Nates Logbuch
Erster Eintrag: Unsere Geschichte

Es war der 28. September 2018, der mir das hier eingebrockt hat. Der und meine bedingungslose Bereitschaft, den standesgemäßen Aufgaben als Ambers beste Freundin nachzukommen.

Knapp vier Wochen vorher hatte ich ihr versprochen, der großen Begrüßungsfeier beizuwohnen: »Willkommen in England und in unserer WG«.

Was ich wusste, als ich an der Tür von Ambers WG klingelte, waren exakt fünf Dinge:

1. Benjamin und Richard waren beide für ein Auslandsjahr ausgezogen.

2. Ich war unsicher, wie gut Amber mit einer Fernbeziehung zu Ben zurechtkommen würde.

3. Zwei neue Mitbewohner waren frisch eingezogen – beide ebenfalls für ein Jahr.

4. Die WG beherbergte nun also einen Amerikaner und einen schönen Schweden.

5. Und ich hatte wirklich keine Lust, durch diese Tür zu treten.

Viel lieber wollte ich mit Amber Eis essen und mich betrinken und alle Klischees erfüllen, die sich eben anboten, wenn die beste und älteste Freundin einem Mann nachweinte. Liebend gern hätte ich ihr Mut zugesprochen, dass ein Jahr gar nicht so lang wäre, oder ihr einen Stripper bestellt. Mir war beides recht.

Stattdessen kam ich meinem Versprechen nach, an dieser Party teilzunehmen. Ein riesiger Typ, den ich noch nie gesehen hatte, öffnete mir die Tür. Sofort zeigte mein Gesicht das perfekte, unermüdliche Gastronomielächeln – eine Berufskrankheit, wenn man so will. Ebenso gut hätte ich ein Plakat vor mir hertragen können: »Hi, ich gehöre zu Amber und bin öfter hier. Also musst du nett zu mir sein, wer auch immer du bist.«

»Adam«, beantwortete der Hüne die unausgesprochene Frage, grinste breit und reichte mir seine Hand. »Ich gehöre zu Nates Projektgruppe.«

Ich hatte noch keine Ahnung, wer besagter Nate sein sollte. Entsprechend wenig Aufmerksamkeit schenkte ich seiner Erwähnung. Stattdessen nickte ich einfach, murmelte »Freut mich« und fragte nach meiner Freundin.

»Küche«, antwortete dieser Adam. »Das ist den Flur entlang, die dritte Tür ...«

»Ich weiß«, unterbrach ich ihn. »Ich bin öfter hier.« Etwas ungelenk hob ich die Tüte an, die ich dabeihatte. »Und hab noch was fürs Büfett.«

»Das Zauberwort.« Nach wie vor grinsend trat Adam beiseite und lud mich mit einer ausladenden Geste in die Wohnung ein. »Herzlich Willkommen.«

Ich schenkte ihm ein Schmunzeln und huschte an ihm vorbei. Zur dritten Tür links. Ich stieß sie auf und verkündete meine Anwesenheit mit einem umfassenden Schuldeingeständnis: »Ich weiß, ich bin zu spät.« Schritt zwei war die Wiedergutmachung. »Aber ich habe Reste dabei.«

Es gab genau zwei Menschen in diesem Raum, die auf diese Aussage mit der gebührlichen Begeisterung reagierten – eine kleine, zierliche Person mit violetten Haaren und einer lauten Stimme und ein stämmiger, dunkelblonder Kerl mit markanter Brille, die seinem Gesicht mehr Arroganz verlieh, als sein Charakter eigentlich zur Verfügung hatte.

Ich begrüßte meine Freundin und Logan, den loyalsten ihrer Wohnungsgenossen, mit einer kurzen Umarmung und schaffte es gerade noch, die Tüte mit meinen Mitbringseln auf dem Küchentresen abzustellen, ehe Amber mich zu den mir unbekannten Anwesenden zog, um mich ihnen vorzustellen.

»Liz, das sind Harriet, Sophia und Mads.«

Ich winkte einmal in die Runde und schenkte jedem ein individuelles Lächeln. Zuletzt dem Mann, der unverkennbar der angekündigte schöne Schwede sein musste. Das hellblonde Haar und die klassische skandinavische Sommerbräune verrieten ihn noch deutlicher als sein Akzent. Hinzu kam ein Paar strahlender, hellbrauner Augen in einem markanten Gesicht, das auf einem perfekt gebauten Oberkörper thronte. All das in Summe unterstrich das Attribut, das Amber ihm am Telefon verpasst hatte. Meiner Meinung nach war »schön« etwas zu harmlos für das Bild, das sich mir bot, doch ich wollte nicht kleinlich sein.

»Liz ist meine beste Freundin und quasi Stammgast hier, und was sie so frevelhaft als Reste bezeichnet«, sie deutete hinter uns, wo Logan bereits dabei war, die mitgebrachten Schachteln zu öffnen, »ist das beste Essen, was hier irgendwer zu Gesicht bekommt, ohne dass ein Lieferservice gerufen wird. Es sei denn, du oder Nate könnt kochen.« Diese Bemerkung hatte sie an den Schweden gerichtet, der mit einem schuldbewussten und auffallend attraktiven Grinsen den Kopf schüttelte. Mit nichts anderem hatte ich gerechnet. Nicht ohne Grund waren die Pausensnacks hier sehr beliebt, die wir im Hotel unseren Tagungsteilnehmern und Veranstaltungsgästen anboten.

