– Gegenwart –

20. 3. 2019 – 18:56 Uhr (CDT)

Flughafen Bill and Hillary Clinton National Airport, Little Rock, USA

Autonomes Fahren. Ich glaube, genau so fühlt es sich an: falsch, machtlos und wahnsinnig unheimlich.

Ich sitze auf der rechten Seite dieses Fords, kein Lenkrad vor mir, keine Anzeigetafeln, und alles, was außerhalb des Autos an mir vorbeigleitet – andere Wagen, die Schranke der Garage – scheint den Wagen nur um Haaresbreite zu verfehlen. Die eher schmal bemessenen Straßen, die sich um den Flughafen winden und von ihm wegführen, machen diesen Eindruck nicht besser.

Und das Schlimmste? Es ist eben kein Computer, der den Ford auf der falschen Seite der Straße hält, sondern Nate aus Arkansas – mit den dunkelsten Augenringen, die ich je an ihm gesehen habe und einem unverhohlenen Gähnen. Ich hätte Alkohol kaufen sollen, schießt es mir durch den Kopf. Um nicht zu sehr über seine Fahrtüchtigkeit nachzudenken. Warum habe ich in diesem Flughafenladen nur Energydrinks und Kaffee in Dosen geholt?

»Bist du sicher, dass du noch bis Camden durchhältst?«, frage ich ihn. »Du hast auf den Flügen nicht ein Mal geschlafen, und jetzt ist es ...« Ich sehe auf meine Handyuhr, doch selbst ich bin zu müde, um mir sicher zu sein, wie spät es zu Hause gerade ist.

»Kurz vor zwölf«, hilft Nate mir aus. »In London jedenfalls.«

»Hm«, mache ich und werfe einen besorgten Blick auf Nate, der den Wagen auf eine Schnellstraße steuert, um zügig Little Rock in Richtung Süden zu verlassen. Er ist an diesem Morgen noch vor mir wach gewesen – wie lange vor mir, weiß ich nicht. Er hatte bereits geduscht und war angezogen, als der Wecker mich aus dem Schlaf gerissen hatte – um halb sechs am Morgen. »Ich habe Amber geschrieben, dass wir gut gelandet sind. Ich will nicht, dass sich was an unserem Zustand geändert hat, wenn sie die Nachricht liest. Kann ich dir also wenigstens einen Kaffee anbieten? Oder diese ... fragwürdige Substanz?«

Nate lacht und grinst mich an. Schon in diesem Shop hat er sich darüber amüsiert, mit wie viel Abneigung ich Energydrinks begegne, während er sich einfach nicht für kalten Kaffee begeistern kann und daher diese ominöse Limonade vorzieht. »Du kommst mir hier noch viel britischer vor als drüben.«

Seine Worte klingen nicht belustigt, sondern verliebt. Als wäre meine Staatsbürgerschaft eine liebgewonnene Eigenschaft. Doch alles, was ich höre, ist dieses Wort. Drüben. Nicht zu Hause. Das ist für ihn hier in Arkansas. Der untersetzte Mann an der Passkontrolle hat es doch so unmissverständlich gesagt, als er Nate seinen Pass wiedergab. »Willkommen in der Heimat, Mr Moore.« Die Britin, die Mr Moore mitbrachte, wurde mit einem Lächeln und einem Nicken vorbeigelassen.

»Schau lieber auf die Straße«, murmle ich, hole eine Dose seines Zuckerwassers hervor, öffne sie und reiche sie ihm. »Hier. Zu meiner Beruhigung.«

Er nimmt das Getränk und solidarisch öffne ich mir einen Kaffee, obwohl es mir im Gegenteil zu Nate sogar gelungen ist, während des zweiten Fluges kurz wegzunicken. Auf keinen Fall will ich seine Schwester auf einem Müdigkeitslevel kennenlernen, auf dem mir zusammenhängendes Sprechen und Denken nicht mehr möglich sind. Ihr Bruder mag so viel für mich übrighaben, dass ihn dieser faszinierende Wesenszustand nicht abgeschreckt hat, allerdings erwarte ich nicht, dass das auch für seine Schwester gilt.

