Ich behaupte, dass jeder Mensch auf seinem Handy Nachrichten hat, die er niemals löschen wird. Das können völlig nebensächliche Kleinigkeiten sein, von denen zu trennen sich falsch anfühlen würde.
Genau so geht es mir mit den Texten, die etwa vier Tage nach der Begrüßungsparty in der WG bei mir eingingen. Da ich sie wie gesagt nach wie vor gespeichert habe, kann ich sie wortgetreu in meine Aufzeichnungen übertragen. Auf keinen Fall darf Nate jene Glanzleistung der digitalen Kommunikation vergessen:
»Hey Liz! Heute, 18 Uhr? Die Gang, du und ich? Im Safran? Und dann bringe ich dich heim. – N.
Herzchen. Herzchen. Zwinkersmiley. Kusssmiley. Hund. Aubergine. Tropfen.«
Vollendet wurde diese unmissverständliche Einladung durch die Nachrichten, die ihr eine halbe Stunde später folgten:
»Ignorier den letzten Text! Der stammt nicht von mir, sondern von Logan.«
»Wobei, nein. Alles musst du nicht ignorieren. 18 Uhr bei diesem Inder ist durchaus ernst gemeint. Du sollst den wohl kennen. Der Rest ist hinfällig.«
»Natürlich nicht hinfällig. Ich hoffe, das ist dir klar. Nur albern.«
»Also diese Bilder. Die sind albern. Nicht der Inhalt. Auf den komme ich gern zurück.«
»Was nicht heißen soll, dass ich das voraussetze.«
»Ach Scheiße ... Liz, meld dich bitte einfach, wenn du das liest. Ehe ich mich hier um Kopf und Kragen rede ...«
Ich war augenblicklich begeistert gewesen, als ich diesen Versuch der Deeskalation auf meinem Handy fand. Ich nehme an, diese einleitende Nachricht war Logans erste Amtshandlung, nachdem er von Nate und mir erfahren hatte. Amber behauptete steif und fest, dicht gehalten zu haben, nur war sie über die Sache zwischen Nate und mir zu aufgeregt gewesen, um sich nichts anmerken zu lassen. Und Logan war kein Idiot.
Ganz wie die Emojis aus seiner kleinen Missetat es geweissagt hatten, verbrachte Nate nach dem Besuch im Restaurant die Nacht bei mir. Unsere erste. Jene, die man sich gern in schillerndsten Farben der Utopie ausmalt, oder wenigstens darauf hofft, dass sie schön und kein totaler Reinfall wird.
Ich wollte das wirklich. Dass es schön wird. Denn schön hatte es durchaus angefangen. Doch als ich nackt unter Nates Körper lag, der sich auf und in mir bewegte, suchte ich mühsam und vergeblich nach dem leisen Kribbeln, das seine Nachrichten in mir ausgelöst hatten, dem verknallten Schmunzeln und dem Wunsch nach mehr davon.
Ich wollte genießen, worauf ich mich den ganzen Abend gefreut hatte, suchte nach dem Gefühl der Verliebtheit, fand aber nichts außer den Druck, der sich klammerartig um meinen Brustkorb schloss, und mir die Luft abschnürte. All die schönen Empfindungen dieses Nachmittages und Abends waren so unfassbar weit weg. Ich kam einfach nicht mehr an sie heran. »Es ist Nate«, war alles, woran sich meine Gedanken mühsam festklammern konnten. Wie ein rudimentärer Rest dessen, was mich hierhergebracht hatte. Unter diesen Körper, der auf einmal so warm war. Und so schwer.
Es ist Nate.
Ich versuchte, den Gedanken festzuhalten, indem ich meine Finger in sein Haar grub und meine Lippen an seinen Hals drückte. Ich atmete seinen Geruch ein, um mich daran zu erinnern, dass alles in Ordnung war. Alles war genau richtig, und ich war da, wo ich sein wollte. Und nirgendwo anders. Nicht dort.
Ich schloss meine Augen und versuchte, an sein Grinsen zu denken, als wir Logan seinen kleinen Streich mit der Nachricht heimgezahlt hatten. An seine dezenten Berührungen bei dem Essen – an seinen Kuss auf meiner Schläfe, seine Hand auf meinem Oberschenkel oder die sanfte Berührung seiner Fingerspitzen an meinem Rücken. Und an den Blick, den ich immer wieder aufgefangen hatte, sobald ich mich zu ihm umwandte.
Es ist Nate.
Den ganzen Abend über hatte ich nicht erwarten können, endlich hier zu sein. In meinem Bett. Mit ihm. Ich hatte die leise Aufregung genauso genossen wie jede seiner liebevollen und manchmal viel zu vorsichtigen Gesten. Wir hatten uns unendlich viel Zeit genommen, um uns zu entdecken.
Und jetzt hörte es einfach nicht auf.
Sein Körper erdrückte meinen und drängte sich immer und immer wieder in ihn hinein. Und ich lag reglos da und wartete, dass es ein Ende fand, ehe mir die Luft ausging. Mit jedem Stoß, jeder Bewegung wurde mein Brustkorb kleiner, sank ich ein Stück tiefer in die Matratze. Ich würde darin untergehen, in den Kissen ertrinken.
Es ist Nate.
Nur fühlte sich nichts mehr wie Nate an. Nichts fühlte sich gut an. Schon seit einigen Minuten nicht mehr, die sich zu Ewigkeiten ausdehnten und einfach nicht enden wollten.
Nate.
Ich wollte seinen Namen sagen. Doch aus meiner Kehle kam nicht mehr als ein heiseres Keuchen. Und er verstand es nicht richtig. Verstand nicht, dass er mir helfen musste, hier raus zu kommen. Dorthin, wo ich wieder Luft bekam. Sein Gewicht presste mich noch tiefer in die Matratze und das Knarren des Bettes dröhnte in meinen Ohren. Seine Arme hielten mich noch fester. Die Hitze, die er ausstrahlte, trieb mich immer tiefer in die Atemlosigkeit und ließ meinem Herz keinen Platz mehr. Es versuchte, meinen Brustkorb zu sprengen, weil es erdrückt wurde. Weil zu viel Blut da war, zu wenig Platz, zu ...
Hör auf.
Mein Kopf schrie die Worte, doch nur Tränen und ein weiteres Keuchen schafften den Weg nach draußen. Als wäre der Weg versperrt. Die Türen waren zu. Irgendetwas hatte sie verschlossen, und jetzt kam nichts mehr hinaus. Und nichts mehr hinein, außer der Druck eines anderen Körpers.
Das war der Moment, in dem die Panik lauter wurde als alles andere. Diese Sache war mittlerweile fast vier Wochen her, und trotzdem holte ihr Echo mich noch immer in einer Lautstärke ein, die alles andere unter sich begrub wie eine Lawine. Da war kein Nate mehr. Seine Hände wurden zu denen Fremder. Sein warmer Atem wurde zu Blut eines Toten. Das Knarren des Bettes zu Schüssen.