Amber schnappte sich zwei der Pies und zog mich mit sich aus der Küche. »Ich stelle dir noch den Rest vor.« Sie sagte das ein bisschen zu laut, was ihr oft passierte, wenn sie mehr meinte, als sie sagte. Und tatsächlich enttarnte sie ihre Worte als Vorwand, kaum dass wir die Küche verlassen hatten. Wir liefen gerade drei Schritte weit und blieben im Türrahmen zu ihrem Zimmer stehen. Dass wir das Zimmer nicht betraten und die Tür hinter uns schlossen, ließ mich immerhin davon ausgehen, dass sie mir nichts mitzuteilen hatte, was große Dramen oder Tränen bedeutete.

»Kurze Instruktionen«, flüsterte sie mir zu. »Logan hat eine Neue. Und er sagte, wir sollen nett sein.«

Ich raunte mit all der notwendigen Ehrfurcht, die diese Aufforderung verlangte. »Das ist neu. Zu ihm oder zur ihr?« Ich war ehrlich neugierig, welches neue Level wir hier erreichten, wenn Logan eine solche Bitte vorausschickte. Wir kannten ihn, wenn er verliebt war. Jede Vierzehnjährige konnte sich eine Menge von ihm abgucken. Es war also nahezu unmöglich, sich nicht darüber zu amüsieren.

»Das hat er nicht genauer eingegrenzt«, meinte Amber, und ich erkannte das leichte, vielleicht etwas teuflische Schmunzeln auf ihrem Gesicht. »Aber es schien ihm wichtig zu sein. Vielleicht lassen wir sie in Ruhe. Logan allerdings ... Der kann das ab. Weswegen ich dich eigentlich ... Oh, hey!« Sofort erschien das übertriebene Lächeln einer Ertappten auf ihrem Gesicht und sie schenkte es einem Punkt hinter meiner rechten Schulter.

Ich wandte mich um und sah nicht wie befürchtet Logan, sondern einen weiteren Fremden – hochgewachsen, schlank und mit einem überraschten Blick aus zwei blauen Augen. Er sah aus wie ein Zehnjähriger, der sich unbehelligt aus der Schule schleichen wollte und nun doch vom Direktor ertappt worden war. Nicht einmal sein Dreitagebart konnte ihn vor diesem Vergleich bewahren. Und ich freute mich schon jetzt darauf, ihn irgendwann wütend zu sehen. In einer WG mit Amber und Logan würde das unweigerlich passieren. Und Wut auf einem Gesicht mit so großen blauen Augen konnte nichts anderes sein als entzückend.

»Ich hab dir Liz noch gar nicht vorgestellt!«, plapperte Amber weiter. »Meine beste Freundin.«

»Die mit den Snacks? Adam hat mir davon ... Egal.« Seine Stimme war wesentlich tiefer, als man es einem zehnjährigen Bengel zutrauen würde, doch dieses Bild verflüchtigte sich ohnehin gemeinsam mit dem Ausdruck der Überraschung. Er überwand die paar Meter über den Flur und reichte mir seine Hand, die ich ganz automatisch ergriff. »Nate«, stellte er sich vor. »Aus Arkansas.«

Und da war er wieder – der niedliche Junge mit den hohen Wangenknochen und den blauen Augen. Gemeinsam mit der Erinnerung an meine eigene Kindheit, in der meine Eltern mir einen Satz eingetrichtert hatten, sollte ich mich mal verlaufen. »Ich bin Elizabeth Adalyn Green, 25 North End Parade in London. Meine Eltern sind Isabelle und Ethan Green. Ich habe mich verlaufen und brauche Hilfe.«

Es war mir also unmöglich, mir ein Schmunzeln zu verkneifen, als ich ihm antwortete. »Freut mich, Nate aus Arkansas.«

Er lächelte leicht, wobei sich seine Mundwinkel eher nach unten als nach oben zogen. Einen Moment lang schien er noch etwas erwidern zu wollen. Doch entweder trog mich mein Eindruck oder er überlegte es sich anders. Seine Hand ließ meine wieder los, und er deutete damit hinter sich in den Flur. »Ich wollte gerade wieder zu Adam und Harriet ...«

»Ja, ja, geh nur«, winkte Amber ab. »Ich wollte dich nicht aufhalten.«

Ein Nicken wurde ausgetauscht, dann trottete Nate wieder in die Richtung, aus der er gekommen war, und verschwand alsbald im Wohnzimmer.

»Du kannst ihn nicht leiden«, bemerkte ich flüsternd.

Sie zuckte mit den Schultern und vergewisserte sich noch einmal, dass der Flur wieder leer war. »Er ist ganz okay, denke ich. Aber er hat Bens Zimmer.«

Ich legte all mein Beste-Freundinnen-Verständnis in mein Nicken. »Wenn du willst, kann ich mir haufenweise gemeine Spitznamen ausdenken. Für irgendwas muss die Schulzeit gut gewesen sein.« Zugegebenermaßen war ich zu Schulzeiten eher Konsumentin solcher Koseworte gewesen. Bleiche Haut, die über und über gesprenkelt war von Sommersprossen, orangerote, krause Haare und derselbe Vorname wie die Queen waren eine herrliche Zielscheibe. Davor hatten mich meine Brüste nicht bewahren können, als die sich endlich zu erkennen gaben. Ich war zuversichtlich, dass mich das ausreichend qualifizierte, um diverse Betitelungen für diesen Eindringling zu finden. »Ich meine, sieh ihn dir an. Man kann sich immer noch viel zu genau vorstellen, wie er mit zwölf ausgesehen hat. Er muss sich nur rasieren und dann haben wir es auch schon.«

Und da war Ambers zweites Augenrollen, diesmal mit einem Grinsen und einem Kopfschütteln. »Du übertreibst.«

»Ein bisschen«, gestand ich.

