Nates Logbuch
Zweiter Eintrag: Eine Hommage an das Klischee

Die Geschichte von Nate und mir endete nach der Sullivan-Regel eine Weile nach Mitternacht am 29. September 2018.

Wir hatten mit dem mitgebrachten Bier angestoßen und ich hatte ihm eine Zeit lang von den Eigenheiten der WG-Mitglieder erzählt, die er nun am Hals hatte. Und dann war er derjenige gewesen, der erzählt hatte. Und ich hatte ihm lieber zugehört, als an einen weiteren Schlafversuch zu denken. Natürlich war ich müde geworden, todmüde sogar, während Nates Jetlag ihn unermüdlich wachhielt. Erst mit dem ersten Tageslicht hatten wir das Sofa verlassen – um Kaffee zu machen, weil Schlaf nicht mehr lohnte.

Nur war das Resultat aus diesem Kaffee, der seit Bestehen der WG der schlechteste ist, den man in ganz England finden kann, dass Nate am Geschmack der Engländer zu zweifeln begann. Ich wiederum fühlte meinen Patriotismus herausgefordert und schlug einen Gegenbeweis vor, auf den er sich einließ.

Dass wir also am folgenden Tag in meinem Lieblingscafé saßen ... Wie ist das nach der Logik eines gewissen Mr Sullivan zu bezeichnen? Ich werde den Teufel tun, ihn danach zu fragen. Der Begriff »Fortsetzung« wird wohl in Ordnung sein.

Wie bei jeder Fortsetzung hatte ich Angst, dass sie nicht an das Original heranreichen würde. Es war so leicht gewesen, Nate mitten in der Nacht und mit einem Bier in der Hand zu lauschen. Zuweilen verhielten sich Dinge bei Tageslicht und vor dem Hintergrund eines Vorsatzes jedoch vollkommen anders.

Und das taten sie auch.

Ein ganz gravierender Unterschied zum Beispiel war, dass ich einfach meine Klappe nicht hielt. Man empfiehlt immer, für ein Date seine Lieblingskleidung zu tragen, um sich wohlzufühlen. Und das tat ich – Jeans, weißes Shirt, legerer Blazer, Schal. Zu Hause vor dem Spiegel hatte ich mich darin wohlgefühlt, und nun war ich hier, wusste nicht so recht, wie ich sitzen sollte, und wieso mir diese eine Locke ständig ins Gesicht fiel. Nate in einem durchnässten Shirt gegenüberzustehen war leichter gewesen. Und das kompensierte ich mit unendlich vielen Worten, die Nate alle geduldig über sich ergehen ließ.

»Dads Whisky und Zitronensaft.« Selbst vor dieser Geschichte machte mein Mundwerk nicht Halt. Normalerweise brauchte es einen wirklich bemerkenswerten Pegel an Betrunkenheit, ehe ich darüber referierte, wie ich als Sechsjährige versucht hatte, meine Sommersprossen loszuwerden. »Dad hatte immer gemeint, dass das Zeug brennt wie die Hölle – also der Whisky, natürlich. Dass es alles einfach aus dem Rachen putzt, das dort nicht hingehört. Es hat also nichts dagegengesprochen, dass das auch auf der Haut klappen könnte, fand ich. Und von Mum hatte ich mal aufgeschnappt, dass in Zitronensaft Säure drin wäre. Und es gibt wohl kaum etwas, das gefährlicher klingt als Säure.«

Nate versteckte sein Grinsen hinter der riesigen Kaffeetasse, an der er nippte. Mintgrün, genauso wie die Wände. Wenigstens das Sofa, auf dem wir saßen, war dunkelbraun. »Also hast du in dem Zeug gebadet?«

»Um Himmels Willen, nein!«, stieß ich aus. »Ich hatte wirklich richtig große Angst vor der Säure. Aber was sollte ich machen? Bis zur Einschulung war es nur noch eine Woche und ich wusste aus sicherer Quelle, dass die Großen absolut keine Sommersprossen tolerierten. Du kannst dir vorstellen, was für einen Schiss ich hatte, ich meine ...« Es war vollkommen unnötig, dass ich auf mich deutete. Nate sah mich ohnehin die ganze Zeit an. Allerdings war ich zu gefangen in meinem eigenen Geplapper, um das richtig wahrzunehmen. Vielleicht hätte es mich ruhiger werden lassen, hätte ich es eher bemerkt. Oder das Gegenteil wäre passiert. Wer weiß?

Jedenfalls nickte Nate, während ich mit meinen Händen vor mir herumgestikulierte. Als wäre es nicht auf den ersten Blick zu erkennen, dass meine Haut die Sache mit den Sommersprossen ziemlich ernst nimmt. »Ich sehe, du warst erfolgreich«, meinte er und deutete mit einem Nicken auf mich. Genauer – auf meinen Kopf. Anstatt auch seine Hand nach mir auszustrecken, legte er nur seinen Zeigefinger kurz an seine eigene Stirn. »Die Stelle ist deutlich heller.«

Ich wusste, welche Stelle er meinte. Eine etwas größere Lücke, die die Pigmente auf meiner Stirn hinterlassen hatten. Sie war schon immer da gewesen und zusammen mit mir größer geworden – so, wie bei anderen Muttermale mit dem Wachstum größer wurden. Nur umgekehrt. »Ich weiß«, meinte ich schulterzuckend. »Hat mich drei Stunden gekostet, dann hab ich aufgegeben.«

»Den Rest hättest du innerhalb einer Woche auch nicht geschafft.«

Ich lachte nur zum Teil über seinen Kommentar. Viel amüsanter war die kurze Unsicherheit in seinem Blick. Es war ziemlich deutlich, dass er glaubte, vielleicht einen wunden Punkt getroffen zu haben. Und ja, das hätte er – wäre ich immer noch sechs Jahre alt gewesen. Oder zehn. Oder dreizehn. Manche Dinge lässt man Gott sei Dank irgendwann hinter sich. »Natürlich hätte ich das geschafft!«, widersprach ich dennoch. »Ich war damals viel kleiner. Ich hätte die Nächte durchmachen müssen, dann hätte es bestimmt geklappt.«

»Also war die Schulzeit der Horror?«

»Glaub mir, du hast keine Vorstellung.« Meine Antwort war vermutlich die erste wirklich dumme Sache, die ich nichtsahnend von mir gab.

Nate ließ es sich nicht anmerken. Ich weiß nicht, ob ich ihm heute etwas ansehen würde, aber an diesem Nachmittag und auf diesem Sofa sah ich nur das Grinsen auf seinem Gesicht und die Hand, die er in meine Richtung ausstreckte, ohne mich damit zu erreichen.

