20. 3. 2019 – 15:10 Uhr (EST)
Flughafen Douglas, Charlotte, USA
Geldbörse. Pass. Taschenbuch, Bordkarte, Schokoriegel, eine halbvolle Flasche Wasser, Taschentücher, Kassenzettel. Zwei leere Miniaturfläschchen, in denen einmal Wodka gewesen war, und etwa vier Kugelschreiber sowie mein Notizbuch und diese Packung Pancakes, bei der ich auf dem Flug beschlossen habe, sie für wichtigere Notfälle als Flug- und Platzangst aufzuheben.
Alles liegt neben mir auf dem Sitz, während ich meine Tasche weiter nach dem absuche, woran mein Handy mich gerade erinnert hat. Das Telefon selbst halte ich in der Hand und finde in der Seitentasche noch ein paar Bonbons, Kaugummis und eine Papiernagelfeile.
»Das kann doch nicht wahr sein«, fluche ich und greife nach meiner Geldbörse. Vielleicht habe ich ja im Münzfach oder bei den Geldscheinen ... nichts. Dort ist nur, was immer in meiner Geldbörse ist. Meine Karten, ein bisschen Bargeld, meine Oystercard, Ausweis und Führerschein.
Zur Sicherheit drehe ich meine Handtasche noch einmal um und lasse sie kopfüber über dem Boden baumeln. Zwei Kassenzettel segeln noch vor meine Füße, jedoch kein Blister.
Nate hat mein Treiben interessiert verfolgt, aber bisher nicht ein einziges Mal nachgefragt, was dieses Theater bitte soll. Er weiß, wann es sich empfiehlt, Fragen zu stellen, und wann er lieber darauf wartet, bis ich frustriert schnaufend gegen die Rückenlehne meines Sitzes sinke. »Scheiße!«
»Ist das gerade ein Nervenzusammenbruch?« Nates Stimme klingt sanft und so unbekümmert, dass er vermutlich keine ernstzunehmenden Ängste um meine Psyche aussteht. »Ich denke nicht, dass du dir irgendwelche Sorgen machen musst. Sollten wir Turbulenzen haben, hast du alles dabei, um zur Not ein Ersatzflugzeug zu bauen.«
»Witzig«, murre ich, setze mich wieder auf und beginne damit, den Inhalt meiner Tasche in ebendiese zurück zu sortieren. »Ich hab die Pille nicht dabei. Die Tabletten müssen noch auf meinem Nachttisch liegen, weil ich die Einnahmezeit etwas verschoben habe. Wegen der Zeitumstellung, und ... ach, egal. Sie sind nicht da.« Die zwei leeren Fläschchen und die Kassenbons landen im Müll, und ich ziehe energisch den Reißverschluss meiner Handtasche wieder zu. Hervorragend. Ganz hervorragend. Seit Jahren nehme ich die Pille immer pünktlich in der Mittagspause, also trage ich sie auch seit Jahren in der Handtasche mit mir herum, ohne auch nur darüber nachzudenken. Und kaum stellt man sich auf eine Zeitverschiebung ein, kollabiert das ganze System. »Wie wichtig ist dir Sex im Gästezimmer deiner Schwester?«
Nate gibt sich wirklich Mühe mit dem vorwurfsvollen Blick, den er mir schenkt. Vor vier Tagen ist ihm siedend heiß eingefallen, dass er und ich im Haus seiner Schwester unterkommen werden. Ihm hatte ebenso gut ein Gästezimmer im Haus seiner Eltern zur Auswahl gestanden, doch ich kann nachvollziehen, dass seine Wahl auf Kimberly gefallen ist. Es ist einfacher mit ihr – nicht nur für ihn. Was er bei dieser Entscheidung nicht bedacht hatte, war die Tatsache, dass sich das Gästezimmer direkt neben dem Schlafzimmer der Gastgeber befindet. Weil es eben einer dieser Räume ist, die irgendwann als Kinderzimmer herhalten sollen.
Zuerst war Nate den brüderlichen Qualen erlegen, die die Aussicht darauf mit sich brachte, in der Hochzeitsnacht seiner Schwester im Nebenzimmer zu schlafen. Und dann war ihm der Umkehrschluss aufgefallen. Ich kann absolut nicht sagen, welche der beiden Vorstellungen ihn mehr quält.
Daher finde ich meine Nachfrage nur berechtigt. Und vielleicht ist es auch ein kleines bisschen amüsant, einen Funken dieser besagten Qualen noch einmal in seinem Blick aufflackern zu sehen, ehe er von einem unerschrockenen Grinsen abgelöst wird.