Dieser kurzfristige Niveauabfall auf unser altes Teenagerlevel bewahrte mich allerdings nicht vor dem, was Amber vor der kurzen Unterbrechung begonnen hatte. »Weshalb ich eigentlich ... Scheiß drauf. Klartext.« Sie verschränkte sogar ihre Arme vor der Brust, ehe sie weitersprach, was mir ehrlich gesagt nicht ganz geheuer war. »Versprichst du mir, dass du mir Bescheid gibst, wenn dir das heute zu viel wird?«

Ich hätte es ahnen müssen. Drei Wochen voller »Bist du sicher, dass du herkommen willst? Packst du das?« konnten nicht vorbeigehen, ohne am betreffenden Abend wenigstens eine solche Situation heraufzubeschwören.

»Ich wäre nicht hier, wenn es nicht okay wäre«, wiederholte ich fast wortwörtlich das, was ich die ganze Zeit predigte.

»Das war nicht meine Frage«, schnaufte Amber. »Wenn es dir nicht gut geht, sagst du mir Bescheid und wir gehen oder verziehen uns in mein Zimmer. Das ist die erste und wichtigste Regel heute, verstanden?«

»Es gibt noch mehr Regeln?«

Amber erwiderte meinen genervten Tonfall mit einem ermahnenden Blick und tat mir dann den Gefallen, es dabei zu belassen und auf meine Frage zu antworten. »Wir ärgern nur Logan. Nicht seine neue Flamme und auch nicht Nate. Der ist neu und ich fürchte, er ist etwas zu sensibel für uns.«

Mit Regel Nummer zwei konnte ich leben. Zum einen gab es vermutlich nichts, das einen Logan Sullivan verunsichern konnte, und zum anderen war er so entsetzlich glücklich an diesem Abend, dass er sich dafür regelrecht aufdrängte.

Ich weiß noch, wie ich irgendwann mit Logan und Amber zusammenstand – in der Küche, jeder von uns ein Bier in der Hand. Eve hatte sich von einer anderen jungen Frau zu ihrer Gitarre ansprechen lassen, die sie aus irgendeinem Grund dabeihatte, und war in euphorischem Geplauder mit ihr verschwunden. Nur drei oder vier andere waren noch in diesem Raum. Anscheinend hatte keiner dieser Studenten bisher von der Regel gehört, dass Partys sich in der Küche abzuspielen hatten. Vielleicht verfügte ich mit meinen fünfundzwanzig Jahren ja bereits über ein veraltetes Bild von Privatpartys, das längst keine Gültigkeit mehr hatte.

Fakt war, die Küche war ungebührlich leer, was Logan offenbar dazu animierte, Themen anzusprechen, über die ich mich nicht mal unter vier Augen unterhalten wollte.

»Alles klar bei dir?« Auch, wenn seine Formulierung an eine billige Phrase erinnerte, machte Logans Tonfall klar, dass es das keineswegs war. Den letzten Zweifel an der Tiefe seiner Frage räumte schließlich noch sein kleiner Nachschub aus: »Du weißt schon ... wegen dieser Sache. Ich hatte dir eigentlich mal schreiben wollen, nur was schreibt man da?«

Schreiben ... Meine Güte, Logan schrieb mir maximal zwei Mal im Jahr. Wenn ich Geburtstag hatte und zum Jahreswechsel, falls wir den nicht am selben Ort verbrachten.

»Diese Sache«, gab ich betont zurück, »ist jetzt drei Wochen her. Ich komme klar.« Und um mich nicht länger bei diesem Thema aufhalten zu müssen, schwenkte ich zur sichersten Methode eines Themenwechsels, den man nur anvisieren kann: »Du und Eve also, ja?«

Auf seinem Gesicht leuchtete genau das Strahlen auf, das ich erwartet hatte. Und es wurde auch nicht von der Vermutung gedimmt, die er als Antwort äußerte. »Ihr zwei macht euch schon den ganzen Abend über mich lustig, oder?«

Ich zuckte mit den Schultern, während Amber das Geständnis übernahm. »Sieh es uns nach. Eve ist bildhübsch, nett und hat eine Gitarre. Sie ist perfekt. Das muss irgendwie kompensiert werden, da haben wir gar keine Wahl.«

Logan schüttelte schmunzelnd den Kopf, nippte an seinem Bier und sah mich dann wieder an wie ein Honigkuchenpferd, das high war von zu viel Feenstaub. »Die hatte ich auch nicht«, seufzte er, und weil ich eine gute Freundin war, lachte ich nicht. »Ich war bei der Geburtstagsfeier eines Freundes. Dort kann man oben auf dem Dach sitzen. Viel besser als unser lausiger Balkon.«

»Das ist auch kein Balkon«, argumentierte ich. »Das Ding ist kaum breiter als ein Fensterbrett, das man an der falschen Seite angebracht hat.«

