KAPITEL DREIUNDVIERZIG

Declan

Ich kann Iris nirgendwo im Hotel finden. Der einzige andere Ort, abgesehen vom Park, an dem sie meiner Meinung nach sein könnte, ist Rowans Haus.

Ich atme tief durch, bevor ich an seine Tür klopfe. Das Licht über mir geht an, ehe die Tür geöffnet wird und mir Zahra gegenübersteht.

Sie sieht fröhlich aus und strahlt wie immer – als würde sie ihre Energie direkt aus der Sonne ziehen. Ich weiß nicht, wie mein Bruder das erträgt.

»Hast du Iris gesehen?«, frage ich ohne Einleitung.

»Äh, sollte sie nicht bei dir sein?«

Ich drehe mich um und gehe die Stufen wieder hinunter, denn ich will keine Zeit verlieren.

»Hey! Warte!« Zahra eilt mir hinterher.

Ich beschleunige meine Schritte.

»Halt!«

Ich ignoriere sie.

Als ich immer noch ihre Flipflops auf dem Boden höre, beiße ich die Zähne zusammen.

Obwohl ich Zahra weiterhin nicht beachte, ist es schließlich mein Bruder, der mich aufhält. Er kommt gerade vom Joggen zurück.

Er nimmt seine Kopfhörer ab und sieht mich mit gerunzelter Stirn an. »Was machst du hier?«

Zahra bleibt neben mir stehen und versucht, wieder zu Atem zu kommen. »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du sehr lange Beine hast?«

»Warum rennst du meinem Bruder hinterher?«

»Weil ich mit ihm reden möchte, aber er wollte sich nicht aufhalten lassen.«

Rowan sieht mich mit hochgezogener Augenbraue an. »Willst du mir vielleicht erklären, warum du vor meiner Freundin davonläufst?«

Ich atme tief durch. »Ich hab jetzt keine Zeit zu reden. Ich habe schon genug davon verschwendet.«

»Sag einfach, was Sache ist.«

»Ich suche Iris.«

»Dann mal viel Glück.«

Ich trete einen Schritt auf sie zu. »Weißt du, wo sie ist?«

»Ich verrate dir, wo sie ist, wenn du Zahra das gibst, worum sie dich bittet – ein paar Minuten deiner Zeit. Das ist das Mindeste, das du tun kannst, nachdem du dich vorhin mir gegenüber wie ein absoluter Mistkerl aufgeführt hast, findest du nicht?«

Ich spanne den Kiefer an. »Na schön. Sprich.« Ich schaue zu Zahra hinab.

»Können wir zuerst reingehen? Ich brauche ein Glas Wasser.«

Mein Geduldsfaden ist kurz vor dem Reißen, als ich ihnen in das Haus folge, in dem ich die meisten Ferien meiner Kindheit verbracht habe. Die Erinnerungen brechen über mich herein, als ich Moms Schaukel auf der Veranda betrachte, die immer noch an der gleichen Stelle hängt wie damals.

»Das ist mein Lieblingsort hier.« Zahra schenkt mir ein kleines Lächeln.

Natürlich ist es das.

Ohne ihr Beachtung zu schenken, gehe ich durch die Haustür. Das Haus hat sich nicht verändert, abgesehen von der neuen Wandfarbe und moderneren Möbeln. Der Türrahmen der Küche trägt noch immer die Markierungen, wie groß wir waren, meine ganz oben.

»Es ist ziemlich merkwürdig, nach so langer Zeit hierher zurückzukommen, was?« Rowan lehnt sich gegen die Arbeitsplatte und beobachtet mich dabei, wie ich mir alles ansehe.

»Wie kannst du es ertragen, hier zu wohnen?«

»Es erinnert mich an gute Zeiten.«

»Wenigstens einer, der sich erinnert.«

Seine Mundwinkel heben sich in einer stummen Reaktion.

»Würdest du gern was trinken?« Zahra steckt ihren Kopf in den Kühlschrank.

»Wasser, bitte.«

Sie schenkt erst mir und dann sich selbst ein Glas ein.

»Würde mir bitte jemand erklären, warum ich hier als Geisel gehalten werde?«

Als Rowan Zahra ansieht, grinst sie nur. »Ich habe gelogen, als ich behauptet habe, ich hätte dir etwas zu erzählen. Ich habe nur gehofft, dass ich dich so lange aufhalten könnte, bis Rowan zurückkommt, damit ihr beide euch ein für alle Mal aussprechen könnt.«

Rowan schaut kopfschüttelnd zur Decke. »Du raubst mir noch den letzten Nerv.«

»Ich weiß, aber du liebst mich trotzdem.« Sie küsst seine Wange und verschwindet die Treppe hinauf.