»Ich nehme an, dass sie ziemlich aufgeregt sein wird. Nimm es ihr bitte nicht übel. Es ist ... Sie ist einfach Kim.« Er schmunzelt und nippt an der Aludose. Immerhin verzieht er das Gesicht ein wenig. Ich bin nicht sicher, ob ich mit jemandem in einem Auto mitfahren will, der Energydrinks mit Genuss zu sich nimmt. Wahrscheinlich hätte ich nicht nur seine Fahrtüchtigkeit infrage gestellt. »Die Hochzeit ist in drei Tagen, alles muss perfekt werden, und dazu gehört eben auch, dass du sie magst. Ich weiß, sie ist nicht der Typ Mensch, mit dem du dich sonst umgibst.« Ich sehe, wie sein Zeigefinger auf dem Lenkrad einen Takt klopft, der nichts mit der leisen Musik zu tun hat, die aus dem Autoradio in den Wagen und nur kaum bis in meine Wahrnehmung sickert. »Ich entschuldige mich im Voraus, wenn sie es etwas übertreibt. Sie neigt dazu – positiv wie negativ. Das wirst du vermutlich auch merken. Sie ist nicht besonders gut darin, mit irgendwelchen Emotionen Maß zu halten. Nicht so wie ...«

»Wie Engländer?«, hake ich nach, als er kurz ins Stocken gerät.

Nate neigt seinen Kopf etwas zur Seite, und ich kann den entschuldigenden Blick erahnen, den er der Frontscheibe oder der Straße dahinter schenkt.

Ehe er eine solche Entschuldigung auch äußern und an mich wenden kann, schreite ich ein: »Wehe, du sagst jetzt irgendwas wie ‚Das hab ich nicht so gemeint‘.«

»Aber ...«

»Kein Aber. Bis hierhin klingt emotionales Maßhalten nicht nach einer schlechten Eigenschaft, wenn du dich entschuldigst, schon.«

Nate lächelt müde und sieht kurz zu mir herüber. »Wenn ich mich für irgendetwas entschuldigen möchte, dann nur dafür, dass ich dich nicht werde retten können. Kim wird vermutlich eine Wagenladung Euphorie über dir ausschütten und dich darunter begraben. Und ich fürchte, sie wird dich in irgendwelche Frauengespräche verwickeln. Du weißt schon – was man nicht ständig betont und erwähnt, ist auch nicht da. In ihrer Welt.« Dem letzten Satz gibt seine Stimme so viel Gewicht, dass ich ihn gar nicht überhören kann. »Ich habe einfach die Befürchtung, dass sie dich damit erschlägt. So sehr, dass du dir dieses Auto hier schnappst und dich sogar durch den Rechtsverkehr schlägst, nur um schnell wegzukommen.«

»Mh.« Ich kann gar nicht anders, als über die aufrichtigen Sorgenfalten auf Nates Stirn zu schmunzeln. Zu gern würde ich einfach meine Finger nach ihnen ausstrecken und sie glattstreichen. Nur halte ich es für eine äußerst unkluge Idee, einem Autofahrer auf dem Highway ins Gesicht zu fassen, egal wie herzzerreißend seine schlecht getarnte Nervosität ist. »Du meinst, weil ich keinerlei Erfahrungen damit habe, mit Menschen umzugehen, die nicht ganz genauso ticken wie ich?«

Anstatt auf seine Stirn lege ich meine Fingerspitzen behutsam auf seinen Nacken und streiche hinauf bis zum Ansatz seiner Haare, die er extra noch einmal hat schneiden lassen. Seine Schultern senken sich mit einem tiefen Seufzen, und ich merke, dass er sich ein kleines bisschen in meine Berührung lehnt. »Darf ich mich wenigstens dafür entschuldigen?«

Ich gluckse. »Und ich bin diejenige, die hier noch viel britischer wirkt als zu Hause, ja?«

Es ist etwa 21 Uhr, als wir in die Austin Street einbiegen – also zwei Uhr morgens in London. Ich frage mich, ob ich in dieser knappen Woche, die Nate und ich hier sein werden, je auf die Uhr sehen und die Zeit nicht umrechnen werde wie eine Währung.

Nate lässt den Wagen langsam über die Straße rollen, die kaum mehr ist als ein breiter Asphaltstreifen. Es gibt keine Bürgersteige. Rechts und links geht die Straße direkt in eine Wiese über, auf der hier und da ein Haus und zuweilen auch Bäume stehen. Licht brennt in den Fenstern, was heißt, dass hier auch tatsächlich Menschen wohnen, und mir kommt in den Sinn, dass Nate seine Heimat als Einöde beschrieben hat, als wir uns kennengelernt haben. Bei diesem Wort hatte ich umherirrende Steppenläufer im Kopf, die sich über die Straße bewegen. Auf solche warte ich bisher vergeblich, doch ich muss zugeben, dass der Anblick mich nicht überraschen würde. Es gibt nicht einmal Mauern oder Zäune, die Grundstücke abgrenzen und einer Steppenläuferinvasion Einhalt gebieten würden.