»Du sagst es!«, pflichtete Logan mir bei und schnappte sich irgendeinen meiner mitgebrachten Snacks. Ich weiß nicht mehr, ob es ein Würstchen im Schlafrock oder eine andere leckere Winzigkeit war – sehr wohl aber, dass er keinen Bissen davon nahm. Weiterzuerzählen war wichtiger als die Nahrungsaufnahme. So schwer hatte es ihn also erwischt. »Jedenfalls war ich auf dieser Party, wir haben gegrillt und ich war ehrlich gesagt auch ein bisschen betrunken.«

Ich kannte Logan lange genug, um keine Schwierigkeiten zu haben, mir das vorzustellen – und die logischen Schlüsse daraus zu ziehen. »Oh nein, mit wem hast du diskutiert?« Er neigte dazu, die widersinnigsten Themen, die niemanden interessierten, auf Gedeih und Verderb zu debattieren. Einfach nur, weil ihm etwas in den Sinn gekommen war.

Zwei Mal hatte ihn dieser Unsinn fast in eine Schlägerei manövriert. »Irgendwer auf der Party hieß Hank. Netter Kerl, glaube ich. Ich hab nicht ein Wort mit ihm gewechselt, aber mir war sehr wichtig, dass Hank Williams vollkommen überbewertet ist.«

»Hank Williams?«, lachte Amber. »Sind dir die zeitgemäßen Themen schon ausgegangen? Logan, du hast wirklich ein Problem ...«

»Und wahnsinniges Glück«, ergänzte er und ja, vielleicht rollte ich leicht mit den Augen über dieses widerliche, ungefilterte Strahlen auf seinem Gesicht. Dieser kräftige Kerl, der gut und gern auch hätte Footballspieler sein können – der amerikanische Football – sah damit fast ein bisschen wesensfremd aus. »Eve war anderer Meinung, und sie hat sich wirklich auf eine Diskussion mit mir eingelassen.«

»Und hat dich dann mit ihren anatomischen Argumenten geschlagen?«, schlussfolgerte ich und lachte, als er zu einem Nicken ansetzte.

»Es war nicht ganz so, wie du jetzt denkst. Sie hat ihre Gitarre aus ihrem Zimmer geholt und unter Beweis gestellt, dass die Lieder von Williams gar nicht albern sind, wenn man sie richtig vorträgt.«

Das gerührte Seufzen, das ich ausstieß, war nur zum Teil ironisch. Der andere Teil freute sich für diesen grenzdebil grinsenden Kerl. »Und du hast ihr Herz erobert, indem du deinen Fehler eingesehen hast? Es gibt kaum etwas, das attraktiver ist ...«

»Habe ich und ich meinte, wenn sie dasselbe mit Justin-Bieber-Songs schafft, schulde ich ihr ein Essen.«

»Ein Essen ...« Und dann fiel mir eine Kleinigkeit ein, die etwa fünf Wochen zurücklag. Die Erinnerung war ein bisschen hinter dem Schleier von dieser Sache verschwunden, doch auf einmal ergab sie einen Sinn. Regelrecht erschrocken sah ich Amber an. »Der mysteriöse Termin!«

Auch bei ihr fügten sich die Bilder zusammen. »Und ich naives Ding dachte, dass du ein Bewerbungsgespräch hast! Du hattest ein Hemd an! Ein weißes!«

Logan hob etwas schuldbewusst die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Das ist wohl unsere Geschichte. Alkohol, Hank Williams, Justin Bieber und ein weißes Hemd.«

Und just in diesem Moment schimmerte dieses Lächeln über Ambers Gesicht. Eines von denen, die man wirklich, wirklich unterdrücken will, nur ist der Punkt zu schnell überschritten, an dem das nicht mehr geht. »Eure Geschichte?« Vielleicht klang sie bei dieser Nachfrage ein wenig zu sarkastisch, aber das wollte ich ihr nachsehen angesichts der Tatsache, dass sie ihren Freund vor zwei Wochen an ein anderes Land verloren hatte.

Logan ahnte wohl, dass er jetzt etwas zu tief in die sentimentale Kiste gegriffen hatte. Trotzdem versuchte er, sich herauszuwinden. »Es ist eine Geschichte, Eve kommt darin vor, ich auch, also ... ja. Unsere Geschichte.«

»Mh«, machte Amber nur und nickte. »Okay.«

»Komm schon«, versuchte er es noch mal. »So dick aufgetragen war das nicht. Ich meine ... Hey, Nate!«

Die blauen Augen, die daraufhin aufschauten, waren wie gemacht für diesen leicht panischen Oh-Gott-es-spricht-mit-mir-Blick. Und ich hegte den leisen Verdacht, dass Logan sich hier einen sehr solidarischen und ähnlich feinfühligen Zeitgenossen ausgesucht hatte, um sich Unterstützung zu holen.

»Was meinst du, Kumpel? So ein Titel wie ‚unsere Geschichte‘ ist eine ganz pragmatische Bezeichnung, oder?«

»Kommt drauf an«, erwiderte sein neuer Mitbewohner trocken und nippte an seinem Bier. Sein Blick taxierte dabei sowohl Amber als auch mich für einen Moment. »Seid ihr wieder getrennt?«

»Natürlich nicht!«

»Dann ist das keine ganze Geschichte, sondern bestenfalls der Anfang.« Er zuckte mit einem entschuldigenden Blick die Schultern und ich musste mich korrigieren – vielleicht war eher das der Blick, für den sein Gesicht geschaffen war. »Allerdings sollte ich anmerken, dass ich Sozialpädagogik studiere, nicht Literatur oder Geschichte. Ihr findet sicher noch jemanden, der da mehr Ahnung hat.« Er prostete Logan kurz zu und wandte sich wieder seiner Gruppe zu. Amber und mir rang er damit ein triumphierendes Grinsen ab, Logan ein entrüstetes Kopfschütteln.