»Sie ist clever.«

»Sie mischt sich gern ein. Und es gefällt ihr nicht, wenn wir uns streiten, besonders wenn es um meine Entscheidung geht, hierzubleiben.«

»Du hast ihr von vorhin erzählt?«

»Ich erzähle ihr alles

Ich trinke einen Schluck von meinem Wasser. »Interessant.« Zahra hält mich wahrscheinlich für das größte Arschloch weit und breit.

Er nimmt sich ein Glas und füllt es bis zum Rand mit Wasser. »Wie ist die Tour gelaufen?«

»Warum fragst du?«

»Weil es mich interessiert.«

»Selbst nachdem ich ausgerastet bin?«

Er seufzt. »Liebe hat keine Bedingungen. Ich weiß, dass Vater uns das hat glauben lassen, aber nur weil wir wütend aufeinander sind, heißt das nicht, dass ich dich nicht liebe und du mir egal bist. Selbst wenn du dich meistens aufführst wie ein Idiot.«

»Wer hätte gedacht, dass dich Dreamland so sentimental machen würde?«

»Dreamland und die Menschen, die dazugehören.« Er lächelt aufrichtig, und ich kann mich nicht erinnern, wann ich ihn zuletzt so glücklich gesehen habe. Vielleicht sogar noch nie.

Niemand kann sich aussuchen, in wen er sich verliebt, und er hat die Liebe an dem Ort gefunden, an dem ich es als Letztes erwartet hätte. Es ist an der Zeit, dass ich mich damit abfinde. Ich habe ihn dafür bestraft, dass er das getan hat, was ihn erfüllt, und ihm vorgeworfen, er habe mich damit hintergangen, so wie alle anderen – nur um es meinem Vater recht zu machen und alle Erwartungen zu erfüllen, die mit der Firma einhergehen. Statt ihn zu unterstützen, habe ich ihm sein Glück zum Vorwurf gemacht, so wie es unser Vater unser ganzes Leben lang bei uns getan hat.

Du bist besser als er.

Die Erkenntnis, dass ich langsam zu dem Mann werde, den ich immer verabscheut habe, schmerzt.

Es ist noch nicht zu spät, bessere Entscheidungen zu treffen.

Mein Mund fühlt sich trocken an, ganz egal, wie viel Wasser ich trinke. »Ich habe Fehler gemacht.«

Rowan blinzelt, aber schweigt.

»Ich habe Dinge gesagt, auf die ich nicht stolz bin. Habe dir gedroht, dich niedergemacht, dich weggestoßen, weil du eine Entscheidung getroffen hast, die mir nicht gefiel. Als dein älterer Bruder sollte ich eigentlich ein Vorbild für dich sein. Größe zeigen. Die besten Entscheidungen treffen. Stark sein, auch wenn ich Niederlagen einstecken muss. Doch alles, was ich getan habe, war, dir zu zeigen, was man nicht tun sollte. Statt dir zu erlauben, zu dir selbst zu finden, habe ich versucht, dich zu jemandem zu machen, der du nicht mehr bist. Ich war egoistisch, und das tut mir leid.«

»Wow.« Er blinzelt erneut.

Es gibt nicht mehr zu sagen. Von jetzt an nehme ich mir vor, es besser zu machen.

Ich erhebe mich. »Ich sollte jetzt gehen.«

Rowan nimmt einen Schlüsselbund aus einer Schale auf der Arbeitsplatte. »Ich fahre dich zum Flughafen.«

»Flughafen?«

Er lacht. »Iris hat vorhin den Privatjet zurück nach Chicago genommen.«

»Sie hat was getan?«

»Sieht aus, als müsstest du einen normalen Flieger nehmen. Buche am besten gleich ein Ticket, bevor es keine mehr gibt.«

Ich versuche immer noch zu verarbeiten, dass Iris schon in Chicago ist.

Warum sollte sie hierbleiben? Du hast ihr keinen Grund dazu gegeben, nachdem du so mit ihr gesprochen hast.

Ich schlucke den Kloß in meinem Hals herunter. »Ich hab’s vermasselt.«

»Aber es ist nichts, was ein wenig Reue nicht wieder geradebiegen kann.«

»Reue?«

»Steig ins Auto, ich erklär’s dir.« Sein Grinsen ist besorgniserregend.

Das wird eine interessante Autofahrt werden.

* * *

Ob es bei Iris wohl gut ankommt, dass ich zum ersten Mal seit zehn Jahren einen Linienflug genommen habe, nur um sie früher zu sehen? Dann war der mittlere Sitz in der Economy Class, den ich gezwungen war, einzunehmen, jede quälende Minute wert, die ich zwischen einem brabbelnden Kleinkind und einer Mutter mit einem weinenden Säugling gesessen habe.