»Dort drüben«, sagt Nate und deutet auf ein zweistöckiges Gebäude. Sämtliche Fenster sind erleuchtet, wenn ich keines übersehe. An einem im Erdgeschoss findet sich kurz ein Schatten ein und verschwindet dann wieder. Während ich noch überlege, in welchem Maß ich das unheimlich finden möchte, atmet Nate keuchend aus und wirft mir einen Seitenblick zu. »Es tut mir ehrlich leid. Ich fürchte, wir werden kein einziges Kleinstadtklischee umgehen können.«

Ich nicke nur und beuge mich etwas nach vorn, um unser Ziel besser sehen zu können.

»Es ist nicht London. Um genau zu sein, hat nichts hiervon irgendwas mit London gemeinsam. Manchmal nicht einmal die Grammatik. Wenn du es hasst, kann ich das verstehen. Ich ...«

»Nate«, unterbreche ich ihn und bringe dabei auch ein Lächeln zustande. Ich bin aufgeregt, aber das ist etwas, was sich kinderleicht beherrschen lässt, wenn man einmal erfahren hat, wie steigerbar dieser Zustand ist. Nate hingegen hat die letzte Stunde damit zugebracht, mich über die Unzulänglichkeiten seiner Heimatstadt aufzuklären, mich irgendwie darauf vorzubereiten. Oder gar ...

»Du musst mir nicht einreden, dass ich Camden nicht mag. Oder deine Familie. Ich habe es dir zu Hause schon gesagt: Falls du wirklich weg willst, komme ich mit. Ich brauche auch keine Erklärungen, du musst es mir nur sagen. Keine Nachfragen, keine Bedingungen. Das hab ich versprochen. Egal, ob du den Joker jetzt ziehst, oder auf der Hochzeit oder am vorletzten Tag. Okay?« Dasselbe habe ich ihm im Januar bereits gesagt. Und vor drei Tagen. Mir scheint es der richtige Moment, um dieses Versprechen noch einmal zu wiederholen.

Ob es ihn beruhigt, weiß ich nicht. Vielleicht. Vielleicht spielt er auch nur seine Rolle besser, nun, da ich seine wenig subtilen Manöver entlarvt habe. »Okay«, sagt er gelassen und stellt den Motor des Fords ab. Dabei schaut er an mir vorbei zum Haus seiner Schwester. »Wir sollten reingehen. Wenn Kim noch mal am Fenster vorbeiläuft, wird es selbst mir unheimlich.« Er grinst, was die Müdigkeit nicht annähernd von seinen Zügen vertreibt, und beugt sich zu mir, um mich kurz zu küssen. Und ich frage mich unwillkürlich, ob seine Schwester noch immer am Fenster steht, um diese kleine Geste zu beobachten – und ob sich Nate dessen bewusst ist. »Auf geht’s.« Sanft klopft er mir mit der Hand auf den Oberschenkel und löst dann seinen Gurt, um auszusteigen.

Ich tue es ihm gleich, und während er sich mit unseren beiden Koffern belädt, ziehe ich nur meine Handtasche und seinen Rucksack aus dem Kofferraum. Das Gepäck und wir haben die Tür des Hauses noch gar nicht erreicht, als die sich bereits öffnet.

Natürlich weiß ich, wer die Frau ist, die in der Tür steht – in einer Pyjamahose und einem ausgewaschenen Shirt. Wie schon an Weihnachten, als ich sie über Nates Handy in winziger Größe bei einem Skypegespräch kennengelernt habe, denke ich, dass ich sie selbst dann als seine Schwester erkennen könnte, wenn sie mir zufällig über den Weg laufen würde. Ihre hohen Wangenknochen sind einfach zu prägnant dieselben ihres Bruders. Das hellbraune Haar trägt sie länger, und natürlich schmückt ihr Gesicht kein Dreitagebart. Aber da sind dieselbe schmale, gerade Nase, dieselben blauen Augen, die in ihrem Gesicht nur noch etwas größer wirken als in seinem.

Ich nehme an, sie ist geschminkt – trotz ihres Outfits. Ein Zeichen für ein wenig Aufregung und den Wunsch nach einem guten ersten Eindruck. Ein paar Minuten auf einem Bildschirm können unmöglich als erster Eindruck geltend gemacht werden. Und diese kleine Unsicherheit beruhigt mich selbst ein wenig, obwohl sie viel mehr auf Interpretation beruht als auf Wissen.