»Hervorragend, noch ein desillusionierter, emotionsloser Klugscheißer«, schnaufte er. »Als wären zwei davon nicht genug.« Was folgte, war das Kopfschütteln eines Freundes, der wusste, dass er mit dieser Widrigkeit würde leben müssen – und es eigentlich auch gar nicht anders wollte. Das hinderte ihn allerdings nicht an einem dramatischen Abgang. Hätte er ein Cape oder wenigstens einen flatternden Schal umgehabt, würde ich sogar so weit gehen, zu sagen, er wäre herumgewirbelt, um zu seiner holden Maid zurückzukehren.

Viel von diesem Abend verschwimmt in meiner Erinnerung mit anderen ähnlichen Abenden, die ich in dieser WG und mit genau diesen Menschen verbracht habe – vorher und auch später. Doch zwei Dinge stechen nach wie vor unverrückbar heraus. Eines davon ist die Tatsache, dass Eve es schaffte, die desillusionierte, emotionslose Klugscheißerin, die ich gern und mit Stolz war, in einen jener Momente zu stoßen, die mir seit dieser Sache hin und wieder auflauerten. Und alles, was sie dafür brauchte, war ihre Gitarre und einen Song, der weder zu Hank Williams noch zu Justin Bieber gehörte.

Es war ein Lied, das ich selbst sehr gut kannte. Letzten Monat hatte ich es noch ständig gehört. Und dann war es eines Abends abrupt damit beendet worden, dass mir Blut ins Gesicht spritzte.

Ich hatte die Lyrics eher erkannt als die Melodie. Der Unterschied zwischen einem Schlagzeugsolo und ein paar Akkorden auf einer Gitarre ist für die Musik riesig. Worte sind nicht so wählerisch. Sie tun ihre Wirkung, egal, von welcher Stimme sie getragen werden.

»We’re all born as dreamers – captains of the dandelion seeds. And now we’re liars captured on a dreary airplane.«

Eve hatte nur diese paar Zeilen gesungen und sofort fing Ambers Blick meinen auf – mitsamt der stummen Frage, ob alles in Ordnung sei. Und da man solche Fragen grundsätzlich nie ehrlich beantwortet, hatte ich ihr nur einen freundschaftlich genervten Blick zugeworfen und mich etwas bequemer in den Sessel gesetzt, auf dem ich es mir gemütlich gemacht hatte. Das war alles, und ein paar Sekunden später war ich sogar überzeugt davon gewesen, dass es dabei auch blieb. Ich würde einfach nicht zulassen, dass aus diesem Moment mehr wurde als ein kurzes nervliches »Huch«, das sich mit ein paar tiefen Atemzügen in Zaum halten ließ.

Ich kann wohl sagen, dass ich an diesem Abend etwas über die Geduld von Momenten gelernt habe. Wenn sie sich nicht sofort entfalten dürfen, weil man sie nicht lässt, wiegen sie einen in Sicherheit und warten auf einen besseren, wehrloseren Moment. Einen zweiten Song, eine ungemütliche Situation oder ganz simpel auf den Schlaf. Es ging mir nämlich ziemlich gut, den ganzen Abend lang, vielleicht, weil ich auf der Hut war. Nur hörte ich damit auf, als ich mich mit zu Amber ins Bett legte und die Augen schloss.

An meinen Traum, den ich später in dieser Nacht hatte, konnte ich mich schon nicht mehr erinnern, als ich daraus aufschreckte und keine Luft mehr bekam. Er und seine Bilder waren weg. Was er zurückgelassen hatte, war alles andere. Enge. Hitze. Das Gefühl von zahllosen Armen, die an meinem Shirt rissen. Atem, der meine Lunge nicht erreichte, weil mein Brustkorb sich immer enger zusammenzog. Das Gefühl, wie sich mein Herz dagegenstemmte und machtlos gegen meine Rippen prallte. Blut, das warm war, als es auf mein Gesicht traf und dort kalt wurde wie der Körper, dem es entrissen worden war.

Ich hörte nicht die Schreie der anderen, sah nicht die anderen Gesichter. Das alles war im Schlaf zurückgeblieben. Alles, was ich hörte, war ein einziger, schriller Ton und dahinter Dunkelheit und Stille.

Der Impuls zur Flucht kollidierte mit der Lähmung, die mich auf der Matratze festhielt. Tränen strömten über mein Gesicht, als beides aufeinanderprallte wie ein scheiß Gewitter.

Irgendwie zog ich mich über den Rand des Bettes, und der Aufprall auf dem Boden gab diesem Kokon aus Panik einen kleinen Riss, der es mir möglich machte, aufzustehen und aus Ambers Zimmer zu stürzen.

Dass ich ein Ziel hatte, bemerkte ich erst, als ich unfähig war, es zu erreichen.