Es rauscht noch immer in meinen Ohren, als ich zu Hause ankomme.

Harrison öffnet die Tür für mich, und ich steige aus dem Wagen. Mir ist es nicht in den Sinn gekommen, mich nach Iris zu erkundigen, bis ich das stille, dunkle Haus betrete.

»Iris?«, rufe ich und gehe durch die mit ihren Pflanzen gefüllten Flure.

Niemand antwortet. Ich durchsuche das Haus zweimal, ehe ich zu dem Schluss komme, dass sie nicht hier ist.

»Mist.« Ich hole mein Handy hervor und rufe sie an. Wie erwartet, geht sie nicht dran.

Nun wähle ich Cals Nummer, aber auch ihn erreiche ich nicht.

Ich: Ist Iris bei dir?

Er antwortet nicht sofort, und ich habe keine Lust, einfach herumzusitzen. Ich kann ebenso gut zu ihm fahren.

Eine knappe halbe Stunde später parke ich vor seiner Wohnung und beschließe, ihn noch einmal anzurufen.

Diesmal geht er dran, aber seine Stimme klingt schroffer als für gewöhnlich. »Was willst du?«

Sie hat ihm offenbar alles erzählt.

»Wo ist Iris?«

Im Hintergrund wird eine Tür geschlossen. »Sie schläft.«

»Bei dir?« Ich knirsche mit den Zähnen.

»Ich glaube, ihr ist es egal, wo sie schläft, solange es nicht in deinem Haus ist.«

»Hol sie ans Telefon.«

»Sie will gerade nicht mit dir reden.«

»Das kann sie mir selbst sagen.«

»Mann, jetzt hör mir mal zu. Fahr nach Hause, und schlaf eine Nacht drüber, um dich zu beruhigen. Ihr seid im Moment beide zu emotional, um euch miteinander zu unterhalten.«

»Fick dich.« Ich lege auf. Ich lasse mir von Cal nicht vorschreiben, wie ich mit meiner Frau zu kommunizieren habe.

Sie mögen befreundet sein, aber ich bin ihr Mann. Sie gehört in unser Haus, ganz egal, wie wütend sie ist. Paare reden über Probleme. Sie brauchen keine Dritten, um zu vermitteln.

Cals Portier hält mir die Tür auf. Ich betätige den Fahrstuhlknopf und warte, wobei ich mit der Sohle meines Schuhs auf den Boden tippe, bis sich die Tür öffnet. Die Fahrt nach oben dauert nicht lange.

Ich hämmere mit der Faust gegen Cals Tür. »Mach auf.«

»Alter«, höre ich ihn murren, ehe er mir öffnet. »Fahr nach Hause«, zischt er und will die Tür wieder schließen.

Ich stelle meinen Fuß in den Türrahmen und drücke sie wieder auf. »Wo ist Iris?«

Er schubst mich, und ich taumele zurück.

Ich blinzele. Cal hat mich weggestoßen? Er rührt niemanden an, auch nicht, wenn er wütend ist. Das einzige Mal, dass ich ihn so erlebt habe, war während eines Eishockeyspiels in der Highschool, und das gehörte zum Spiel.

Er drückt mir einen Finger gegen die Brust. »Sie will im Moment nicht mit dir sprechen.«

»Na und? Du weißt, was am besten für sie ist?«

»Einer von uns muss es ja, und du bist offenbar nicht derjenige. Ich wusste, dass du sie nicht anständig behandeln würdest. Ich wusste es, verdammt noch mal, und ich habe dir trotzdem geholfen, weil ich dachte, dass du dich vielleicht wirklich verändert hast. Dass du sie vielleicht wirklich liebst.«

»Ich liebe sie wirklich. Auch wenn ich dir keine Erklärung schuldig bin.«

»Nein, Declan. Nein, du musst mir wirklich nichts erklären, wenn du sie als Versagerin bezeichnet hast, so wie jedes andere Arschloch in ihrem Leben.«

»Halt verdammt noch mal die Klappe.«

»Warum sollte ich? Du tust es ja auch nie.«

Mein Kiefer spannt sich an. »Ich habe einen Fehler gemacht.«

»Einen Fehler?« Er lacht. »Du hast deine Frau derart niedergemacht, dass sie sich so wertlos gefühlt hat wie du. Dank dir fühlt sie sich klein, nutzlos und unbedeutend – nur weil dir dein Job wichtiger ist als die Person, die du angeblich liebst. Also herzlichen Glückwunsch, Declan. Du hast dein ganzes Leben damit zugebracht, uns vor unserem Vater zu beschützen, nur um am Ende genauso zu werden wie er.«

»Fick dich.« Ich beiße mir so fest auf die Zunge, dass ich Blut schmecke.