»Hör auf.«
Ich hörte mich selbst kaum, und nie im Leben hätte ich noch einmal tief genug einatmen können, um mehr zu sagen als das. Nate verstand mich trotzdem, und er hörte auf. Doch er blieb, wo er war, und ich wusste, dass er mich ansah, spürte seine Hand an meinem Gesicht und immer noch seine Haut, überall an meiner.
Er muss meine Tränen gesehen haben. Denn als ich meine Hand gegen seine Brust stemmte, um ihn von mir zu schieben, rollte er sich längst von mir herunter. Ganz leicht, als hätte dieser Körper gerade nicht jeden Lufthauch aus meinen Lungen gequetscht.
Ich weiß wirklich nicht mehr, was Nate in diesem Moment sagte oder tat. Sobald ich mich von ihm befreit hatte, ließ meine Wahrnehmung nichts mehr zu, außer den Tunnel, der mich aus diesem verfluchten Bett und nach draußen führte.
Ich flüchtete vor dieser Matratze und aus dem Zimmer, bis ich in meiner Küche stand, das Fenster aufriss und panisch die Luft einsog, die in den Raum strömte. Und mit der Luft kam auch alles andere langsam zurück. Alles, was ich in den letzten Minuten so verzweifelt gesucht hatte. Das Bild von Nates triumphierendem Grinsen, als Logan seine Niederlage eingesehen hatte. Das Echo meines Bauchkribbelns, als er mir im Restaurant den Mantel abgenommen und für mich weggebracht hatte. Die viel lautere Version dieses Gefühls, als seine Finger nach und nach jeden Knopf meiner Bluse geöffnet hatten. Seine Küsse, die sich nicht mehr nur auf meinen Mund beschränkt hatten.
»Scheiße«, stieß ich aus, meine zitternde Hand noch immer am Fenstergriff. Meine Beine fühlten sich taub an, als ich sie zwang, mich die zwei Meter zum Wäschetrockner zu tragen, aus dem ich ein großes Handtuch zog und um meinen nackten Körper schlang.
Ich wischte mir mit einer fahrigen Bewegung die Tränen von den Wangen und versuchte zu lauschen. Nach Geräuschen aus meinem Wohn- und Schlafzimmer. Nach Nate. Doch das Rauschen in meinem Kopf und in meinen Adern war einfach zu laut. Es applaudierte der kühlen Luft und der erfolgreichen Flucht aus der bedrohlichen Enge eines anderen Körpers.
Dabei war nichts an diesem Körper bedrohlich gewesen. Nichts an ihm hatte mir anderes bereiten wollen als Vergnügen.
Es ist Nate.
»Scheiße!« Das war eine Wiederholung, allerdings hätte ich das Wort in dieser Situation beliebig oft von mir geben können, es hätte den Umfang dieses Desasters doch nicht eingefangen. Und es spielte auch keine Rolle, wie oft ich fluchte oder wie farbenfroh. Ich war geflüchtet und nun stand ich in meiner Küche. Ab hier gab es keinen Plan mehr. Atmen. Das war das Ziel gewesen. Nur, was tut man, wenn man wieder atmen kann und dann sieht, was man dafür alles kurz und klein gehauen hat? Stimmung, eine eigentlich schöne Situation, einen definitiv sehr schönen Abend. Vielleicht mehr als das. Und alles nur, weil ich nicht damit gerechnet hatte, dass mir das passieren würde.
Ich spielte mit dem Gedanken, zurückzugehen.
Und dann?
»Okay, geht wieder, lass uns weitermachen?«
Ich hätte Nate verstanden, wenn er mir einen Vogel gezeigt und das Weite gesucht hätte. Es wäre sogar leichter gewesen, wenn ich ehrlich war. Jemandem, der vor einem wegläuft, ist man keine Erklärungen schuldig. Ich wollte nicht, dass Nate ging. Gleichermaßen hatte ich Angst davor, dass er blieb und ich ihm alles erklären musste.
»Scheiße«, fluchte ich nun schon das dritte Mal, und wie zu erwarten war, brachte es rein gar nichts. Ich stand immer noch am offenen Fenster, war immer noch weggelaufen und immer noch hatte ich keine Ahnung, was ich machen sollte. Nur, dass ich mittlerweile sogar ein bisschen fror.
Ich überlegte gerade, ob der Wodka im Tiefkühler eine gute Idee wäre, als ich das Knarren hörte, das eben noch ohrenbetäubend gewesen war. Jetzt war es nicht mehr als ein leises, fast schüchternes Geräusch, dem vorsichtige Schritte folgten. Barfuß, stellte ich fest. Barfuß verlässt man eine Wohnung nicht und geht.
Es war vermutlich vollkommen unlogisch, dass dieser Gedanke mir Angst machte. Denn hätte ich besohlte Schritte gehört, wäre ich in kopflose Panik ausgebrochen.
Meine Nervosität verschwand nicht, als Nate im Türrahmen auftauchte und mich ansah. Aber sie wurde etwas wärmer. »Da bist du«, sagte er, als gäbe es in meiner winzigen Wohnung unendlich viele Möglichkeiten, wo ich mich hätte verstecken können.
Ich lächelte ihm entschuldigend zu, was ihm Antwort genug war, um über die Schwelle zu treten und zu mir zum Küchentisch zu kommen, gegen den ich mich gelehnt hatte. Er tat es mir gleich, hielt jedoch genug Abstand, um mich nicht versehentlich, geschweige denn absichtlich mit seiner Schulter zu berühren – über die der Stoff eines T-Shirts spannte. Das und seine Shorts hatte er sich wieder angezogen und hielt mir das Hemd hin, das er am Abend getragen hatte. »Ich dachte ...«, hob er an und deutete auf mich. »Wusste nicht, dass du hier Handtücher ... ach, egal.«
»Danke.« Ich nahm das Hemd vorsichtig entgegen und bemerkte, wie Nate daraufhin auf die gegenüberliegende Küchenanrichte starrte. Es sah aus, als studierte er akribisch die darauf stehenden Öle und Gewürze, während ich in sein Hemd schlüpfte. Er sah mich nicht ein einziges Mal an, obwohl ich das Handtuch erst fallen ließ und über einen Stuhl warf, als ich das Hemd vollständig zugeknöpft hatte. Es reichte mir fast bis zu den Knien und hüllte mich in weichen Stoff und das Gefühl von Nates Nähe. Bevor die mich in die Flucht geschlagen hatte.
Die nächsten Worte, die Nate sprach, kamen ihm schwerer über die Lippen. Sie klangen so vorsichtig, als fürchtete er, eine zu schnell gesprochene Silbe könnte mich verletzen. »Gibt es etwas, das ich wissen sollte?«
Ich zögerte, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Und wie viel. Dabei zögerte ich zu lange, und ehe eine Antwort auch nur annähernd in greifbare Nähe gerückt war, stellte Nate eine weitere Frage.
»Hab ich dir weh getan?«
»Was? Nein!« Das platzte im Gegensatz regelrecht aus mir heraus. »Du hast nichts falsch gemacht, es ist nur ...« Und mit dieser Richtigstellung versiegte mein Redeschwall auch schon wieder in die Ahnungslosigkeit.