Meine Flucht hatte mich ins Wohnzimmer getrieben und in die Arme meiner absoluten Unfähigkeit, einen einfachen Schlüssel zu drehen. Meine Hände zitterten und ich wusste, dass dieses alte Schloss tückisch war. Aber ich wusste auch, dass ich es unter anderen Umständen spielend leicht öffnen konnte, um auf diesen winzigen Balkon zu kommen, über den ich mich ein paar Stunden vorher noch lustig gemacht hatte. Und jetzt war er der Ort, an den ich unbedingt musste, um wieder einen richtigen Atemzug nehmen zu können. Weil es dort Luft gab – egal, ob kalt oder durchdrungen von Regen und Londoner Smog. Da war Luft und ich erstickte hier in diesem elenden Wohnzimmer, weil meine Finger zu sehr zitterten, um einen lächerlichen Schlüssel zu bedienen.

»Du musst ... Warte.«

Als plötzlich diese Stimme aus dem Nichts kam, entfuhr mir ein erstickter Aufschrei und der Schlüssel entwand sich meinen Fingern. Neben dem Klimpern, mit dem er den Boden begrüßte, bemerkte ich auch Schritte, die sich näherten. Eine viel größere Hand als meine hatte sich schon um diesen widerspenstigen kleinen Gegenstand geschlossen, ehe ich mich auch nur danach hatte bücken können.

Vor meinen Augen fand der Schlüssel das Schloss und drehte sich darin – diesmal mit dem rettenden Klicken. Doch anstelle der erlösenden kalten Nachtluft schlug mir ein musternder Blick entgegen. »Alles okay?«

Ich hatte ehrlich keine Zeit für diese Frage. Und keine Luft für eine Antwort. Keine Ahnung, was Nate aus Arkansas in meinem Blick sah, denn er zögerte kurz, ehe er die Tür einen Spalt breit öffnete und endlich freigab. Ich erinnere mich verschwommen, dass er noch irgendetwas sagte. Seine Worte verschwanden allerdings hinter dem Prasseln von Regen, der mir kalt ins Gesicht schlug. Kalt. Nicht warm.

Mein Brustkorb tat sich etwas schwer mit dem ersten Atemzug. Er schien zu ächzen, als meine Lungenflügel sich von innen gegen ihn stemmten. Erst nach ein paar Sekunden gab er nach. Irgendwann, während ich dastand, meine Ellenbogen auf das Geländer gestützt und meine Handballen gegen meine Augen gepresst, gab er nach. Und ihm folgte auch alles andere. Mein Puls fand wieder einen Rhythmus, der nicht gegen meine Kehle drückte. Das Pfeifen in meinen Ohren wurde leiser und ließ das Rauschen vom Straßenverkehr zu mir durch. Meine Beine taten sich noch etwas schwer mit dem Stehen, aber ich war zuversichtlich, dass sich auch das bald geben würde.

Mit der Luft in meinen Lungen löste sich der Zustand auf, der mich von jedem logischen Denken getrennt hatte, und Klarheit stellte sich ein. Was darauf folgte, war die laienhafte Einschätzung der Situation. Ich ging davon aus, dass diese Episode eine Art Panikattacke gewesen war. Zwanzig Tage, nachdem ich den eigentlichen und einzig sinnvollen Grund für Panik mit dem Verlassen dieser Konzerthalle hinter mir gelassen hatte. Seither hatte es Momente gegeben. Ich wusste nicht, wie ich es anders nennen sollte, wenn mein Bewusstsein plötzlich auf irgendein winziges Detail ansprang und sich sofort mein Magen umdrehte, meine Hände zitterten oder mein Herzschlag zum Sprint ansetzte. Ich kannte Albträume. Doch die verflüchtigten sich sonst, sobald ich aufwachte. So schlimm wie in dieser Nacht war es bisher nie gewesen.

Ich stellte also fest, dass das Verdrängen von Reaktionen eine ungeheuer dumme Idee war. Und noch während ich die letzten Tränen von meiner Wange wischte, verbuchte ich das als Fehler, den es in Zukunft zu vermeiden galt.

Ganz einfach.

Ich atmete noch einmal tief ein, ließ ein paar mehr Regentropfen auf mein Gesicht fallen und gab die Luft wieder frei. Ohne große Anstrengungen.

Ganz einfach.

Also war es an der Zeit, der Tatsache nachzugeben, dass ich in einem großen Shirt und Unterhose im Regen stand – in einer Nacht, die ebenso gut dem November hätte gehören können. Ich fror – was mir eben noch geholfen hatte, um wieder klar denken zu können, wurde allmählich unangenehm, und so schlüpfte ich zurück ins Wohnzimmer.

Ich drückte gerade leise die Tür hinter mir zu, als ... »Wenn du willst, kann ich auch wieder abschließen.«

»Verdammt noch mal!« Ich fuhr zusammen – diesmal immerhin mit einem Fluch anstatt eines ängstlichen Aufschreis. »Wieso bist du immer noch da?«

Ich konnte den Kerl schemenhaft auf dem alten Ledersofa ausmachen. Er rappelte sich ein wenig auf und im Schimmer seines E-Readers erkannte ich hochgezogene Augenbrauen. »Ich wohne hier«, erwiderte er trocken.

Und warum bist du nicht in deinem Zimmer?, war die Gegenfrage, die sich mir aufdrängte. Was mich aufhielt, sie auszusprechen, war die rechtzeitige Erkenntnis, dass ich geklungen hätte wie meine Mutter. Was von dem Satz übrig blieb, war ein Schnaufen, aus dem eher mein Dad herausstach. Der und mein ganz eigener Starrsinn, mit dem ich diesmal mühelos den Schlüssel im Schloss drehte, sodass dieses sich wieder verriegelte. Nates Grinsen dabei ignorierte ich.