Er zeigt mir den Mittelfinger und schlägt mir die Tür vor der Nase zu.

* * *

Nichts fühlt sich schlimmer an, als ohne Iris nach Hause zu kommen. Die Niederlage macht meine Schultern schwer und jeden Schritt mühseliger als den vorherigen. Ich schleppe mich ins dunkle Haus, das so still ist wie ein Grab. Was mir früher Freude bereitet hat, erfüllt mich nun mit Angst, besonders, weil ich weiß, womit ich mir das Haus erarbeitet habe.

Immer wieder gehen mir die Worte meines Bruders durch den Kopf und füllen die Stille.

Du hast sie als Versagerin bezeichnet, so wie jedes andere Arschloch in ihrem Leben.

Du hast deine Frau derart niedergemacht, dass sie sich so wertlos gefühlt hat wie du.

Du hast dein ganzes Leben damit zugebracht, uns vor unserem Vater zu beschützen, nur, um am Ende genauso zu werden wie er.

Der letzte Satz hat mich am schwersten getroffen. Zu hören, wie Cal über mich denkt …

Es macht mich wütend. Nicht wegen der Opfer, die ich gebracht habe, sondern weil er recht hat. Wenn ich nicht aufpasse, werde ich genauso werden wie mein Vater. Auch er war nicht immer ein herzloser Mistkerl. Es war sein gebrochenes Herz, das ihn über die Jahre so hat werden lassen.

Du kannst anders sein. Es ist noch nicht zu spät.

Ich stoße langsam den Atem aus und gehe in Richtung Küche. Nach dem schrecklichen Flug und dem Streit mit meinem Bruder habe ich keine Energie mehr, zu kochen, aber mein knurrender Magen verlangt nach Essen.

Ich durchsuche den Vorratsschrank und drehe diverse Packungen um, ehe ich mich für Iris’ Lieblingsessen entscheide.

Fertig-Pasta.

Der Druck in meiner Brust verstärkt sich, als ich daran zurückdenke, wie oft sie in den letzten Wochen für mich gekocht hat. Es waren keine Gourmet-Gerichte, aber das war mir egal, solange sie mir Gesellschaft geleistet hat.

Gesellschaft, die mir nun nicht mehr vergönnt ist, weil ich sie verletzt habe.

Ich decke für zwei, ohne darüber nachzudenken. Es dauert ganze zehn Minuten, bis mir mein Fehler auffällt, und meine Kehle schnürt sich derart zu, dass ich Schwierigkeiten habe zu atmen. Ich versuche zu essen, aber alles schmeckt für mich wie Pappe.

Mein Magenknurren wird lauter, als ich meinen halb vollen Teller Pasta in die Spüle stelle und nach oben laufe. Ganz egal, wohin ich gehe, ich kann nicht vor meinen Fehlern fliehen. Selbst mein Schlafzimmer ist kein sicherer Ort. Erinnerungen an Iris brechen beim Eintreten über mich herein, denn der Duft ihres Parfüms liegt in der Luft.

Ihr Haargummi liegt auf der Kommode. Ein einzelner Absatzschuh in einer Ecke, den sie vor dem Sex achtlos weggekickt hat. Ein gerahmtes Foto von unserer Hochzeit, auf dem sie zu mir hochlächelt, während ich verdrießlich in die Kamera blicke.

Ich fasse mir an die Brust und wünschte, das Engegefühl würde endlich aufhören. Meine Hände zittern, und ich atme ein paarmal tief durch, um die Angstattacke abzuwehren, bevor sie mich überfällt.

Du hattest sie nie verdient.

Nein. Und dennoch wollte ich sie.

Ich vermisse meine Frau neben mir und wie sie sich darüber beschwert, dass ich mich an sie schmiege, obwohl sie es in Wahrheit liebt. Ich würde alles dafür tun, um ihr Murren zu hören, wenn mein Wecker klingelt, oder für den widerwilligen Kuss, bevor ich aus dem Bett krieche und zur Arbeit gehe.

Nachdem ich geduscht habe, lege ich mich, umgeben vom Duft von Iris’ Kokos-Duschgel, ins Bett und starre zur Decke hinauf. Keine Position ist bequem ohne sie.

Du bist verloren.

Zum dritten Mal drehe ich mich um und starre den Kaktus an, den sie mir vor zwei Jahren geschenkt hat.

Sei kein Arschloch.

Das werde ich versuchen. Nur für sie.

* * *