»Hat ...« Nate schien über seinen eigenen Gedanken zu stolpern und musste sich über die übrigen Wörter bis zum Ende seiner Frage zwingen. »Hat dir jemand anderes mal wehgetan?« Er sah aus, als quälte ihn schon der Gedanke an das, was er fragte, und ich hatte gar keine Wahl, als sofort den Kopf zu schütteln. Über dieses Gefühl hinweg, das sich hinter meinen Rippen ausbreitete. Verdammt noch mal, wie war ich überhaupt imstande gewesen, in Nates Gegenwart in Panik auszubrechen? Wie zur Hölle hatte seine Nähe Unbehagen auslösen können? Das war doch völlig verrückt!
»Nein. Oh Gott, scheiße, natürlich! Du musst denken, ich ...« Keuchend atmete ich aus und versuchte, mich irgendwie zu sammeln. Es half, Nates Hemd etwas enger um mich zu ziehen, auch wenn das meiner Aussage vielleicht nicht gerade entgegenkam. Also sah ich ihn an und wartete, bis er meinen Blick erwiderte. Damit er mir auch wirklich glaubte. »Mich hat in meinem ganzen Leben nie ein Kerl angerührt, wenn ich es nicht wollte. Außer an den Hintern gegrabscht, aber das ist nicht das, was du meinst.«
»Ist es nicht«, bestätigte Nate, schüttelte sogar leicht den Kopf und hielt meinen Blick weiter fest. Er ließ ihn einfach nicht los und wartete. Er hakte nicht nach, was zur Hölle das sonst gewesen war. Wo bitte mein Problem war, wenn er nichts falsch gemacht hatte und auch niemand sonst in der Vergangenheit. Jedenfalls nicht genug, um so eine Reaktion zu rechtfertigen.
Er fragte das alles nicht. Trotzdem konnte ich sehen, dass er auf die Antwort wartete.
Und ich war sie ihm schuldig. Ich hatte mitten im Sex das ganze Unterfangen abgebrochen. Weinend. Und war aus dem Zimmer gestürmt. So etwas verlangte unbestreitbar nach einem Grund. Das konnte man nicht mit einem »Mir geht’s wieder gut, ich komm schon klar« wegwischen. Nicht, wenn man den Mann mag, dem man so einen Schrecken eingejagt hat.
Dann auf gar keinen Fall.
»Ich wusste nicht, dass das passieren kann«, versuchte ich mich zu erklären, und es klang wie eine Entschuldigung. Genau genommen war es wohl auch eine. »Ich meine, alles war schön. Und mit einem Mal ist da so ein beklemmendes Gefühl, und irgendwann bekomme ich keine Luft mehr und werde panisch. Ich dachte erst, ich könnte es aushalten, bis du fertig bist, nur ...« Ich hielt die Klappe, als ich selbst hörte, was ich da sagte. Doch Nates Augenbrauen hatten sich längst nach oben gezogen.
»Aushalten, bis ich fertig bin?«
»Tut mir leid, das war ...« Ich rieb mir über die Augen – nicht nur, um seinem Blick kurz entgehen zu können. »Ich hab mich beschissen ausgedrückt.«
Nate nickte zwar, sagte jedoch nichts und wirkte mit einem Mal wahnsinnig weit weg, obwohl er sich nicht einen Zentimeter gerührt hatte. Seit wann war ich so eine heillose Idiotin? Bei jedem Schnösel, der mir bei der Arbeit begegnete, konnte ich präzise auf meine Worte achten, aber nicht bei dem Mann und in dem Moment, bei dem es drauf ankam?
»Du weißt noch am Freitag? Oder Samstag? Jedenfalls in der Nacht, als ich ins Wohnzimmer gestürmt kam? In der WG?« Das waren viel mehr Punkte, als nötig gewesen wären. Nur hatte ich allmählich etwas Angst, dass ich nicht nur Mist baute, sondern es wirklich versaute.
Wieder nickte Nate, und ich konnte aus seinem Gesicht nicht herauslesen, ob er dabei mehr dachte als das, was er sagte. »Ist noch nicht so lange her.«
»Das war im Prinzip dasselbe«, erklärte ich weiter und versuchte, mich nicht mit der Interpretation von Nates Erwiderung aufzuhalten. Interpretationen waren ohnehin nicht mehr als Spekulationen, und ich war viel zu gut darin, mir die schlimmsten auszumalen. »Ich hatte einen Albtraum und bin neben Amber aufgewacht, die viel zu nah an mir dran lag, und die Decke war so schwer, und ich musste einfach raus, weil ich keine Luft mehr bekommen habe. Amber hatte auch nichts falsch gemacht. Die Decke ebenso wenig.« Ich versuchte mich kläglich an einem Lächeln, dabei war mir eigentlich längst klar, dass dieser Versuch von Humor heillos verloren war. »Das eben war das dritte Mal, dass mir das passiert ist. Ich wusste wirklich nicht, dass ich so reagieren könnte, sonst hätte ich dich gewarnt. Ich ... Sonst kann ich Situationen, die schwierig sind, aus dem Weg gehen, aber manchmal weiß ich es nicht vorher. Ich muss das auch noch lernen. Das ist neu, und ich kenne mich so nicht. Sex hatte ich seitdem auch mit niemandem, sonst wüsste ich vielleicht, wie ich gegensteuern kann und ...« Ich endete mit einem wütenden Schnaufen, weil ich diese ganze Situation so leid war.
»Was meinst du mit ‚seitdem‘?«, hakte Nate nach, und ich war so erleichtert, wieder Sorge in seiner Stimme zu hören und damit Nähe. Einen Moment lang vergaß ich sogar, dass ich ihm ja auch würde antworten müssen.
Dieser Moment verflog mit dem nächsten kühlen Windzug, der durch das Fenster kam und mich frösteln ließ. Ich dachte dennoch nicht daran, das Fenster zu schließen. Vermutlich können nur wenige Menschen nachvollziehen, was für ein befreiendes Gefühl es sein kann, einzuatmen und zu frieren.
»Amber hat dir wirklich nichts gesagt?«, fragte ich. Ich hatte ihr das Versprechen abgenommen, den Mund zu halten. Ich wollte nicht, dass Flugblätter herumgereicht wurden mit Warnungen, was man in meiner Gegenwart zu vermeiden hatte. Am besten noch mit einem Ampelsystem. Ich wollte niemand anderes sein als die Liz, die ich immer gewesen war. Und vor allem wollte ich nicht, dass man jemand anderen in mir sah.
»Nichts gesagt ... wovon?« Nate hatte sich sogar ein Stück nach vorn gebeugt, um mein Gesicht besser sehen zu können. Doch seine Hände behielt er nach wie vor bei sich.
Konnte ich ihm einfach sagen, dass es jetzt wieder okay war? Dass eine Hand auf meinem Rücken oder ein Arm über meiner Schulter mir vielleicht sogar geholfen hätte?