Mir war schnell klar, dass er nicht vorhatte, mich zu berühren. Als ich aber darüber hinaus nicht begriff, was das sollte, antwortete Nate meinem verdutzten Gesichtsausdruck. »Deine Tasse ist sicher schon seit einer Viertelstunde leer. Ich warte die ganze Zeit darauf, dass du sie mal wegstellst, damit ich Nachschub holen kann.«

Tatsächlich hatte ich mich an der Keramik in meiner Hand festgehalten, und meine Hände fühlten sich unnütz an, sobald ich Nate die Tasse überließ.

»Ich dachte nur, die nächste Etappe könnte harter Tobak werden.« Er klang fast entschuldigend, als er das sagte. »Das funktioniert nicht ohne ... Noch einen Kaffee? Oder willst du was anderes?«

»Ich glaube, ich wechsle zu Tee. Earl Grey. Mit Milch.« Den letzten Punkt hätte ich bei jedem meiner Freunde weggelassen. Bei Nate aus Arkansas konnte ich jedoch nicht sicher einschätzen, ob er um die Notwendigkeit von Milch zu einem klassischen schwarzen Tee wusste.

Tatsächlich zuckten seine Augenbrauen ein wenig. »Und ich dachte, das wäre ein Klischee.«

»Oh, das ist es. Aber was soll ich sagen? Klischees entsprechen meistens der Wahrheit. Bestätigt sich immer wieder.« Und oft vereinfachten sie manche Dinge sogar. Das sollten Nate und ich an dem Tag noch herausfinden. Im Nachhinein war ich mir sogar sehr dankbar dafür, Nate im Vorfeld auf die Glaubwürdigkeit eines Klischees hingewiesen zu haben.

Der Tee wurde zweitrangig, als Nate mit zwei vollen Tassen zurückkehrte und sich nicht ganz auf dieselbe Stelle des Sofas setzte wie zuvor. Er war jetzt näher. So nah, dass ich meinen Arm nicht einmal ganz hätte ausstrecken müssen, um ihm mit den Fingern durch die wirren Haare zu fahren. Und ja, daran hatte ich längst gedacht. Es hatte überhaupt keinen Zweck, das zu leugnen. Nicht umsonst hielt ich mich krampfhaft an meiner Tasse fest.

»Schule«, nahm Nate das Thema wieder auf. »Sommersprossen. Hölle auf Erden.«

»Bitte nicht«, lachte ich. »Wenn ich jetzt dazu aushole, dann fängt das mit einer ewigen Liste aus Spitznamen an. Danach geht es weiter mit den Versuchen, mich zu schminken. Und glaub mir – der Versuch, Makel zu verstecken, macht es in der Regel nur schlimmer.«

Er nickte, als wüsste er genau, wovon ich sprach.

»Wenn du mich darüber reden lässt, findet das heute kein Ende mehr. Und du langweilst dich zu Tode. Außerdem habe ich eh schon viel zu viel geredet, ich ... Ach herrje.« Drei Stunden. Mein Blick war auf die hölzerne Wanduhr gefallen, die über der Eingangstür hing. Beinahe drei Stunden saßen wir hier und ich strapazierte Nates Geduld mit meinen fragwürdigen Anekdoten. »Du bist dran. Eindeutig. Und du schuldest mir noch einen zweiten Versuch.«

Nates Mundwinkel zuckten, und ich konnte mir gut vorstellen, welche Erinnerung sich in seinem Kopf abspielte. Eine Liz, beste Freundin von Amber, die neben ihm auf dem Sofa lümmelte – in die Decke gehüllt, die eigentlich seine war. Irgendwann hatte es diesen Punkt gegeben, an dem meine Müdigkeit ein Hoch gefeiert und meine Aufmerksamkeit zu einem sensationellen Tief verdonnert hatte. Nate hatte mir erklären wollen, was hinter seiner Zusammenarbeit mit diesem Adam steckte. Ich kann mich erinnern, dass er sogar recht ausführliche Erklärungen gegeben hatte. Ich hatte jedes einzelne Wort vernommen und bin sicher, dass ich nicht weggenickt war, nicht einmal kurz. Nur verstanden hatte ich absolut nichts. Also hatte er seine Erläuterungen abgebrochen und mir versprochen, sie zu einer Gelegenheit zu wiederholen, bei der ich aufnahmefähiger sein würde.

Und diese Gelegenheit sah ich nun gekommen. Ich war neugierig und vor allem war ich nach mittlerweile drei Tassen Kaffee und wohl auch aus anderen Gründen hellwach.

»Sicher?«, fragte Nate. »Einen dritten Versuch wird es nicht geben. Das wäre frustrierend.«

Ich sah ihn schief an, und um meinen Blick zu untermalen, stieß ich mit meinem Fuß gegen sein Bein. Das war kein wirklicher Tritt. Nur der kleine, empörte Schubs, den meine Hand seinem Oberarm nicht geben konnte, weil die sich ja an die Teetasse krallte. »Na los.«

Nate hob beschwichtigend die Hand, die nicht seinen Kaffee festhielt, und ließ sich mit einem fast schon theatralischen Seufzen gegen die Rückenlehne sinken. »Ganz wie du willst«, murmelte er und wandte sein Gesicht in meine Richtung. Ich behaupte ja, dass er das mit Absicht tat. Dass er völlig bewusst das gleiche Bild heraufbeschwor, als würde er neben mir im Bett liegen – nur, dass sein Kopf eben auf braunem Leder lag und nicht auf einem Kissen. Ein Lächeln auf den Lippen, als hätte man gerade etwas wesentlich Interessanteres angestellt, als sich über Sommersprossen und Schultraumata zu unterhalten.

Ich will gar nicht in erster Linie von Attraktivität und Anziehung schreiben. Die hatte an diesem Nachmittag und in den folgenden Tagen und Wochen mit Sicherheit ihre tragende Rolle, aber sie ist nicht das Erste, was ich mit Nate und unserem Kennenlernen verbinde. Viel prägnanter war die Vertrautheit zwischen uns, die noch gar nicht hätte da sein sollen. Er strahlte sie aus, und ich glaubte sie ihm. Und ich denke, dass mich das wesentlich mehr beeindruckte als blaue Augen, breite Schultern oder diese zerzausten Haare, die einfach danach schrien, sie anzufassen.