»Kims Haus hat mehr Räume als nur das Gästezimmer. Und ich gehe davon aus, dass sie sich nicht rund um die Uhr im Schlafzimmer aufhalten wird.« Mit dieser Einschätzung der Lage steht Nate auf und lässt mich mit einem »Bin gleich wieder da, halt mir meinen Platz frei« zurück.
Also mache ich genau das. Ich lege meine Handtasche auf Nates Sitz ab und werfe einen weiteren von unzähligen vorangegangenen und sicher ebenso vielen zukünftigen Blicken auf die Anzeigetafel. Die Verkündung des Gates für unseren Anschlussflug ist in einer guten halben Stunde geplant. Eine weitere halbe Stunde später sollen wir abfliegen. Ich kann nicht leugnen, dass der Gedanke an eine kleinere Blechkiste als vorhin mich nervös macht. Noch weniger Platz, viele Menschen auf noch engerem Raum und keine Möglichkeit, aus dieser verschlossenen Kapsel herauszukommen, falls ... Was soll schon passieren? Die Security hat mir sogar meine Sicherheitsnadel abgenommen, die ich in meiner Handtasche herumtrage, seit mir einmal der Reißverschluss eines Rockes den Dienst versagt hat.
Bisher hält sich die Furcht vor dem zweiten Flug als zartes Echo zurück, das mir hin und wieder in den Nacken haucht und eine unangenehme Gänsehaut verursacht. Und meist gelingt es mir, dieses Maß an Angst in Nervosität umzuwandeln. Davor, in ein paar Stunden Nates Schwester und ihren Verlobten zu treffen und morgen früh seine Eltern.
Die zweite Begegnung ist die, bei der ich fürchte, unglaublich viel falsch machen zu können. Und vor allem denke ich, dass es der Moment ist, vor dem Nate am meisten Angst hat. Nicht, dass er das so geäußert hätte. Dennoch kann ich es sehen. Wie er immer wieder die Ärmel seiner Strickjacke noch weiter nach unten zieht, um die Narben zu verstecken, zu denen er mir vor ein paar Monaten nach unserer ersten Nacht eine wunderbar harmlose Geschichte erzählt hat.
Teenagerzeit, ein Vater in einer Führungsposition in dem Unternehmen, das viele Bewohner der Stadt beschäftigt hat, bis die Wirtschaftskrise kam und Nates Vater etliche Kündigungen aussprechen musste – was seinen Sohn nicht zum Liebling seiner Klassenkameraden machte. Das war die Geschichte gewesen, die ich an jenem Oktobermorgen gehört hatte. Sie war keine Lüge, das weiß ich. Allerdings war sie nur jener Teil der Wahrheit, der vorbei war. Den anderen hatte er noch wochenlang verborgen gehalten. Und nun versteckt er ihn wieder. Nur diesmal nicht vor mir, sondern vor den Menschen, die dabei gewesen sind. Als hätte etwas Stoff je ein erfolgreiches Versteck abgegeben.
»Love Collection
Unterschiedliche Farben und Geschmacksrichtungen, stimulierende Effekte und hauchzarte Kondome ermöglichen eine gefühlsechte Vielfalt für mehr Spaß im Bett.
Vierunddreißig Kondome«
Die Schachtel, die auf meinem Schoß landet, schmückt sich mit einem farbenfrohen Design, das ebenso gut auf einem Buchcover hätte Platz finden können. » Vierunddreißig?«, frage ich glucksend und studiere auf der Rückseite die Komponenten, aus denen sich diese gefühlsechte Vielfalt für mehr Spaß im Bett zusammensetzt. »Willst du mich umbringen?«
»Die Alternative waren drei Stück«, gibt Nate schulterzuckend zurück und reicht mir meine Handtasche, damit ich die Kondome darin verstauen kann. »Das kam mir etwas mager vor.«
Lachend beuge ich mich zu ihm und drücke ihm einen Kuss auf den Mund, der sich sofort zu einem Grinsen verzieht. »Du weißt, dass man auch mehrere Packungen mit drei Stück kaufen kann, oder? Alternativ hätte es in Camden sicher auch eine Drogerie gegeben. Auch wenn wir da vielleicht nicht fünf Kondome mit ...« Ich werfe einen kurzen Blick in meine Tasche und auf die Packung darin. »Mit Vanille-Chai-Geschmack bekommen hätten. Vanille-Chai. Nate, das ist so widerlich, dass ich das testen muss, das ist dir hoffentlich klar.«
Womit ich eigentlich gerechnet hätte, ist, dass Nate mich ansieht, die Herausforderung in meinem Blick erkennt und darauf eingeht, indem er fragt, ob meine Neugier einer umgehenden Befriedigung bedarf. Wahlweise würde er es auch anders formulieren und vermutlich wäre ich darauf eingegangen. Keine Ahnung, ob sich auf diesem Flughafen überhaupt eine Gelegenheit geboten hätte. Dazu, eine solche zu suchen, kommt es nämlich gar nicht.