»Dieses Konzert im September. Martha’s Sons ...«
Nates vorher aufmerksamer Gesichtsausdruck rutschte sehr langsam von seinen Zügen und ließ Ahnungslosigkeit zurück. Er hatte also nicht davon gehört. Oder es vielleicht wieder vergessen.
»Anfang September war ich bei einem Konzert, und es kam zu einer Schießerei. Ein Amoklauf. Das war hier in London in der Arena.«
Seine Miene kippte. Auf ihr zeichnete sich nicht die Erinnerung an einen Zeitungsbericht ab, den er mal überflogen hatte, sondern stattdessen eine Vorstellung von dem, was ich ihm nun erzählen würde.
Ehe er etwas sagen konnte, redete ich weiter. Ich fürchtete, dass ich es sonst nicht mehr tun würde. »Ich stand in der dritten Reihe und ...« Ein etwas hilfloses Keuchen entwich mir. Was sollte ich erzählen? Und wie viel? Und wie? Ich hatte weder Amber noch Logan noch meinen Kollegen und gleich gar nicht meinen Eltern davon berichten müssen. Jeder hatte gewusst, dass ich dort gewesen war, und dann die Nachrichten gesehen. »Amber hatte auch eine Karte, aber an dem Abend hatte sie furchtbare Migräne, also bin ich allein hingegangen. Sie hat sich fast eine Woche lang dafür entschuldigt. Das ist doch absurd, oder?«, fragte ich ihn, doch Nate sah mich nur mit geweiteten Augen an. »Man sollte nicht bedauern, sowas verpasst zu haben.«
Er antwortete nicht, jedenfalls nicht schnell genug, bevor ich vor der Befürchtung kapitulierte, wir könnten ewig schweigend in dieser Küche stehen und uns fassungslos anstarren. Also redete ich weiter über alles, das mir leichtfiel, und über nichts, das von Belang war. »Sie macht sich immer noch wahnsinnige Vorwürfe, musst du wissen. Also Amber. Vor der Begrüßungsparty für dich und Mads hat sie mich ständig gefragt, ob ich wirklich keine Probleme damit haben werde. Und ob sie die Playlist nach Musik von dieser Band absuchen soll. Ich glaube, sie hat sogar ihre CDs versteckt, damit ich sie nicht sehe. Ja, Amber hat noch CDs.«
»Liz ...« Erst jetzt fand Nate seine Stimme wieder. Dabei hatte ich endlich den Punkt erreicht, von dem an ich sicher ewig hätte reden können, ohne auch nur ein Mal zu stolpern. Über Ambers Paranoia bezüglich digitaler Daten, die sie mit einem Faible für altmodischen Kram vertuschte. Ich hätte ihm sogar von ihren VHS-Kassetten erzählt, hätte er mich gelassen. »Ambers CDs waren nicht bei dem Konzert.« Das war wohl die höfliche Art, mir zu sagen, dass ihn einen Scheiß interessierte, was ich da redete. Dass er Antworten auf die wesentlichen Fragen wollte. Dabei stand ich doch vor ihm. In einem Stück. Allein das war doch schon eine wesentliche Antwort.
»Mir ist nichts passiert«, fasste ich in Worte, was er anscheinend übersah. »Ich bin nicht getroffen worden oder dergleichen.«
Nate nickte. Das tat er länger, als es für ein simples »Okay, alles klar« nötig gewesen wäre. Es war vielmehr die Art von Nicken, das Gedanken sortierte, bis jeder von ihnen an seinem richtigen Platz war. Dennoch sprach er sie nicht aus, als sein Kopf wieder zur Ruhe kam, sondern atmete nur tief ein und sah kurz über seine Schulter. Zur Wand. Hinter der mein Bett stand. Und aus dem ich eben geflüchtet war. Geflüchtet, weil mir nichts passiert war. »Wenn du nicht mit mir darüber reden willst ...« Ich unterbrach ihn nicht, seinen Satz brachte Nate dennoch nicht zu Ende.
»Nein, doch!« Verdammt noch mal, rede einfach, fuhr ich mich innerlich selbst an. Reden ist nicht schwer, du machst das den ganzen Tag. Du weißt, was passiert ist, also erzähl es ihm doch einfach. »Ich weiß nur nicht, was du hören willst. Also, wie viel.«
Nate zuckte mit den Schultern und tat mir den Gefallen, sich etwas unsicher mit der Hand durch die Haare zu fahren. Es tat gut, zu wissen, dass ich nicht allein ahnungslos war. »Vielleicht das, was ich wissen sollte, damit ...« Er deutete unbestimmt hinter sich. »Damit ich nicht wieder eine Situation provoziere, in der du vor mir wegrennst.«
Woher dieser Geistesblitz kam – keine Ahnung. Ich begriff auf seine Worte hin, was ich ihm unbedingt und unter allen Umständen erklären musste. Und was andererseits nebensächlich war. »Ich bin nicht vor dir weggerannt. Oder deinetwegen. Du warst gar nicht da.« Es war so wahnsinnig wichtig, dass er das begriff. »Oder eher – ich war nicht da. Mein Kopf hing irgendwie an diesem Abend fest. Da waren so viele Menschen, und ich hatte das Gefühl, alle drängen in meine Richtung. Dabei wäre das völlig unlogisch gewesen. Ich stand doch ganz vorn. Direkt vor uns ist der Sänger erschossen worden. Ich hatte ...« Blut. Blut, das mir von der Stirn beinahe ins Auge gelaufen wäre. Kopfschüttelnd trieb ich diese Erinnerung beiseite. Die war nicht relevant, also konnte sie auch weit wegbleiben. »Ich habe gar nicht begriffen, was da passiert ist, da haben schon alle geschrien und es wurde immer enger. Und ich war auf einmal nicht mehr, wo ich vorher gestanden hatte. Irgendwer hat mich immer weggeschoben oder weitergeschoben oder irgendwohin gezogen. Als wäre ich die ganze Zeit im Weg, nur war da gar kein Weg und ...«
Ich hatte einfach nicht gewusst, wohin ich ging. Und ob das richtig war. Oder ob es gerade überhaupt eine richtige Richtung gab. »Ich hatte ständig das Gefühl, dass diese ganzen fremden Körper mich erdrücken. Alles war so eng und warm und stickig. Und laut. Es war ohrenbetäubend laut, und ich glaube, mit jedem Schuss haben mehr Leute geschrien, obwohl es hätten weniger werden müssen.« Ich erinnerte mich viel zu deutlich, wie mich dieser simple, fast skurrile Gedanke die ganze Zeit beschäftigt hatte und sich in meinen Kopf fraß wie das Dröhnen der Rückkopplung, das aus den Lautsprechern brüllte. »Und irgendwann habe ich keine Luft mehr bekommen. Ich glaube, ich bin auch über Menschen gelaufen, die gestürzt sind, und das tut mir so leid. Dabei hatte ich gar keine Kontrolle darüber, wohin ich gehe, ich ... Ich habe nur versucht, zu atmen und nicht hinzufallen. Ich wollte einfach auf gar keinen Fall hinfallen. Da unten kann unmöglich mehr Luft gewesen sein als im Stehen und ... Scheiße.« Ich drückte mir meine Handrücken gegen die Augen und versuchte damit, den Tränen den Weg zu versperren. Es war doch vorbei. Dieser Abend und genauso das Gefühl, wieder dort zu sein. »Ich bin nicht deinetwegen weggelaufen«, bekräftigte ich noch mal und gab mir redlich Mühe, nicht zu weinen. Was mir einigermaßen gelang, aber zum Dank sammelten sich die Tränen hörbar auf meiner Stimme und gaben sich Mühe, diese zum Einsturz zu bringen. »Ich habe mir die ganze Zeit gesagt, dass du es bist. Und nicht tausend fremde Menschen, die mich zerquetschen oder mich irgendwohin zerren.«
Nate war für diese erdrückenden Sekunden in meinem Bett nicht da gewesen. Jedenfalls nicht in dem vernebelten Dunstkreis meiner Wahrnehmung. Wäre es mir gelungen, ihn bei mir zu wissen, hätte es vielleicht gar keinen Grund zur Flucht gegeben. Wäre er da gewesen, hätte ich vielleicht bleiben können, ohne zu ersticken.