»Also«, holte er aus. »Adam hat dieses Projekt mit Unterstützung seines Profs gestartet. Es geht um Jugendliche – in Pflegefamilien oder Heimen, manchmal auch auf der Straße. Hin und wieder sind darunter auch Straffällige oder solche, die es noch werden wollen. Das ist ganz unterschiedlich. Die meisten sind zwischen dreizehn und achtzehn, und irgendwann vorher ist mal was schiefgelaufen, weshalb sie von der Bahn abgekommen sind. Oft ist auffällig, dass sie große Probleme mit Empathie und Verantwortung haben – vereinfacht gesagt. Und wenn ich es genauso einfach darstelle, tun wir nichts anderes, als diesen Jugendlichen Haustiere zu geben, die Ähnliches durchgemacht haben. Und damit hoffen wir, solche Defizite etwas auszugleichen. Wir betreuen das Ganze, schätzen ein, wie viel Verantwortung wem zugetraut werden kann ... Solche Dinge. Im Prinzip ist es das auch schon – plus sehr viel Papierkram und Auswertung.«

»Das war’s?«, fragte ich und merkte sofort, dass man diese unbeeindruckte Nachfrage völlig falsch verstehen konnte. »Ich meine nicht das Projekt!« Der Nachschub kam gerade rechtzeitig. Nates Augenbrauen hatten sich schon leicht angehoben. »Es ist nur ... wenn du es mir gestern so erklärt hättest, hätte ich es auch gleich verstanden und hätte mich nicht wie eine Idiotin fühlen müssen.«

Seine Augenbrauen blieben auf ihrer leicht erhöhten Position. Außerdem bekamen sie tatkräftige Unterstützung von einem Schmunzeln, das sich auch nicht verzog, als er einen Schluck von seinem Kaffee trank. »Das ist ziemlich genau derselbe Wortlaut, den ich gestern hatte.«

»Verarsch mich nicht. Du hast ewig geredet. Und hochgradig akademisch. Als würdest du eine Vorlesung darüber halten, um dir damit drei Doktortitel zu verdienen.«

»Promovierung läuft üblicherweise etwas anders ...«, hob er an, verstummte jedoch, als ich meinen Kopf schief legte und ihn mahnend ansah. »Ich schwöre, genau so habe ich dir das erklärt. Viel weiter kann ich eh nicht ausholen. Dafür stehe ich noch gar nicht tief genug im Thema.«

Ich schnaufte nur, doch wenn ich ehrlich war, zögerte ich. Allzu viel wusste ich von dieser Tiefphase meiner Aufmerksamkeit wirklich nicht mehr. Was wohl in der Natur der Sache lag. Trotzdem hätte ich eine so simple Erklärung doch allemal verstanden. Oder?

»Falls das meine Aussage unterstützt«, ergänzte Nate. Er schien mein Zögern bemerkt zu haben. »Als ich dich gefragt habe, was du arbeitest, meintest du, du machst Feste. Und sehr viel mehr war da nicht aus dir rauszuholen. Ich musste also deine beste Freundin fragen, um daraus schlau zu werden und zu begreifen, dass du die Veranstaltungsabteilung in einem Kongresshotel leitest.«

»Stellvertretend«, korrigierte ich. »Amber übertreibt gern.«

»Und sie hat mir noch eine Kleinigkeit verraten.«

»Oh, bitte nicht«, keuchte ich und hatte das gar nicht laut aussprechen wollen. Bei dem Grinsen, das sich auf seinem Gesicht abzeichnete, machte das allerdings auch keinen Unterschied mehr.

»Sie meinte, es sähe dir ähnlich, viel zu lange aufzubleiben. Was waren ihre Worte? Wie eine widerspenstige Vierjährige, die ins Bett soll. Was sie so lange nicht tut, bis sie wieder den Intellekt einer Vierjährigen hat.« Ich glaube, dass er eher über meinen Gesichtsausdruck lachte, als über die Erinnerung an Ambers Worte. »Falls es dich beruhigt, du hast mich eher an meine Schwester erinnert. Sie musste mal operiert werden. Blinddarm, nichts Dramatisches. Und als wir sie besucht haben, war sie immer noch ziemlich benommen. Das war gestern so ähnlich.«

Ich fand es vollkommen absurd, wie beeindruckt er klang. Dabei hatte er in einer einzelnen Nacht die zwei unansehnlichsten Zustände kennengelernt, zu denen mein Gemüt imstande ist. Der erste war mir selbst neu gewesen und der zweite ... das Einzige, was daran imponieren mag, ist wohl, dass ich keinerlei zwielichtige Substanzen brauche, um ihn zu erreichen. Ich muss nur über einen gewissen Punkt hinaus wach bleiben.

»Du hattest also deinen Spaß«, schlussfolgerte ich.

Nate presste seine Lippen aufeinander und sah damit tatsächlich ein wenig schuldbewusst aus. »Ein bisschen. Allerdings finde ich es sehr faszinierend, dass du weder Schlaf noch Kaffee brauchst, um irgendwann wieder bei klarem Verstand zu sein.«

»Dafür muss man nur lange genug durchhalten. Das passiert von ganz allein. Alte Gastronomieregel.« So war es möglich, mehrere Schichten hintereinander zu arbeiten. Man musste lediglich wissen, wann man diese ein oder zwei Stunden erreicht hatte, in denen man besser nur Besteck polierte und sonst nichts.

Dennoch war das nicht gerade ein Thema, das ich favorisierte, wenn ich mit einem Mann seit Stunden auf einer Couch saß, Kaffee trank und allmählich so eine Ahnung bekam, in welche Richtung das laufen konnte. Also griff ich nach dem ersten Strohhalm, der sich mir bot: »Du hast also eine Schwester?« Ich erkannte, dass Nate kurz über seine Antwort nachzudenken schien und konnte mir ein Glucksen nicht verkneifen. »Zu intime Frage?«

Er wirkte ein bisschen ertappt, als er den Kopf schüttelte. »Kim. Sie ist drei Jahre älter als ich.«

»Du bist das Küken?« Irgendetwas gefiel mir an diesem Gedanken. Und sei es nur, dass er so hervorragend in mein Bild von Nate aus Arkansas passte. Er kam gar nicht zu einer Antwort, und ich frage mich gerade, während ich das aufschreibe, was er gesagt hätte, hätte ich ihn gelassen. »Ist sie auch in die weite Welt geflohen oder noch in Arkansas?«

»Sie lebt in Camden, nur ein paar Straßen entfernt von meinen Eltern. So, wie sich das gehört.« Wenn ich nicht irrte, verdrehte er an dieser Stelle leicht die Augen, aber meine Aufmerksamkeit galt längst einer anderen Sache.

»In Camden?«

»So heißt die Stadt, aus der ich komme.« Seine Augenbrauen zogen sich leicht zusammen. »Muss ich jetzt damit rechnen, dass du mich ‚Nate aus Camden‘ nennst?«

»Auf keinen Fall«, beschloss ich sofort. »Das würde nur zu Verwirrungen führen. Ist dir klar, dass es in London einen Bezirk gibt, der so heißt?«

»Logan hat da was fallen lassen. Ich wollte googlen und hab es dann wieder vergessen. Wissenslücke?«

»Eindeutig. Das werden wir bei Gelegenheit bereinigen.« Im Prinzip wäre besagte Bereinigung auch unverzüglich möglich gewesen. Aber ich war mir nicht ganz sicher, ob das den Rahmen sprengen würde. Genau genommen war ich überhaupt nicht sicher, wo für Nate dieser Rahmen war. Mittlerweile saßen wir lange genug beieinander, um mir recht sicher zu sein, dass er keinen Schritt weiter gehen würde, als ich es vormachte. Den ersten Schritt zu machen war nichts, womit ich grundsätzlich ein Problem gehabt hätte, nur war mir noch nicht ganz klar, wie weit er ab da mit mir gehen würde. Allerdings war mittlerweile sehr wohl meine Neugier geweckt, das herauszufinden.

