacke um den Körper.

Ein Dunstschleier lag über dem Himmel wie ein Tuch. Dahinter deutete sich die Sonne in der Form eines blassweißen Kreises an. Bildete Evie sich das nur ein oder war sie heute besser zu erkennen als in den vergangenen Tagen? Sie schloss die Augen. Der Sonnenkreis blieb auf ihrer Netzhaut als schwarzer Fleck zurück.

Fieber war auf dem Rückzug. Warum und wie, dafür gab es keine Erklärung. Niemand wusste, wo es hergekommen war, und niemand wusste, wo es hinging.

War es ihnen gelungen, Fieber mit ihren Taten zu stoppen? Lag es an den Ereignissen der letzten Wochen? An den zahlreichen Opfern? Den Aufständen? Den Maßnahmen? Am Zusammenbruch der bestehenden Strukturen? An allem zusammen? Oder an nichts davon?

Womöglich kam Fieber bald mit voller Kraft zurück. Oder es nahte stattdessen eine neue Katastrophe.

Niemand kannte die Antwort.

Evie aber wollte daran glauben, dass jede gute Tat zählte. Sie musste daran glauben, dass sie einen Unterschied machen konnte. Sie hatte keine andere Wahl. Nur so konnte sie nach vorne blicken. Der Glaube, dass ihre Bemühungen nicht vergebens gewesen waren, gab ihr Mut für die Zukunft.

Ihre Mutter trat neben Evie auf die Terrasse. Die Finger der beiden verschränkten sich ineinander, als sie die Hand ihrer Tochter ergriff. Evie lehnte den Kopf an die Schulter ihrer Mutter. Gemeinsam blickten sie in den undurchsichtigen Himmel.

Evie wusste nicht, wie die Zukunft aussah. Niemand wusste das. Die Welt mit Fieber war eine andere. Es gab keinen Lebensbereich, den das Phänomen nicht berührt hatte.

Evie standen zahlreiche Herausforderungen bevor. Aber sie war hier. Sie hatte diese Katastrophe überstanden. Und sie war bereit, das nächste Kapitel aufzuschlagen.

Vor allem aber war Evie nicht alleine. Sie war umgeben von Menschen, die sie liebte und die sie liebten. Zusammen würden sie sich der Zukunft stellen.

Dies war nicht das Ende.

Es war ein Ende.

Gemeinsam würden sie einen neuen Anfang wagen.