Dieser Gedanke war sehr deutlich in meinem Kopf, allerdings sprach ich ihn nicht aus. Das war so viel Pathos, dass Nate ihn mir vielleicht nicht glauben würde. Und in diesem Moment war mir so wichtig, dass er mir jedes Wort glaubte. Und dass er sie im Idealfall auch verstand.
»Davor bin ich weggelaufen. Nicht vor dir.«
Ich sah ihn an und wartete auf ein Nicken. Und direkt danach würde sein Blick kippen in genau das, was ich nicht sehen wollte. Sorge, schlimmer noch Mitleid. Und dann würde er anfangen, mich wie jemanden zu behandeln, der der normalen Welt nicht mehr gewachsen war.
Nate sah mich zuerst nur an und in seinem Kopf schienen die Bilder zu arbeiten, die ich ihm erklärt hatte. Als wäre es nicht genug, wenn die in meinem Kopf hausten. Dann kam das Nicken. Auf das Nicken folgte die Sorge. Und da blieb es stehen.
Als Nate seine Hand nach mir ausstreckte und vorsichtig auf meine Wange legte, befürchtete ich, dass nun auch der Rest kommen würde. Mitleid und vielleicht noch einiges mehr, das mir bei anderen bisher erspart geblieben war.
Sein Daumen strich über meine Haut, wischte vielleicht eine Träne weg. Und tatsächlich kippte Nates Blick noch einmal, und die Richtung, in die er das tat, war mir wirklich neu. Und vor allem war sie mir nicht zuwider. Da war ein stummes »Was bist du nur für eine Idiotin«, das ich in seinem Schmunzeln und vor allem in seinem Blick lesen konnte.
»Dir ist also gar nichts passiert, mh?« Seine Stimme klang leise und nicht wie eine Frage und besaß die Frechheit, neue Tränen zu provozieren, die ich unter größter Anstrengung wegblinzelte.
Erst, als ich Nates Blick auswich, hatte ich meinen Flüssigkeitshaushalt wieder unter Kontrolle, atmete tief ein und betonte noch einmal das Wichtigste. »Das eben lag nicht an dir«, sagte ich stur. »Hast du das verstanden?«
Er nickte, löste seine Hand von meiner Wange und legte sie stattdessen auf meine Schulter, strich über meinen Oberarm. Ich bemerkte, wie sich auch sein zweiter Arm heben wollte, Nate ihn dann aber wieder sinken ließ. »Habe ich«, sagte er nur und nahm mich nicht in den Arm, obwohl ich mir so sicher gewesen war, dass er genau das hatte tun wollen. »Hat man ... Wurde herausgefunden, wer dahintersteckte?«
Die Frage war mir schon einige Male begegnet. Dabei war ich nur zufällig dort gewesen und so schnell von dem Gelände verschwunden, wie es ging, nachdem es vorbei gewesen war. Ich hatte keinerlei Informationen über Ermittlungen, niemand setzte mich über irgendetwas in Kenntnis und selbst wenn ... »Ist mir egal.« Das war die Wahrheit. Und Nate war nicht der Erste, der mich daraufhin erstaunt ansah.
»Egal? Wirklich?«
»Wirklich«, bekräftigte ich. »Ich habe ein paar Tage lang verfolgt, wie die Presse wild spekuliert hat. Ich glaube, da war alles dabei. Politische Theorien, religiöse, ethnische, einfach nur verrückte. Irgendwelche abstrusen Ideologien. Das ...« Ich atmete tief ein, um nicht wütend zu klingen. Vor allem nicht wütend auf Nate. »Irgendjemand hat in einem Saal voller Menschen, die nur einen schönen Abend haben wollten, in die Menge geschossen. Mit Sicherheit gab es irgendeinen unsinnigen Grund dafür. Spielt für mich keine Rolle. Wer so etwas macht, ist ein Arschloch. Da sind Menschen gestorben und verletzt worden. Wieso sind die Identität und die Motivation von irgendeinem Wichser wichtiger als das? Ich meine ...« Erst hier gelang es mir, mich endlich zu unterbrechen und einmal tief durchzuatmen.
»Das war eine ziemlich dumme Frage, oder?«
»Nein.« Ich seufzte und merkte, wie mir mit der Luft auch viel meiner Anspannung entwich. »Tut mir leid, ich ... Ich habe es nur so satt. Es ist fast einen Monat her, und trotzdem hört es nicht auf. Jedes Mal, wenn ich glaube, dass ich irgendwas wieder im Griff habe, ist da plötzlich was Neues, wie vorhin. Und immer wieder greifen sie dieses Thema auf und lassen es einfach nicht sein. Wem soll das helfen?«
Nate nickte, als würde er ganz genau verstehen, was ich da sagte. Dabei war ich nicht einmal sicher, ob alles Sinn ergab. »Ich bin nicht sicher, ob Hilfe das ist, was die Presse im Sinn hat«, murmelte er, fast schon ein wenig kleinlaut.
Und das war mein Zeichen, es für heute gut sein zu lassen. Nate hatte recht, und dennoch klang er, als würde er auf dünnem Eis laufen, das schon knirschte. »Ich will gar keine Hilfe von denen, nur meine Ruhe.« Ich sah kurz zum Fenster. Eigentlich nur, um Nates Blick auszuweichen, doch er verstand es als Zeichen dafür, es zu schließen. Fast hätte er mich damit wieder den Tränen in die Arme gespielt. Einfach nur, indem er da war. Und indem er versuchte, alles richtig zu machen, aber nichts wieder gut.
Irgendwoher schien Nate diesen Unterschied zu kennen. Im Nachhinein denke ich, dass es das war, was mich weiterreden ließ. Die Tatsache, dass ich keine Angst vor Hilfe haben musste, nach der ich nicht gefragt hatte.