»Das heißt, wir müssen irgendwo eine Lücke finden, in der ich nicht in der Uni oder mit dem Projekt unterwegs bin und du nicht arbeiten musst«, stellte er fest und gab mir damit das erste Indiz.

Meiner Erinnerung nach verbrachte ich die gesamte übrige Zeit, die ich für meinen Tee brauchte, damit, mir über Nates Motivationen klar zu werden.

Ich war ehrlich gesagt bis zum Schluss nicht sicher. Einfach, weil Nate eben Nate ist. Wenn man ihn kennt, muss man diesem Kerl nur ins Gesicht sehen, und kann darin deutlich lesen, was er über einen denkt. Die Sache ist nur, dass er es nie laut aussprechen würde. Und da ich ihn an diesem Tag noch nicht annähernd so gut kannte wie jetzt, hatte ich bestenfalls das, was man »so ein Gefühl« nennt, wenn einem keine bessere Bezeichnung einfällt. Fakt ist, dass genau das – wie auch immer man es nennen will – zuweilen einfach ausreichen muss. Und auf keinen Fall wollte ich ewig auf einer Ahnung sitzen bleiben.

Ich erläuterte Nate gerade die Sentimentalität, die seine WG mit dieser abscheulichen Kaffeemaschine verband, während wir längst wieder mit leeren Tassen nebeneinandersaßen. Wobei sich jeder dem anderen mittlerweile weit genug zugewandt hatte, dass von »nebeneinander« keine Rede mehr sein konnte. Nicht so richtig, jedenfalls.

»Ben meinte mal, dass diese Kaffeemaschine ein Test sei. Jeder, der das Gebräu aus diesem Ding übersteht, hat einen Charakter, der stark genug ist, um in dieser Wohngemeinschaft zu bestehen. Ich sollte allerdings dazu sagen, dass Ben kein großer Kaffeetrinker ist.«

»Heißt das, ich bin jetzt durch diesen Test gefallen, indem ich hier Kaffee trinke?«

Ich schüttelte energisch den Kopf. »Wenn ich das richtig verstanden habe, geht es nicht darum, ausschließlich das Zeug aus der WG zu trinken, sondern darum, es überhaupt zu ertragen.«

Nate lachte. »Immerhin schätzen sie die Qualität von diesem Kaffee völlig richtig ein. Und bisher ist noch niemand auf die Idee gekommen, einfach eine zweite Maschine zu kaufen? Eine für den Tauglichkeitstest und eine zweite für ... ja, für Kaffee?«

Ich überlegte kurz und wahrscheinlich mit mehr Ernsthaftigkeit, als es diese Frage verlangte. »Ich bin nicht sicher, ob sie dich mit dieser Idee als Genie feiern oder verbannen werden. Vielleicht solltest du lieber ...« Vielleicht kam ich auch noch drei Worte weiter. Aber irgendwo mitten in meinem Vorschlag, erst den anderen Neuen noch auf seine Seite zu ziehen, hörte ich eine Melodie, die nur in Notfällen und wirklich ausschließlich in solchen erklang. »Entschuldige«, unterbrach ich mich selbst. »Mich ruft nie jemand an, es sei denn ...«

Weiter musste ich gar nicht sprechen, da verstand und nickte Nate bereits. »Dann solltest du rangehen.«

Ich zog mein Handy aus der Tasche und sah Ambers Namen auf dem Display. »Hey, was ist los?«, fragte ich, lächelte Nate noch einmal entschuldigend zu und sah dann lieber die Europaletten an, die man vor unserem Sofa zu einer Art Tisch zusammengezimmert hatte. Zu wissen, dass er lauschte, machte mich nervös genug. Da musste ich es nicht auch noch sehen.

»Oh Gott sei Dank, du lebst noch. Ich habe dir zig Nachrichten geschrieben.«

»Ich hab den Ton aus«, erklärte ich. Was auch stimmte. Für Nachrichten. Nicht für Anrufe, die ohnehin nie bei mir eingingen. Es sei denn, es gab einen Grund.

Ich wiederholte meine Frage: »Was ist los?«

»Ich glaube, es ist gerade eine Acht oder eine Neun. Ich würde Zehn sagen, aber man soll ja immer steigerungsfähig bleiben.« Dieser Satz war so offensichtlich einstudiert, dass klar war, wie lange Amber überlegt hatte, ob sie mich wirklich anrufen und was sie mir dann sagen sollte. »Hast du Zeit? Wenn nicht, dann ...«

Nun sah ich doch wieder zu Nate. Eine Acht oder eine Neun. Das klang kritisch. Die altbekannte Schmerzskala hatten Amber und ich vor zwei Wochen auf ihre räumliche Trennung zu Ben umgewidmet. Wobei ... wenn wir ehrlich sind und für einen Moment unseren Stolz vergessen, können wir wohl zugeben, dass auch in dieser Situation sehr wohl von Schmerzen die Rede sein kann. Und bisher hatte Amber sie immer zwischen Drei und maximal Fünf eingestuft. Bei Fünf war schon ein Glas Wodka nötig.

»Was ist los?«, flüsterte Nate mir zu.

»Warte kurz, okay?«, sagte ich ins Telefon, hielt dann den Lautsprecher zu und umriss die Situation. »Amber geht es nicht gut. Ich glaube, sie weint.« Den Verdacht hatte ich tatsächlich. »Ich weiß nicht genau, was passiert ist. Auf jeden Fall geht es um Ben.«

»Das heißt, du musst zu ihr.« Das war keine Frage.

»Ich ... keine Ahnung«, gestand ich. »Ich denke, das wäre das Richtige. Für Amber. Aber ich will dich auch nicht versetzen und jetzt einfach abhauen.« Ich seufzte. Nach dreieinhalb Stunden konnte man wohl kaum von »versetzen« reden. Trotzdem hatte ich ein schlechtes Gewissen. Und wenn ich ehrlich war, wollte ich noch nicht weg.

»Ich dachte, wir hatten Camden Town schon ausgemacht?«

Ich lächelte. Weniger, weil ihm das im Gedächtnis geblieben war, sondern weil er es nun verbindlich machte. »Haben wir.«

»Dann versetzt du mich auch nicht. Außerdem kommt es mir nur zugute, wenn es meiner Mitbewohnerin schnell wieder besser geht.« Er überlegte kurz und zog dafür sogar seine Stirn kraus. »Das klang gerade nicht so, wie ich es meinte.«

»Schon gut«, lachte ich und verbannte den Humor wieder aus meiner Stimme, als ich das Telefon erneut an mein Ohr legte. »So, jetzt kann ich sprechen, tut mir leid. Ich mach mich auf den Weg, okay? Soll ich Wodka mitbringen?«

»Nein«, murmelte Amber und diesmal war ich mir wesentlich sicherer, dass Tränen flossen. »Hab ich hier.« Und nach einer kurzen Pause. »Danke.«

»Unsinn. Bis gleich.« Ich legte auf, sah Nate an und atmete einmal tief durch. »Es tut mir leid.«

Nate schüttelte den Kopf. »Wir müssen ja eh in dieselbe Richtung. Mein Vorschlag ist, dass wir uns einfach noch einen Kaffee für die Fahrt holen und vielleicht ... wie heißen diese Dinger mit der Creme?«

»Scones.« Ich schmunzelte.