Nate sieht mich durchaus an – mehr oder weniger. Sein Blick hängt irgendwo in seinen Gedanken fest und findet da einen Punkt in meinen Worten, den ich nicht einmal absichtlich platziert habe. Genau genommen habe ich ihn sogar wieder vergessen. »Ich werde mit Sicherheit keine Drogerie in Camden betreten und da Kondome kaufen«, stellt er klar. Er schmunzelt, als er das sagt, und doch ist unüberhörbar, dass er seine Worte vollkommen ernst meint. »Es gibt genau drei und sowohl die Thomsens, als auch Mr Bolds und Mr Higgston kennen mich, seit ich ein Kind bin. Eine ehemalige Mitschülerin von mir hat bei Mrs Thomsens mal einen Schwangerschaftstest gekauft. Da war sie achtzehn oder neunzehn. Davon wusste die halbe Stadt, ehe sie die Gelegenheit hatte, draufzupinkeln.«
Ich kann gar nicht anders, als meine Augenbrauen in die Höhe zu ziehen. »Du übertreibst.«
Nate sieht mich an, als wäre eine Übertreibung die frechste Vermutung, die je ein Mensch im Zusammenhang mit seiner Person geäußert hat. Dabei wissen wir beide, dass das nicht einmal annähernd zutrifft. »Keineswegs. Mom und Dad haben Kim daraufhin eine Rede über Partnerschaft und Verhütung gehalten – einer 21-Jährigen, wohlgemerkt. Du hast keine Vorstellung davon, wie albern das ist.« Die Ahnung eines belustigten Lächelns huscht über Nates Gesicht, verpufft aber sofort mit seinem Schulterzucken. »Ich glaube, sie wollten auf keinen Fall riskieren, dass diese Familie noch einen Skandal aushalten muss. Und Kim hat es in dem Moment abbekommen. Wenn ich also losziehe und in einer dieser drei Drogerien Kondome kaufe, weiß die gesamte Stadt, dass Nathan Moore eine Freundin und obendrein auch noch Sex hat. Vermutlich gibt es die ersten Artikel in der lokalen Presse, ehe ich dir auch nur den BH ausgezogen habe. Ich sehe es schon vor mir ...« Nate hebt eine Hand in die Luft und zeichnet mit ihr die Schlagzeilen nach, die er vorträgt. »Sextourismus in England – N. Moore entdeckt neues Thailand«, »Moore-Junge findet Liebe in Europa: Neuanfang in der alten Welt?«
Er gibt sich Mühe, ironisch zu klingen. Genau genommen klingt er sogar ironisch, es fällt mir nur schwer, es ihm zu glauben – ebenso wenig wie den Tja-so-ist-das-in-einer-Kleinstadt-Blick, den er mir zuwirft.
Ohne darüber nachzudenken strecke ich meine Hand in seine Richtung aus, lasse meine Fingerspitzen langsam durch sein Haar gleiten, bis sie in seinem Nacken liegen bleiben. Es sind nur ein paar Sekunden, nur eine unscheinbare Geste. Sie ist mein kleines, wortloses »Ich bin hier«, das Nate ein Lächeln abringt, ehe er sich zu mir beugt und mich küsst.
»Du bist nervös«, murmle ich, und das ist keine Frage. Ich muss nicht fragen – weder ob er nervös ist noch nach dem Grund dafür. Ebenso wenig danach, ob ich irgendetwas dagegen tun kann. Das kann ich nicht. Ich weiß das, weil es jetzt an mir ist, einfach nur da zu sein. Genauso wie Nate mehrere Wochen damit verbracht hat, nur in meiner Nähe zu sein und nichts weiter tun zu können als das.
Nate widerspricht meiner Feststellung nicht, bestätigt sie aber ebenso wenig. Sein Schnaufen ist mir Zeichen genug, dass ich recht habe und dass er es hasst.
»Ich hätte vielleicht eine Idee, wie wir da ein bisschen Abhilfe schaffen können«, murmle ich und ziehe meine Handtasche zu mir heran. Mir entgeht Nates Blick nicht, als ich darin herumkrame, ebenso wenig sein Glucksen, als ich eine andere Packung daraus zutage fördere, als er es vielleicht erwartet hat.
Pancakes. Und ein kleines Tütchen Ahornsirup.