Nate stand bereits wieder neben mir, noch immer mit diesem Abstand zwischen uns, als ich noch einmal tief Luft holte. »Ich erzähle Amber immer, dass alles in Ordnung ist, weißt du? Manchmal schimpfe ich sogar über die ganzen Leute in der U-Bahn oder darüber, dass der Zug ewig im Nirgendwo stand wegen einer Störung. Dabei bin ich seit diesem Tag nicht mehr U-Bahn gefahren. Ich kann da einfach nicht rein. Die ganzen Menschen, der Lärm. Wenn man sich erstmal überlegt, dass man unter der Erde feststeckt, mit unzähligen Fremden ...« Ironischerweise war ich am Abend des Konzerts in die U-Bahn gestiegen und nach Hause gefahren. So, wie ich es für zwei Stunden später ohnehin geplant hatte, und für einen kurzen Augenblick hatte es sich angefühlt, als würde ich in die Normalität zurückkehren. Und dann war sie drei Stationen vor meiner Haltestelle umgeschlagen, als mit einem Mal unzählige Menschen zugestiegen waren und ich bis zu meinem Ziel fast erstickt wäre. Das war meine erste richtige Panikattacke gewesen, und mittlerweile wusste ich, dass sich das beliebig oft wiederholen konnte. »Ich glaube, dass es Amber wahnsinnig machen würde, das zu wissen und es nicht einfach abstellen zu können. Ich meine, ich hasse Busse, ich habe immer vermieden, mit denen zu fahren.«
Ein bisschen unsicher sah ich zu Nate. Ein Teil von mir rechnete damit, dass er ähnlich reagieren würde, wie ich es von Amber erwartete. Dass er Vorschläge lieferte, Lösungsansätze und Hilfe, die keine war. Was er stattdessen tat, war leicht zu schmunzeln. Diesen Blick schenkte er zunächst nur dem Boden und wandte ihn dann mir zu, bis er mich etwas verschmitzt von der Seite angrinste. »Und ich dachte am Sonntag, du würdest Bus fahren wollen, um mich noch ein paar Minuten für dich zu haben, ohne das so sagen zu müssen.«
Ich lachte – vor Erleichterung und aus dem eigentlichen Grund, aus dem man immer lacht. »Ja, das klingt ganz nach mir.«
Nates Grinsen wurde etwas breiter, ehe es zu einem warmen Blick versiegte. »Ich werde ihr nichts sagen.« Und da war sie – endlich – die viel zu vorsichtige Berührung seiner Hand an meinem Rücken, die kurz unter meiner Schulter begann und über meine Wirbelsäule hinabstrich, wo sie schließlich liegen blieb, kurz bevor diese Geste in etwas Anzüglicheres umgeschlagen wäre.
»Danke.« Ich nickte. »Sie ... Ich habe mir bis Jahresende gegeben.«
»Bis du mit ihr redest?«
»Mit ihr oder mit jemandem, der dafür bezahlt wird. Eigentlich will ich das nicht. Es ist ja auch schon viel besser. Die Albträume sind weniger, ich mache die Veranstaltungen im Hotel mit und versteck mich nicht im Büro. Ich habe riesigen Schiss vor Silvester – Großveranstaltung mit ziemlich wichtigen Leuten.« Wie viel Schiss ich hatte, hätte Nate an der Tatsache hören können, dass es mir nicht gelang, die »wichtigen Leute« mit triefender Ironie zu benennen. Aber er kannte mich noch nicht gut genug, um diesen Unterschied zu bemerken. Und ich selbst war zu sehr ich selbst, um ihn mir einzugestehen. »Irgendwie überstehe ich das schon. Mir bleibt ja keine Wahl. Und das«, ich deutete hinter mich und damit zu dem kleinen Eklat von eben, »kriegen wir auch hin.«
Mit dieser Bemerkung leuchtete Nates Grinsen wieder auf. »Da bin ich sicher.«
»Wir könnten uns von Logan alle offiziell anerkannten Emojis geben lassen und daraus eine Toleranztabelle erstellen. Und damit halten wir fest, was für mich geht und was noch nicht.«
Nate lachte und schien dann tatsächlich einen Moment über diese Möglichkeit nachzudenken. Diesem Mienenspiel hätte ich wirklich ewig zusehen können, und dennoch war ich nicht allzu böse, als er es mit einem Kopfschütteln einstellte und sich zu mir beugte, bis seine Lippen sich auf meine Stirn legten. »Ich glaube, ich merke mir das lieber so.«
»Was? Schon genug von süßen kleinen Bildern?«
Diesmal sah ich sein Lachen nicht, ich spürte es nur an seiner Schulter, gegen die ich mich lehnte, bis es recht bald wieder versiegte. »Liz?«
Und da war es, das flaue Gefühl in meinem Magen. Einfach nur, weil er meinen Namen auf diese Weise sagte, wie Menschen es tun, wenn sie etwas sagen werden, von dem sie wissen, dass der andere es nicht hören will. Trotzdem sah ich fragend zu ihm auf und wappnete mich innerlich für ein tapferes Lächeln und ein Nicken.
»Sag mir rechtzeitig Bescheid, wenn du merkst, dass sich was nicht richtig anfühlt. Grundsätzlich. Nicht nur in Bezug auf Sex. Okay?«
»Okay.« Ich lächelte und nickte, jedoch nicht so, wie ich gedacht hatte, es zu müssen.
»Und wenn ... Ich kann Anwesenheit bieten, wenn du irgendetwas nicht allein machen willst, ein offenes Ohr und Pancakes. Ich will dir nur nichts davon aufdrängen, also ...«
»Dann sag ich Bescheid«, versprach ich und konnte dann nicht anders, als meiner Neugier nachzugeben: »Aber ... Pancakes?«
Nate lächelte und wirkte dabei ein bisschen ertappt. Nun hatte er den Salat und gab sich auch keine große Mühe, sich herauszuwinden. »In meiner Familie bekommt man immer Pancakes, wenn es einem nicht gut geht. Und wenn niemandem etwas Besseres einfällt, um daran etwas zu ändern. Mittlerweile geht das so weit, dass bei schwierigen Themen einfach Pancakes gebacken werden, um sie beizulegen. Wir sind nicht besonders gut mit Konflikten.«
Ich gluckste, weil diese Vorstellung um ein Vielfaches niedlicher klang, als die Realität tatsächlich war. Und dann nutzte ich diese Vorlage für eine Lüge, die man mir hoffentlich nachsieht. Eigentlich habe ich Pancakes noch nie viel abgewinnen können. Dennoch mochte ich die Vorstellung davon, noch eine Weile hier in dieser Küche zu stehen und nicht in das Zimmer zurückzukehren, aus dem ich eben geflüchtet war. »Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich hätte Hunger.«
Nates Mundwinkel verzogen sich zu einem etwas unausgegorenen Lächeln. »Ach, wirklich?« Kannte er mich schon so gut, dass er meine Lügen witterte?
»Wirklich«, antwortete ich inbrünstig, und im Prinzip sagte ich ja auch die Wahrheit. Ich wollte diese Pancakes. Unbedingt sogar. Der Zucker war mir egal, und ob ich Ahornsirup oder ein Äquivalent im Haus hatte, wusste ich nicht. Das spielte auch keine Rolle.