»Und Scones. Für den Weg.«

Ich schüttelte den Kopf. »Scones isst man nicht einfach auf dem Weg. Vor allem nicht bei seinem ersten Mal. Das machen wir irgendwann ganz in Ruhe.«

Nach wie vor liebe ich diesen Blick von Nate, wenn ich etwas sage, das für ihn wie eine Einladung zu etwas ganz anderem klingt. Diese fast unmerklich geweiteten Augen und die Art, wie sich seine Lippen nach innen wendeten, als müssten sie Zähne und Zunge danach befragen, ob die Antwort, die sich aufdrängte, nun angebracht wäre oder nicht. »In Ordnung«, war, was er sich entschloss zu antworten. »Dann Muffins. Die sind genau richtig für unterwegs. Ich weiß das, wir kommen aus demselben Land.«

»Abgemacht.« Wie hätte ich da auch widersprechen können?

»Und ich überlege, ob ich diesem Klischee mit dem Tee eine Chance geben soll«, meinte er und beäugte meine leere Tasse mit der Skepsis eines Nicht-Engländers. »Ein fünfter Kaffee sprengt vermutlich meinen Blutdruck.«

Ich bin mir heute sehr sicher – und ich war es auch bereits an diesem Tag – dass das keine Vorlage war, die Nate vorsätzlich lieferte. Kein subtiler Hinweis auf die standesgemäße Nervosität, wenn ein Date zu Ende ging. Es war regelrecht fadenscheinig, seine Worte zu einer Brücke zu spinnen, doch die Möglichkeit war da, und ich hatte für den Moment den Mut und vor allem den Wunsch, sie zu nutzen. Also tat ich es einfach. »Ich glaube, die Sache mit dem Blutdruck könnte man im Vorfeld lösen.«

Nate sah mich also zurecht fragend an. »So?«

Ich gab mir keine Mühe, eine Metapher zu weben, die sich am Ende doch nur als Galgenstrick für meine Entschlossenheit entpuppt hätte. Stattdessen lehnte ich mich ihm entgegen, und er schien auf einmal viel weiter weg als die ganzen letzten Stunden über. Es dauerte schier ewig, bis meine Lippen seine erreichten – warm und weich und einen winzigen Moment lang spürbar überrumpelt, ehe sie den Kuss erwiderten.

Ich weiß, dass erste Küsse normalerweise eher kurz sind. Aber ich ließ mich nicht gleich nach der ersten schüchternen Berührung wieder auf meinen Platz fallen. Wer wusste schon, ob ich noch mal so viel Courage aufbringen würde, diese Entfernung zu überwinden. Außerdem mochte ich das Gefühl, das sich einstellte, als sich Nates Hand an meine Wange legte, wie er seine Nasenspitze kurz über meine streichen ließ, ehe sich seine Lippen den Kuss zurückholten. Ich wäre doch bescheuert gewesen, das abzukürzen, nur weil man das üblicherweise so machte.

Als ich mich doch wieder etwas von ihm löste – nicht ganz und gar, jedoch weit genug, um Nate ansehen zu können – entschädigte sein Blick für diese Entbehrung. Es war, als hätte ich den Startknopf dafür gedrückt, dass er mich nun so ansehen konnte, wie er es die ganze Zeit gewollt hatte. Und während er das tat, lachte er. »Keine Ahnung, was du bisher für Resonanzen bekommen hast. Das hilft eindeutig nicht gegen zu hohen Blutdruck.«

Ich grinste und wusste, dass ich damit wohl eine Weile nicht aufhören würde. Und soll ich etwas verraten? Mir war herrlich egal, ob das albern war oder kitschig. Meine dumme, wacklige Brücke hatte gehalten und ich war unversehrt. Sogar besser als das.

Allerdings ließ dieser Adrenalinrausch genau das zurück, was er bei mir immer zurücklässt, sobald er sich ein klein wenig zurückzieht. Worte. Viele, viele Worte. »Das ist nur dein kurzfristiger Eindruck. Langfristig gesehen habe ich uns gerade eine lange Busfahrt voller Unklarheiten über die Absichten des anderen erspart. Ganz zu schweigen von dem klischeehaften Moment, in dem wir dann vor der Wohnung angekommen wären und beide da rein müssen. Das ist ja noch viel unangenehmer als bei normalen Verabredungen. Dann läuft man sich den ganzen Abend mit ungeklärten Verhältnissen über den Weg und ... Meine Güte, unterbrich mich doch bitte endlich.«

Das tat er auf genau die Art, die ich mir schon drei Sätze früher gewünscht hätte. Diesmal hielt der Kuss nicht so lange. Der Blick danach war ebenfalls anders. Unsicherer und fragend. »Um noch mal auf die Sache mit den Klischees zurückzukommen ... Heißt das jetzt, dass es okay ist, wenn ich unsere ganzen Getränke bezahle? Und die Muffins?«

Ich grinste, weil es unmöglich anders ging. Und ich überlegte auch nicht, ehe ich antwortete. Das ist einfach keine Art von Frage, über die man allzu lange nachdenken sollte. »Das ist absolut okay, ja.«

Und so funktioniert es, den Beziehungsstatus mit einem anderen Menschen zu klären, ohne auch nur ein Mal in Verlegenheit zu geraten oder irgendwelchen schwülstigen Unsinn von sich zu geben. Bis zu diesem Tag hatte ich Klischees wirklich unterschätzt, muss ich gestehen. Aber ich war – und bin nach wie vor – ungeheuer dankbar für ihre Existenz und dafür, dass sie offenbar internationale Gültigkeit besitzen. Die Art, wie Nate mich völlig unverblümt anstrahlte, hieß für mich jedenfalls, dass meine Antwort für ihn die gleiche war, wie für mich.

Für den Rückweg holte er sich dennoch nur einen Tee, nachdem er sich bei mir rückversichert hatte, dass wenigstens dieser unterwegs getrunken werden durfte. Er zahlte für den ganzen Kaffee, Tee und die zwei Schokoladenmuffins. Und er rollte belustigt mit den Augen, als ich für Amber auch noch einmal ihren Liebling – Billionaire’s Shortbread – und einen kleinen Pumpkin Pie einpacken ließ und selbst dafür aufkam. Sagen wir, für die Reinheit von Klischees braucht es nun einmal klare Grenzen.