Das war recht leicht, weil er es schnell wieder abwandte und auf sein Buch richtete, wo es verloren ging. »Sessel«, murmelte er nur und deutete mit seiner Hand in eine Richtung, die deutlich am Sessel vorbeiging.

»Was ...«, hob ich an, doch dann sah ich die Antwort auf meine unbeantwortete Frage direkt auf der Sitzfläche des Ohrensessels liegen, den Amber sich unter gleichermaßen Protest und Mithilfe ihrer Mitbewohner von einem Flohmarkt geholt hatte, um ihn dann doch fast nie zu nutzen. Zwei große Handtücher. Ein Danke wäre die Erwiderung gewesen, die meine Eltern mir beigebracht hatten. Dennoch war das erste Wort, das mir in den Sinn kam und dann aus meinem Mund fiel: »Wieso?«

»Du bist die beste Freundin meiner Mitbewohnerin.« Er klang, als hätte er einen Heidenspaß daran, das zu sagen, obgleich er nicht einmal von seinem Buch aufsah. »Das verpflichtet mich dazu, nett zu sein. Und wenn du dich schon nicht aufhalten lässt, dann eben ...« Er wiederholte diese unbestimmte Bewegung, die vermutlich auf die Sitzgelegenheit gerichtet sein sollte, neben der ich stand.

»Aufhalten?«

Erst jetzt sah er auf. Und da einem als Frau dieses Phänomen vertraut ist, erkannte ich trotz der spärlichen Lichtverhältnisse, wie sein Blick kurz von meinem Gesicht abrutschte und ein Stück nach unten glitt, ehe er sich eisern an meinen Augen festhielt. Zugegebenermaßen war mir bis zu diesem Punkt nicht aufgefallen, wie nass mein Shirt geworden war.

»Aufhalten«, bestätigte Nate und hielt seinen Blick weiter auf meine Augen gerichtet. Er wirkte fast schon trotzig dabei. »Ich hab dir gesagt, dass es regnet, und du hast gesagt, dass du Engländerin bist. Aber offensichtlich bleiben auch Engländerinnen im Regen nicht trocken.«

Ich hatte absolut keine Erinnerung an diesen Dialog. Habe ich bis heute nicht. Doch da ich keinesfalls zugeben wollte, wie beschränkt meine Aufnahmefähigkeit vor ein paar Minuten noch gewesen war, zuckte ich nur mit den Schultern und nahm eines der Handtücher. »Danke. Wäre nicht nötig gewesen.«

»Auch so eine typisch englische Sache? Dass ihr keine Handtücher braucht?«

Ich lachte und drückte meine nassen Haare mit dem Handtuch aus. Nate hatte den Blick längst wieder auf seinen Reader gerichtet.

»Was ist eigentlich der Grund dafür, dass Nate aus Arkansas mitten in der Nacht hier auf dem Sofa sitzt?«

Er sah wieder auf, und ich konnte sehen, dass er bereits zu einer Antwort ansetzte, ehe er es sich doch anders überlegte und eine andere Richtung anvisierte. »Meine Herkunft fasziniert dich ungemein, kann das sein?«

Himmel, dieser dumme Beiname hatte sich in meinem Kopf schon so sehr eingebrannt, dass ich einen Moment lang darüber nachdenken musste, wovon er sprach. Vielleicht spielten Müdigkeit und Uhrzeit auch eine gewisse Rolle. »Eigentlich nicht«, erwiderte ich – ein bisschen zu ehrlich. »Es war einfach so liebreizend, wie du dich vorgestellt hast. Nate aus Arkansas. Wie ein Junge, der sich verläuft und jemandem seinen Namen und seine Adresse sagt, um nach Hause gebracht zu werden.«

Nate entfuhr ein kurzes, schnaubendes Lachen. Das war nicht das Lachen, das ich später noch kennenlernen würde, aber es ging Hand in Hand mit dem offensten Lächeln, das ich an diesem Tag von ihm gesehen hatte. »Und das von der Frau, die eine andere erwachsene Frau als ihre beste Freundin bezeichnet, als wären sie elf.«

Ich schnappte empört nach Luft. Erstaunlich, wie simpel das mit dem Luftholen auf einmal war. »Wir sind beste Freunde, seit wir acht waren!« Ich hörte es selbst – meine Argumentation machte es nicht besser. »Wenn man den Titel einmal hat, wird man ihn nicht mehr los.«

Nate lachte nicht noch mal. Seine Mimik verriet jedoch, dass er es gern getan hätte. »Und ich werde jedem vorgestellt als Nate aus Amerika. Das ist, als würde ich jemandem sagen, du bist Liz aus Europa. Sicher wären New York oder LA cooler als ein Kaff in Arkansas, aber da komme ich nun einmal her. Also wollte ich für ein bisschen Genauigkeit sorgen.«

Ich verstand, was er meinte, und konnte nicht leugnen, dass es ungeheuer entzückend war, ihm dabei zuzusehen, wie er sich in dieses Detail hineinsteigerte. Nate wirkte schlicht und ergreifend wie jemand, der grundsätzlich nett zu anderen Menschen war und vermutlich eine Engelsgeduld aufbrachte. Und ich konnte mir vorstellen, dass er zuweilen Probleme damit haben könnte, sich durchzusetzen, wenn ein »Ich bin Nate aus Arkansas« sein Level an Autorität war. »Also brauchen wir beide wohl Buttons. Oder Shirts«, stellte ich fest.