Mir ist egal, wie albern das klingt. Ich wollte mit Nate in dieser einträchtigen Stimmung bleiben, und Nate selbst war nicht böse über die Möglichkeit. Ich würde unter Eid bezeugen, dass er erleichtert aufatmete, ehe er das Licht einschaltete und sich in meiner Küche alles zusammensuchte, was er brauchte.
Es gibt eben Situationen, in denen es einem nicht gut geht, und jemand anderes akzeptieren muss, dass er daran nichts ändern kann. Dafür kann er Pancakes machen – oder Pizza, Kuchen, einen Drink ... Für Nate waren es eben seine Pancakes, und seit diesem Abend sind sie es auch für mich.
»Kann ich dir irgendwie helfen?«, hakte ich nach, während Nate nach Augenmaß Zutaten in eine Schüssel gab. Es kam mir etwas merkwürdig vor, jemanden in meiner Wohnung hantieren zu lassen und selbst nur auf dem Küchentisch zu sitzen und ihm dabei zuzusehen. Auch daran würde ich mich mit der Zeit gewöhnen.
»Denk nicht mal dran«, war Nates Antwort. »Noch nie in der Geschichte der Pancakes ist es vorgekommen, dass derjenige dabei geholfen hat, für den sie bestimmt sind.« Er gab sich einem ausgiebigen Kopfschütteln hin. »Ihr Engländer schreckt wirklich vor nichts zurück.«
»Nur vor Rechtsverkehr.«
Nate riss ein Päckchen Backpulver auf, von dem ich ehrlich nicht wusste, seit wann es in meiner Küche lag. Ich hätte nicht einmal gewusst, dass es existierte, bis er es wie selbstverständlich aus einem Regal hervorgezaubert hatte. Nate legte es beiseite, drehte sich um und lachte. »Willst du deine Pancakes medium?«
Das war mir herzlich egal. Von mir aus würde ich auch nur den rohen Teig löffeln. Ich saß in meiner Küche, sah Nate zu und fühlte mich gerade wieder ziemlich gut. Die Beschaffenheit irgendwelcher Pancakes würde daran nichts ändern. »Meinetwegen.«
»Mh«, machte Nate und griff wieder nach dem Backpulver. »Allein schon, weil du auch nur erwägst, dass man Pancakes so essen könnte, hast du nichts hier zu suchen, solange sie gemacht werden.«
»Also keine Experimente?« Ich grinste, und ich genoss es einfach, das zu tun. Und Nates Erwiderung auf seinem Gesicht zu sehen.
»Setz du mal lieber Tee auf und lass mich meine Arbeit machen. Dann siehst du schon, wie perfekte Pancakes sein müssen.« Wie er das sagte klang regelrecht herausfordernd und nicht nur nach Pancakes. Darauf hätte ich eingehen können. Vielleicht hatte Nate es sogar darauf abgesehen, weil er genauso froh war, sich in der Situation wieder wohlzufühlen. Und ich glaube, dass er keine Ahnung hatte, wie viel er richtig machte, und wie viele Befürchtungen von mir er einfach mit seinem Grinsen und diesem Schneebesen zerschlug.
Ich hatte vor diesem Abend niemandem erzählen müssen, was passiert war. Jeder hatte es gewusst und seine Schlüsse daraus gezogen. Das hieß, dass ich auch vor niemandem geweint hatte, während ich von Enge, von viel zu vielen Menschen und von Luftknappheit erzählte. Vor Amber, Logan, meinen Kollegen oder auch meinen Eltern hatte ich nicht eine Träne vergossen. Und doch war es Nate, der nicht einen Moment lang versuchte, mich mit irgendwelchen Ratschlägen von Erinnerungen zu heilen, als wären sie ein Schnupfen. Er gab sich zufrieden damit, einfach nur da zu sein und seinen Teil dazu beizutragen, dass es ein paar mehr gute Momente gab als schlechte.
Ich weiß nicht mehr jede Albernheit, die wir ab diesem Punkt austauschten, sehr wohl aber, dass ich auf dem Küchentisch saß, Nate dabei zusah, wie er hochkonzentriert irgendwelche Zutaten in der blauen Schüssel miteinander vermengte, und dachte, dass ich mich in diesen Kerl verlieben könnte. Ein Gedanke, der einen bekanntermaßen dann überfällt, wenn es ohnehin längst zu spät ist.
Nate hatte gerade die erste Kelle zähflüssigen Teig in die Pfanne gegeben, als ich wirklich keine Lust mehr hatte, so weit weg von ihm zu sein. Hätte er Pizza gemacht, wäre ich vielleicht zu mehr Geduld in der Lage gewesen, doch wie gesagt hatte ich für Pancakes nur sehr wenig übrig. »Nate?«
»Mh«, machte er nur und hatte mittlerweile sogar Falten auf der Stirn. Offenbar war die Zubereitung dieses amerikanischen Nationalstolzes eine richtige Wissenschaft.
»Wie ernst ist es dir damit, dass ich nicht zu dir kommen darf?«
»Ernst genug, um eine Linie auf den Boden zu malen.«
Ich nickte und überlegte kurz, mich einfach nackt auszuziehen und zu schauen, ob ich gegen Pancakes ankam. Zugegebenermaßen überlegte ich das nicht nur, ich hatte bereits den ersten Knopf des Hemdes geöffnet, nur ließen sich diese dämlichen Knöpfe nicht annähernd so leicht lösen wie schließen. Sollte sich Nate doch einfach selbst die Finger daran brechen. »Und spricht irgendwas dagegen, dass du stattdessen hierherkommst?«
Er sah nur kurz über seine Schulter und schüttelte den Kopf. »Nein, aber das hier ist eine sehr heikle Phase. Und ich habe dir perfekte Pancakes versprochen.«
Ich überlegte einen Moment und kapitulierte dann keuchend. »Nate, ich weiß nicht, wie ich dir das sagen soll, ohne zu klingen wie in einem billigen Porno.« Eigentlich wären mir so einige Sachen eingefallen, doch mein letztes Wort zeigte Wirkung und Nate schaute auf, wenn auch mit einem etwas irritierten Blick. »Na los, stell die Pfanne weg und komm her«, sagte ich und war auch ein kleines bisschen nervös dabei, als ich meine Hand einladend in seine Richtung ausstreckte. Dieser Kerl schien die Sache mit den Pancakes wirklich ernst zu nehmen. »Oder muss ich wirklich mit Hungermetaphern anfangen?«
Nate lachte leise, und wenn ich nicht irrte, klang seine Tonlage dabei etwas tiefer als eben noch. »Das wird nicht nötig sein«, sagte er, schob die Pfanne auf eine kalte Herdplatte und schaltete die andere vorbildlich aus. Es fehlte nicht viel und ich hätte ihn gefragt, wie viel Zeit er bitte für das einplante, was ich im Sinn hatte. Ich hielt aber lieber meinen Mund – einer der Momente, in denen mir dieses Kunststück gelang. Anstelle eines Kommentars streckte ich nur meine Hände nach seinem Gesicht aus, sobald ich es erreichen konnte, und zog Nate zu mir.