Und vermutlich auch für widerlichen Frohsinn, der sich nun einmal einstellt, wenn Dopamin allmählich das Adrenalin aus dem Blut wäscht und einen völlig blind macht für alles, außer einen Nate aus Arkansas, der an seinem Tee nippt. Und feststellt, dass ihm Tee viel besser schmeckt, als er dachte. Richtig schlimm wird es, wenn er einem dabei ein Lächeln schenkt, das einen glauben lässt, dass er nicht nur von Tee spricht, sondern vielleicht auch von allem anderen, was London ihm in den vergangenen Tagen zugeworfen hat. Wie eben beispielsweise Menschen mit Manieren und einem schöneren Akzent, guten und schlechten Kaffee, einen kaputten Biorhythmus und eine skurrile Rothaarige, die sich wirklich gern auf diesen albern glückseligen Taumel mit ihm einließ. Und dennoch reichte ein rot erleuchtetes »U«, um sie dort wieder rauszureißen.

Ich merkte, wie mein Lächeln, mein Blick, mein gesamtes Hochgefühl erst wackelte und dann abriss wie ein alter Film in seiner Spule. Und zurück blieb eben das, was jenseits von diesem kitschigen Zauber Realität war.

Ich hatte gar nicht richtig darauf geachtet, wohin wir gingen. Meine und Nates Richtungen waren ohnehin dieselben gewesen. So lange, bis er etwas nach links ausscherte und ich stehen blieb. Vermutlich hätte ich weiterlaufen können, hätte ich mich gezwungen. Aber ich war unvorbereitet, war aus diesem verliebten Rausch hinausgefallen und auf dem Kopfsteinpflaster aufgeschlagen, das auf die Paddington Station zulief. Wo unendlich viele Menschen waren. Und Treppen, die unter die Erde führten, wo noch mehr Menschen waren. Unzählige, die darauf warteten, in eine Blechröhre zu steigen, und die davon ausgingen, sie irgendwann wieder heil zu verlassen.

Ich hätte mich ihnen anschließen können. Ich wusste das. Jahrelang hatte ich nicht einmal darüber nachgedacht, und Denken war im Prinzip alles, was nun anders war. Daran, wie einfach es wäre, viele Leben, die sich so naiv auf einen Haufen drängten, einfach zu beenden. Es war sogar noch viel simpler, als es drei Wochen vorher bei dem Konzert gewesen war. Keine Sicherheitsschleusen, die man umgehen musste. Nur ein paar Pfund für ein Fahrticket.

Rückblickend hätte sich hier die Gelegenheit geboten, Nate davon zu erzählen. Dass meine Füße sich wie Blei anfühlten und mein Herz genau das absolvierte, was er von einem fünften Kaffee befürchtet hatte. Und das nicht auf die gute Weise, wie ein Kuss das vollbrachte.

Ich war feige. Das kann ich ganz offen sagen, weil es genau so war, und weil es – denke ich – auch nachvollziehbar ist. Nate hatte gerade erst damit angefangen, mich mit diesem Blick anzusehen, unter dem ich mich wahnsinnig gut fühlte. Ich wollte nicht, dass das von Mitleid oder gar Zweifeln zerschlagen wurde. Ganz abgesehen davon konnte ich es selbst nicht leiden, wie wenig ich mich zu dieser Zeit im Griff hatte. Es fiel mir schwer, bei anderen Menschen von mehr Verständnis auszugehen, als ich selbst mit mir hatte.

Also machte ich es mir leicht und zog den Joker der Ortskenntnis – in der Hoffnung, dass er sich nicht zu genau erkundigt hatte. »Nate?« Hörte er das kleine Wanken in meiner Stimme? Falls ja, hielt er diese Entdeckung aus dem fragenden Blick raus, mit dem er mich bedachte, als ich stehen blieb. »Zum Bus geht es hier rechts lang«, sagte ich nach dem guten, alten Selbstverständlichkeitsprinzip.

Und Nate tat mir den Gefallen und fiel darauf herein. »Ist das schneller? Ich bin vorhin einfach mit der U-Bahn gefahren.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Nimmt sich vermutlich nicht viel. Nur, dass wir bei der Bahn umsteigen müssen. Es gibt ein heilloses Gedränge, und wir laufen noch ein gutes Stück zu eurer Wohnung. Der Bus fährt direkt durch und wir haben Ruhe für die Muffins.«

Er schmunzelte und was auch immer er in meine Worte hineininterpretierte, es war mir nur recht. Denn das Ergebnis war, dass er mir seinen Arm anbot und wir den Weg zu den Bussen einschlugen. Meine Füße bewegten sich wieder, mir war nicht mehr heiß, und mein Herz war vielleicht nicht die Ruhe selbst. Meine Aufregung fühlte sich aber wieder gut an und nicht nach Angst.

Um bei der Wahrheit zu bleiben: Die Entscheidung für den Bus hat uns an diesem Abend vermutlich fast eine halbe Stunde gekostet – eine schöne, zusätzliche halbe Stunde. Ich denke, meine liebste Erinnerung daraus ist das Bild, wie Nate mich unverwandt angrinste, weil ich irgendetwas gesagt hatte, an das ich mich nicht einmal mehr erinnere. Und ich war endlich diesem unnachgiebigen Impuls gefolgt, meine Hand nach ihm auszustrecken und mit meinen Fingerspitzen durch seine Haare zu fahren, die sich noch viel störrischer anfühlten als sie aussahen. Wenn ich gewusst hätte, dass seine Reaktion auf diese Geste ein strahlendes Lächeln und ein Kuss waren, hätte ich mich das schon viel eher getraut. Man lernt ja aus seinen Fehlern, nicht wahr?

Als wir unser Ziel erreichten, war es schon fast sieben Uhr am Abend. Ich hielt die Box mit den Mitbringseln für Amber in meinen Händen und war angesichts dieser Wohnungstür mit einem Mal wieder viel nervöser als noch kurz zuvor im Bus. Als würde ich nach Betreten der Wohnung mit in Nates Bett kommen und mich nicht schnurstracks zu Ambers begeben. Und vielleicht war ja auch genau das der Grund.

»Nate, warte kurz«, flüsterte ich, als er gerade dazu ansetzte, den richtigen Schlüssel in seinem Bund zu suchen.

Tatsächlich hielt er in seiner Bewegung inne und als ich nicht sofort weitersprach, sondern noch immer meine Gedanken zu einem Ende brachte, zog sich ein vorsichtiges Schmunzeln über seine Lippen. »Worauf?«, hakte er nach und beugte sich mir mit dieser Frage ein wenig entgegen, als würde ich ihm nun ein Geheimnis anvertrauen. Dabei war es so nicht ganz richtig. Vielmehr machte ich ihn zu einem. Wenigstens hatte ich das vor – fürs Erste.