»Da seid ihr ja, kommt rein!«, begrüßt sie uns. Entgegen ihrer Worte kommt sie Nate ein paar Schritte auf die Veranda entgegen und schließt ihn in ihre Arme, noch ehe er überhaupt die Koffer abstellen kann. Er lässt sie einfach rechts und links neben sich fallen, um die Begrüßung seiner Schwester zu erwidern. Ich glaube, dass sie ihm etwas sagt, doch es ist zu leise, um mir sicher zu sein, geschweige denn, um es zu verstehen.

Hinter den beiden taucht ein großgewachsener, stämmiger Mann in der Tür auf – Ian, den Kim in ein paar Tagen heiraten wird. Ich habe ihn nur einmal kurz in den Bildschirm winken sehen und erinnere mich, dass Nate meinte, er sei sich nicht sicher, ob sein zukünftiger Schwager ihn überhaupt ausstehen könne. Dass er allerdings eventuelle Antipathien zugunsten von Kims Gefühlen für sich behält, rechnet Nate ihm hoch an, und manchmal reicht dieses Maß an Einigkeit wohl, um einigermaßen miteinander auszukommen.

Als sich Kim von Nate löst, glänzen ihre Augen verräterisch. Sie sieht zu ihm hoch und schlägt ihre Hände vor den Mund, als könne sie gar nicht fassen, dass er wirklich vor ihr steht. Dann sieht sie mich an. Ihr Blick trifft mich so überraschend, dass mein Herz kurz einen erschrockenen Satz zurück macht. »Er sieht viel erwachsener aus.«

Nate gluckst leise, und es hört sich ehrlich an. Vielleicht sogar erleichtert. »Unsinn, ich brauche nur eine Rasur.«

Das sehe ich etwas anders, behalte meinen Einwand jedoch für mich. Mir bleibt ohnehin keine Zeit dafür, da Kim bereits auf mich zukommt, die Arme zu einer Umarmung ausgebreitet. Nate schafft es gerade so, mir seinen Rucksack abzunehmen, ehe mich die Geste seiner Schwester in eine familiäre Vertrautheit zieht, aus der ich wohl nur schwierig hätte fliehen können, hätte ich es darauf angelegt.

»Es ist so schön, dass du hier bist«, flüstert sie mir zu, während ich über ihre Schulter hinweg beobachte, wie Nate und Ian einander die Hände schütteln und nichts weiter. »Du hast keine Vorstellung davon, wie sehr es mich freut, dass Nate jemanden gefunden hat, der ihn freiwillig in ein Kaff wie unseres begleitet.« Sie löst sich von mir und strahlt mich genauso an wie kurz zuvor ihren Bruder. »Nate hat erzählt, dass du in London aufgewachsen bist. Ich war ja noch nie in einer so großen Stadt, das muss dir hier alles wahnsinnig ländlich vorkommen.«

»Idyllisch«, korrigiere ich und warte vergeblich auf Nates Lachen. »Und im Moment recht dunkel, muss ich gestehen.«

Kim kichert und wendet sich ihrem Bruder zu. »Hast du ihr gesagt, dass sie das sagen soll?«

Er schüttelt den Kopf und schenkt mir ein kurzes Lächeln. »Ich bitte dich. Im Leben wäre ich nicht auf so ein Wort wie ‚idyllisch‘ gekommen, um Camden zu beschreiben. Ich glaube, das ist ganz und gar der englischen Höflichkeit zuzuschreiben.«

Ich weiß, dass er nach der kleinen Bemerkung aus unserem Dialog im Auto gegriffen hat. Eine dankbare Geste in meine Richtung, wenn ich sie richtig verstehe. Doch ich sehe, wie Kims Strahlen kurz flackert und wie Nate das erkennt. Wie seine eigene Mimik einem stummen Fluch über seine Dummheit gleichkommt und wie die Veranda, auf der wir stehen, auf einmal zu Glatteis wird.

Er hat es mir gesagt. Noch vor zwei Tagen hat er mir gesagt, dass das passieren könnte. Nur hat es da nicht danach geklungen, als würde er damit rechnen.

»Wir sollten reingehen.« Ian ist derjenige, der diesen Vorschlag äußert. »Es ist kalt, und Kim hat extra heiße Schokolade vorbereitet. Mit Zuckerstangen.« Er zwinkert seiner Verlobten zu und ringt ihr damit ein erleichtertes Lächeln ab.

»Gute Idee«, murmelt sie, lächelt mich noch einmal an und läuft dann vorsichtig über das glatte Eis zurück in ihr Haus. »Gute Idee.«

Nate atmet hörbar aus, greift nach den Koffern und folgt ihr zur Tür. Ich bin direkt hinter ihm und versuche, Acht zu geben, dass niemand von uns schlittert, ausrutscht und fällt, noch ehe wir überhaupt die Türschwelle erreicht haben.