Ich hatte wirklich Angst gehabt, es noch mal zu versauen und damit Nates Geduld überzustrapazieren. Und etwas unsicher war ich vermutlich noch immer. Aber die Art, wie Nate mich küsste, wie seine Hand sich auf meinen Rücken legte und mich an ihn heranschob, das half. Das schaltete meinen Kopf nicht ganz aus. Doch es ließ ihn glauben, dass es noch etliche Male schieflaufen konnte, Nate würde immer einen weiteren Versuch wagen. Keine Ahnung, ob das stimmte, vermutlich nicht bedingungs- und endlos. Das musste ich zum Glück auch gar nicht austesten.
An dieser Stelle sollte ich vermutlich von einem atemberaubenden, sinnlichen erotischen Abenteuer berichten und davon, wie wir es stundenlang wild auf meinem Küchentisch getrieben haben. Von unzähligen Orgasmen, mindestens drei Orts-, acht Stellungswechseln und von Nachbarn, die sich über uns beschwerten.
Die Realität sah vielmehr so aus, dass Nate an den Knöpfen seines eigenen Hemdes genauso verzweifelte wie ich und kurzerhand beschloss, dass ich es genauso gut anbehalten konnte. Wir zogen nicht ins Schlafzimmer um, sondern blieben in der Küche, und ich konnte nie ganz damit aufhören, darauf zu warten, dass sich die Panik wieder einstellte. Sie blieb, wohin auch immer sie verschwunden war. Nur war Nate einfach zu vorsichtig mit mir und ich selbst zu ängstlich, um auch das Warten darauf endlich loszulassen.
Nates Nähe löste keine explosionsartigen Fluchtinstinkte mehr in mir aus. Zwei oder drei Wochen lang hatte ich noch damit zu kämpfen, dass sich manchmal ein unwillkommenes Herzrasen mehr an mich heranschlich, als mich zu überfallen. Aber Nate wusste schnell um die Zeichen, die ihm mitteilten, dass es besser wäre, etwas von mir abzurücken, und ich lernte, das Gefühl beiseitezuschieben, ich würde in diesen Momenten versagen. Denn das Gefühl, nicht gut genug zu sein, ist hartnäckiger als Panik, und es begleitete mich auch noch eine Weile länger. Dass es verschwand, liegt wohl weniger daran, dass ich gelernt habe, geduldiger und verständnisvoller mit mir zu sein, sondern daran, dass Nate jedes Mal so mit mir umging, wie ich selbst es hätte tun sollen.
Nate, falls du das irgendwann liest – und ich nehme an, dass es dazu kommen wird – ich räume dir hiermit fünf Minuten für ein verdientes, selbstgefälliges Grinsen ein.
Am nächsten Morgen wachte ich nicht durch Vogelgezwitscher auf, auch nicht von Kaffeeduft, der meine Wohnung erfüllte. Ich war nicht ausgeruht und voller Leben, und als ich meine Augen öffnete, blickte ich nicht in das verliebte Antlitz eines Nates aus Arkansas, der mich beim Schlafen beobachtet hatte.
Gott sei Dank. Vor allem die letzte Vorstellung wäre mir hochgradig unheimlich gewesen.
Nein, der nächste Morgen war realistisch. Mein Handywecker riss mich mit seiner gewohnt penetranten Art aus dem Schlaf. Ich gab denselben wehleidigen Ton von mir wie jeden Morgen und rollte mich zur Seite, um dieses Ding verstummen zu lassen. Dabei merkte ich, dass mein Nacken schmerzte, weil mein Kopf wohl die ganze Nacht auf Nates Arm gelegen hatte.
Ich wischte auf dem Display meines Handys so lange unwirsch herum, bis es endlich die Klappe hielt, und ließ mich müde zurück in mein Kissen fallen. Fünf Minuten, dachte ich. Vielleicht zehn. Ich würde mich einfach nur umdrehen müssen und an Nates schlafenden Körper kuscheln, um das Aufstehen für fünf oder zehn Minuten Behaglichkeit zu verschieben.
Nur war ich realistisch und wusste, dass ich dann nicht die Disziplin haben würde, um aufzustehen.
Ich versuchte gerade, mich zu erinnern, welche Termine ich direkt am Morgen geplant hatte, als ich merkte, wie Nate sich hinter mir bewegte. Gleich darauf spürte ich seinen Körper an meinem Rücken, seine Lippen an meinem Nacken, und sein Arm legte sich um mich und hielt mich sanft fest.
Und wie ich befürchtet hatte, brauchte es nicht mehr als das, und die Termine waren mir herzlich egal.
»Ich hoffe, dein Kaffee ist besser als unserer«, murmelte er schläfrig und so wahnsinnig beiläufig, als ahnte er nicht einmal annähernd, welchen Schauer seine Worte und die leichte Berührung seiner Lippen auf meiner Haut zurückließen.
»Viel besser«, versprach ich, rührte mich allerdings nicht vom Fleck, sondern sah Nates Fingerspitzen dabei zu, wie sie Kreise auf meinem Handrücken malten. Und erst in diesem Moment fiel es mir auf.
Vielleicht hätte ich erschrocken sein sollen, doch das Erste, was mir in den Sinn kam, war die Erkenntnis, was für eine egozentrische Idiotin ich doch war.
Da hatte ich mich am Vorabend eingehend seinem Körper gewidmet, aber nur den Stellen, die mir und ihm Freude bereiteten. Nicht denen, die ihn ausmachten. Die vermutlich der Grund dafür waren, dass er auf meine Erzählungen und meine Ängste eben nicht reagierte, wie andere es taten, sondern so, wie ich es brauchte. Der Grund dafür zog sich in zahllosen feinen, hellen Narben über seinen Unterarm, und ich hatte ihn einfach nicht früher gesehen.
Ich hatte solche Narben noch nie in meinem Leben zu Gesicht bekommen, nur davon gehört. In der Schule hatte man uns eingeschärft, aufeinander aufzupassen und nicht wegzusehen, wenn ein Mitschüler sich nicht anders zu helfen wusste. Sofort dachte ich an Rasierklingen, weil es in Filmen so erzählt wurde. Und ich tappte in dieselbe Falle wie wohl etliche andere Menschen auch: Ich entdeckte diese Linien an Nates Armen, dachte an all das, was ich zu wissen glaubte, und war überzeugt, dass ich es verstand. Ich glaube, der dümmste Zustand eines Menschen ist der, in dem er meint, etwas zu begreifen, wovon er gar keine Ahnung haben kann.
Und im Sog dieser Dummheit streckte ich meine andere Hand vorsichtig nach dem Bild auf Nates Haut aus, bis meine Fingerspitzen die zarten Unebenheiten ertasteten und nachzeichneten.
Zwei Sekunden brauchte es. Zwei Sekunden und meine zaghafte Berührung, ehe die Kreise, die Nate auf meine Hand malte, bröckelten und die warmen Atemzüge, die über meine Haut gestrichen waren, ausblieben und der Kälte ihren Platz zurückgaben.