Dass er sich ein Stück zu mir hinabgebeugt hatte, kam mir nur gelegen. Es war so viel leichter, meine freie Hand in seinen Nacken zu legen und ihn zu mir zu ziehen, bis ich ihn küssen konnte. Oder er mich. Das war sehr schnell ziemlich unklar. Viel deutlicher war Nates Hand, die sich über meine Taille und an meinen Rücken schob und mich näher zu ihm zog. Wir mussten einen oder zwei Schritte in Richtung Tür getaumelt sein, weil meine Schulterblätter sich gegen ihr Holz drückten. Dann tat ich den Fehler, vorsichtig auf Nates Unterlippe zu beißen, was ihm ein leises Raunen entlockte, ehe er einen Schritt zurücktrat und mich musternd ansah. »Ich bin ehrlich unsicher, ob das gerade ein Abschied oder eine Einladung sein soll«, sagte er geradeheraus.

Und ich gluckste, weil er wirklich klang, als wolle er das unbedingt klären und nicht nur eine Bemerkung zwischen uns fallen lassen. »Eigentlich ein Abschied«, gestand ich. »Ist etwas aus dem Ruder gelaufen.«

Nate lächelte. Es wirkte, als wäre er unsicher, ob dieses Lächeln die richtige Reaktion auf meine Worte war. Also befand ich es nur für fair, mich zu erklären.

»Ich weiß noch nicht, was bei Amber passiert ist. Da möchte ich ihr jetzt nicht noch eins reinwürgen. Das ist einfach ...« Ich seufzte und sah Nate entschuldigend an. »Schlechtes Timing.«

Gott sei Dank klarte sich sein Blick direkt auf, ehe seine Lippen noch einmal kurz auf meine trafen und er damit diesen Quasi-Abschied besiegelte. »Dann solltest du noch etwas damit machen ...« Mit seiner freien Hand deutete er auf mein Gesicht. Er hatte absolut recht. Also ließ ich prompt dieses verliebte Grinsen fallen. Ich würde es später wieder aufsetzen können, wenn es angemessener wäre.

»Beeindruckend«, kommentierte Nate. »Du wirst mir bei Gelegenheit zeigen müssen, wie man das macht.« Während er noch darüber den Kopf schüttelte, dass ich meine Mimik deutlich besser unter Kontrolle hatte als er seine, schloss er die Tür auf und ließ mich zuerst eintreten.

»Das kann ich dir nicht einfach bei Gelegenheit zeigen«, stellte ich klar. »Das sind mittlerweile fast acht Jahre Arbeit mit Menschen. Wer da nicht sein Lächeln an- und abstellen kann, ist verloren.«

Die Schachtel mit dem Gebäck stellte ich auf die Kommode und knöpfte meinen Mantel auf. Das war im Prinzip auch alles, was in dieser einen Minute passierte, in der es Nate und mir gelang, diese neue, aufkeimende Sache zwischen uns geheim zu halten.

Nate half mir aus dem Mantel, als ich im Augenwinkel jemanden über den Flur huschen sah. Daraus machte ich mir nichts, bis eben diese Gestalt sehr langsam und rückwärts wieder aus dem Zimmer zurückkehrte, in die sie eben gegangen war. Mitten im Flur blieb Logan stehen und inspizierte das Bild von mir, die neben der Kommode stand und sich ihrer Schuhe entledigte und wohl vor allem Nate, der meinen Mantel an die Garderobe hängte.

Ich musste nur seine erhobenen Augenbrauen sehen und sein »So so.« hören, um mir keine Illusionen mehr zu machen. »Halt einfach deine Klappe«, bat ich Logan.

Dieses ungeheuer breite Grinsen deutete zuerst nicht darauf hin, dass er sich auf meine Aufforderung einlassen würde. Doch dann nickte er, sah kurz zu seinem neuen Mitbewohner und dann wieder zu mir, ehe er selbstgefällig die Arme vor der Brust verschränkte und dieses Bild so richtig zu genießen schien. »Amber zuliebe bin ich für den Moment einfach nur froh, dass du da bist«, räumte er ein. »Meine große Stunde schlägt, sobald die sich wieder gefangen hat ...«

»Das klingt fair«, gab ich schulterzuckend zurück und versuchte mich in auffallend viel Gleichgültigkeit dem gegenüber, was Logan vermutlich längst ausbrütete.

»All die Jahre«, lachte er und kehrte nun in sein Zimmer zurück. »Endlich ist es so weit. Meine große Stunde.« Und dann schloss sich seine Tür.

»Tut mir leid«, wandte ich mich an Nate, der daraufhin nur mit den Schultern zuckte.

»Für mich sieht das ganz danach aus, dass du mehr darunter zu leiden haben wirst als ich.« Ich glaube, das war das erste gehässige Grinsen, das ich von ihm zu Gesicht bekam. Über diese neue Seite von Nate aus Arkansas war ich gleichermaßen entrüstet wie entzückt. Und auch ein bisschen überrumpelt.

»Das sehen wir noch«, war die einzige und ungeheuer lahme Antwort, die mir dazu einfiel, und sein Glucksen, das ich hinter mir hörte, als ich zu Ambers Zimmer lief, war mehr als gerechtfertigt.

Entrüstung und Entzücken und auch Überrumpelung fielen sofort von mir ab, als ich leise die Tür hinter mir schloss und mich zu ihr aufs Bett setzte. Sie saß nur dort und starrte ihr Handy nieder. Ohne Tränen, doch das hieß nicht, dass nicht welche dagewesen waren.

»Traurig oder sauer?«, hakte ich nach und rutschte zu ihr ans Kopfende des Bettes.

»Noch unentschlossen«, murmelte sie, schenkte ihrem Handy noch ein Schnaufen und legte es dann beiseite. »Um zwei wollte er anrufen. So hatten wir es abgemacht. Wir telefonieren Sonntag und machen vorher eine Uhrzeit aus. Zwei Uhr war es heute. Ich dachte erst an Zeitverschiebung, aber das ist nur eine Stunde und nicht fünf! Abgesehen davon, dass es bei ihm viel eher zwei Uhr ist als bei mir, also reden wir schon von acht Stunden oder neun und das ist im Prinzip ein ganzer Tag. Ein ganzer Tag, den er sich in Spanien rumtreibt und irgendwelchen heißblütigen Südeuropäerinnen hinterhergafft. Wenn nicht mehr. Ach, was red ich. Natürlich mehr! Gaffen dauert nicht neun Stunden!«

»Sex auch nicht«, gab ich zu bedenken. Eine ziemlich dumme Bemerkung, wie sich direkt zeigte.