»Das wäre eine enorme Erleichterung«, seufzte Nate und ließ sich dabei sogar gegen die Sofalehne fallen.

»Gibt es irgendein besonderes Wappen, das dabei berücksichtigt werden müsste? Sowas wie eine Mohnblume oder eine Distel. Ein Kleeblatt.«

Nate hob die Augenbrauen, und ich musste feststellen, dass er trotz seines überaus netten Gesichts den abschätzigen Blick hervorragend beherrschte. »Muss es zwingend eine Pflanze sein?«

»Nein, was auch immer dir bei Arkansas zuerst in den Sinn kommt.«

Er nickte und wandte sich dann wieder seinem Buch zu. »Einöde.«

Ich überlegte kurz. »Das geht nicht. Keine Ahnung, wie man das darstellen soll. Du kannst ja eine Nacht drüber schlafen«, schlug ich vor – nicht, weil ich ihm ernsthaft irgendein Symbol abverlangen wollte, sondern weil mir nichts anderes mehr einfiel. Ich stand immer noch hier in diesem nassen Shirt, von dem Nate akribisch seinen Blick fernhielt. Um es ihm nicht allzu schwer zu machen, nahm ich die beiden Handtücher und drückte sie an mich. »Also – schlaf gut, Nate aus Arkansas. Und danke noch mal.«

»Nichts zu danken, Liz, beste Freundin von Amber.« Er schenkte mir noch ein Grinsen und entließ mich dann in meinen Rückweg.

Also tapste ich barfuß den Weg zurück zu Ambers Zimmer, wo meine besagte beste Freundin unbehelligt in ihrem Bett lag – nicht mehr ganz auf der Seite, die eigentlich ihre war – und schlief. Die Handtücher warf ich in den Wäschekorb neben dem Kleiderschrank und entschied, sie nicht zu wecken, nur um mir ein Shirt zu leihen. Also nahm ich mir mein Handy vom Nachttisch zur Hilfe und suchte in Ambers Schrank nach irgendetwas, das ein T-Shirt und groß war. Gott sei Dank wurde ich recht schnell fündig und konnte diesen unangenehm nassen Stoff loswerden.

Der übrige Plan war simpel – zurück ins Bett und schlafen bis zum nächsten Morgen.

Den ersten Schritt absolvierte ich noch und dann ... Ich glaube, es war wie ein Echo dessen, was mich zuvor aus dem Zimmer gejagt hatte. Die Decke war schwerer, als sie sein sollte, die Luft wärmer und ich versuchte gar nicht erst, das auszuhalten und an mir vorbeiziehen zu lassen. Ebenso gut hätte es schließlich sein können, dass sich der vorherige Zustand einfach wiederholte, und das kam überhaupt nicht infrage.

Ich denke, dass Nate sich gern einbildet, ich wäre in dieser Nacht ausschließlich seinetwegen ins Wohnzimmer zurückgekehrt. Und vielleicht wäre das hier auch romantischer, wenn er damit recht hätte. Mit Sicherheit wäre es das. Zum Trost kann ich sagen, dass mein erster Weg mich in die Küche geführt hatte. Es war der direkt anliegende Raum und ein Glas Wasser hatte noch immer Wunder bewirken können. Ich hätte dort also bleiben und für mich allein sein können – etwas, das ich eigentlich sehr gern war. Stattdessen holte ich nicht einmal ein Glas aus dem Regal, sondern zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank, öffnete sie und kehrte damit ins Wohnzimmer zurück.

Nate hatte mittlerweile die kleine Stehlampe neben der Couch angeschaltet. Ob als Warnung für oder Schutz gegen weitere Eindringlinge wie mich, wusste ich nicht. Es beruhigte mich, weil ich den Schluss daraus zog, dass er nicht vorgehabt hatte, direkt nach meinem Abschied zu schlafen.

Also stand ich schließlich da, zwei Bier in der Hand und Nates Blick ausgesetzt, der immer noch erstaunt war, allerdings nicht mehr annähernd so schüchtern wie im Angesicht meines nassen Shirts.

»Ist auf deiner Insomnia-Couch noch ein Platz frei? Ich schulde dir noch einen Gefallen.«

Ehrlich gesagt war es nicht einmal beabsichtigt gewesen, doch ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, als ich beobachtete, wie ihm seine Gesichtszüge für einen Moment entglitten, ehe ich entwarnte.

»Du bist neu hier und vielleicht kann ich dich mit ein bisschen Insiderwissen vor dem ein oder anderen Fettnapf bewahren. Dafür erfährt Amber nichts davon.« Ich deutete auf die Tür, gegen die der Regen mittlerweile wesentlich energischer schlug.

Nate ließ einen Moment verstreichen, ehe er ein Stück beiseite rutschte. Er klopfte sogar mit seiner Hand neben sich auf das Sofa und schenkte mir das zurückhaltende Lächeln eines versierten Geheimnisträgers.

Und ich denke, das ist sie wohl – »unsere Geschichte«. Jedenfalls nach der Definition eines Logan Sullivan, der Geschichten nun einmal damit beendet, dass sie beginnen. Und da Logan ganz eindeutig sehr viel mehr Ahnung von Romantik hat als ich: Ende.