»Gut, also schafft man es in neun Stunden beliebig oft. Super, jetzt fängt mein Kopf gleich an zu rechnen, wie oft.«

»Auf gar keinen Fall wird er das. Gib mir dein Handy!«

»Was? Nein! Ich hab schon versucht, ihn anzurufen. Und ihm geschrieben, du musst nicht noch ...«

»Schon klar«, erwiderte ich. »Aber du bist eine Null im Kopfrechnen. Ohne Handy also kein Ergebnis für deine Paranoia.«

Amber lachte, wenn auch leicht gequält. Im Zuge ihrer Kapitulation beugte sie sich zu ihrem Nachttisch und drückte mir kurz darauf das Handy in die Hand. »Meinetwegen. Trotzdem ändert das nichts ...«

Ein Klopfen unterbrach sie, und sie antwortete ihm genau so, wie ich es erwartete. »Was ist?« Das war mehr ein Angriff als eine Frage.

Dennoch wurde die Tür todesmutig geöffnet und ich sah, dass es Nate war, der sich in dieser Situation und auch noch als Mann in Ambers Zimmer traute. Einmal mehr wurde mir bewusst, wie neu er hier war, und wie viel ich ihm noch zu seinen Mitbewohnern beibringen musste. »Du hast was vergessen«, meinte er an mich gewandt und hielt die weiße Pappschachtel in die Höhe, die ich auf der Kommode hatte liegen lassen.

»Scheiße, ja! Danke dir!« Das war etwas überschwänglicher als nötig. Gott sei Dank war Amber ohnehin zu sehr mit ihrer Grübelei beschäftigt, um das zu bemerken.

»Und ...« In der zweiten Hand hielt Nate noch eine Wodkaflasche. »Logan meinte, das könnte helfen.« Dass Logan sehr daran gelegen war, Amber wieder bei Laune zu sehen, konnte ich mir schon denken.

Nate kam nah genug ans Bett heran, um mir beides – Schachtel und Wodka – in die Hände zu drücken und noch ein motivierendes Lächeln obendrauf zu packen. »Danke«, wiederholte ich und gab mir Mühe, diesmal besonnener zu klingen.

Er nickte nur. »Sagt Bescheid, wenn ihr noch was braucht.« Und genauso schnell, wie er gekommen war, zog er sich aus dem Krisengebiet auch zurück.

Ich reichte Amber die Pappschachtel und sie seufzte gerührt über den Billionaire's-Shortbread-Riegel. »Und genau deshalb bist du meine beste Freundin«, verkündete sie und ich war mir in diesem Moment ziemlich sicher, dass ich diese Worte nie wieder hören würde, ohne an Nate und sein belustigtes Grinsen zu denken.

Es verging eine knappe Stunde, in der Amber Pie und Shortbread verputzte und ich ihr assistierte, indem ich ihr regelmäßig die Wodkaflasche entgegenhielt. Sie weinte nicht noch mal, aber ich glaube, sie hätte eine ganze Abhandlung über die lasterhafte Seite Barcelonas bewerkstelligt, hätte nicht schließlich ihr Telefon einen Laut von sich gegeben. Eine Nachricht. Von Benjamin.

»Eine Mail«, stellte sie stirnrunzelnd fest. »Wir schreiben uns keine Mails.«

Da das in meinen Augen völlig irrelevant war, stellte ich eine wesentlichere Frage: »Soll ich kurz rausgehen?«

Ambers Antwort war nur ein Kopfschütteln. Sie las bereits. Und dass sie so lange damit beschäftigt war, ohne eine Miene zu verziehen, bereitete mir ernsthafte Sorgen. Kurzerhand hielt ich ihr die Wodkaflasche entgegen, als ihre Augenbrauen sich zusammenzogen. Amber winkte nur ab und las weiter.

Auf Zwischenfragen verzichtete ich, bis sie aufsah und mir ihr Handy entgegenhielt, ohne dass ich sie dazu auffordern musste. »Lies das und sag mir, ob ich lachen oder den Typen zu Kleinholz verarbeiten soll.«

Ich für meinen Teil musste nicht lange überlegen. Ich lachte schon nach den ersten zwei Absätzen. Die Sache war die: Ben war ein Idiot. Ein vertrauensvoller, naiver Idiot, der sich in einem Restaurant anquatschen ließ und erst bei der Rechnung bemerkte, dass sein Rucksack verschwunden war. Geldbörse. Handy. Zwei Bücher für die Uni. Lediglich seinen Schlüssel hatte er wohl in der Jackentasche gehabt. Was folgte, war ein riesiges Theater mit dem Kellner, was ihm immerhin ersparte, selbst nach einem Polizeirevier zu suchen. Die Beamten waren so freundlich, direkt vor Ort dazuzustoßen. Und in all dem Hin und Her war unserem einfältigen Weltreisenden eben erst abends in seinem Apartment eingefallen, den Laptop hochzufahren und seiner Freundin in Weit-weit-weg ein Lebenszeichen zukommen zu lassen.

»Wie kann man so bescheuert sein?«, fluchte Amber lautstark. Ich ahnte, dass damit viel Sorge verpuffte und sie einfach ein Ventil brauchte. »In den letzten zwei Jahren hat er schon zwei Mal sein Handy und ein Mal sein Portemonnaie verloren. Nur waren da Logan und ich bei ihm. Oder du. In Spanien hat er niemanden von uns, und er schafft es nicht mal zwei Wochen ... Dieser Idiot! Und ich male mir hier aus, wie er sich durch einen Haufen Betten vögelt. Scheiße noch mal!«

Ich kicherte und gönnte mir anlässlich dieser herzerfrischenden Erleichterung selbst einen Schluck aus der Wodkaflasche. Er war billig und schmeckte nicht, was sich erst mit dem zweiten Schluck etwas besserte. »Sieh es positiv: Nach dem Jahr wird er sehr viel Lehrgeld investiert haben, nur um am Schluss zu wissen, dass er ohne dich überhaupt nicht klarkommt.«

»Ha!«, stieß Amber aus, setzte sich aufrecht hin und wischte auf ihrem Handy herum. »Du sagst es. Und genau das schreib ich diesem Holzkopf jetzt.«

»Liebe Grüße!«, gluckste ich, und dann fiel mir etwas ein. »Amber?«

»Mh?« Verständlicherweise sah sie nicht einmal auf.

»Kann ich dich um einen Gefallen bitten?«

Erst jetzt unterbrach sie ihre schriftliche Ansage an Ben und sah mich fast schon erschrocken an. Das war etwas, das vor drei Wochen angefangen hatte und von dem ich hoffte, dass es sich irgendwann einfach von selbst einstellen würde. »Kannst du gegenüber Logan noch ein bisschen für dich behalten, dass alles wieder okay ist?«

Amber horchte auf. Allein, wie ihre Augen sich weiteten, und sie ihre Brauen in die Höhe zog, waren ein klares Anzeichen dafür. Und ich konnte nicht einmal behaupten, dass diese Reaktion mich verwunderte. Geheimnisse vor Logan waren Ambers Spezialität. »Und warum soll ich das für mich behalten?« Ihre Frage war frei von Misstrauen und dafür voller Sensationslust.

Und damit hatte Nate es gerade einmal für eineinhalb Stunden geschafft, mein kleines Geheimnis zu bleiben.