Gegenwart

22. 3. 2019 – 11:06 Uhr (CDT)

Camden, Arkansas, USA

Der Kaffee in meiner Tasse ist tiefschwarz. Schwarzer Kaffee war für mich noch nie mehr als Mittel zum Zweck im absoluten Notfall. Dass das nun sogar der dritte an diesem Vormittag ist, zeigt mehr als deutlich, dass ich noch viel extremer zur Selbstüberschätzung neige als bisher angenommen.

Ich habe jahrelang im Schichtdienst gearbeitet. Ich weiß, wie ich meinen Biorhythmus umstelle. Gar kein Problem.

Das habe ich letzte Woche im unbändigen Rausch von Überheblichkeit noch gesagt. Und heute trinke ich die dritte Tasse schwarzen Kaffee und bin nicht einmal annähernd an einem Punkt, den man guten Gewissens als »wach« bezeichnen könnte.

Immerhin bin ich mir recht sicher, dass Nate kein Wort des Hohns darüber verlieren wird – falls er meinen Zustand überhaupt mitbekommt. Gemessen am Schatten unter seinen Augen wird er wohl kaum in der Lage sein, der Anzahl meiner Kaffees zu folgen und dann auch noch Schlüsse daraus zu ziehen.

Ich weiß, dass er in den letzten beiden Nächten keinen allzu erholsamen Schlaf gehabt hat. Und heute Morgen war er schon aufgestanden, geduscht und angezogen, ehe ich auch nur daran gedacht habe, ernsthaft wach zu werden. Also habe ich vielleicht ja doch einen winzigen biorhythmischen Vorteil ihm gegenüber.

»Noch ein Badezimmer«, verkündet Nate und öffnet die nächste Tür, die vom Flur im ersten Stock abgeht. »Mit Zugang zu Kims altem Zimmer. Sie hat es immer gehasst, dass es das nächstgelegene Bad nach der Treppe ist und Gäste es ständig benutzt haben, wenn das Gästebad ...« Er zuckt mit den Schultern und schließt die Tür wieder. »Egal. Teenager halt. Jetzt ist ihr Zimmer eh für Gäste und ... Diese Führung war eine beschissene Idee, tut mir leid.«

Diese Tour war die Idee seiner Mutter. Die Agentur für den Aufbau des Festzeltes hatte eine Verspätung angekündigt, und ihr war in den Sinn gekommen, Nate zu einer Führung durch das Haus zu verpflichten. »Ich möchte nicht, dass die Freundin meines Sohnes sich hier nicht auskennt, wenn die Feier stattfindet. Elizabeth gehört doch jetzt quasi zu unserer Familie, damit sollte sie hier nicht herumirren müssen wie ein beliebiger Gast.«

Was ich für eine vernünftige Idee gehalten habe, ist Nate viel zu schnell viel zu unangenehm geworden. Da ist die riesengroße Küche gewesen, das angrenzende Esszimmer, Wohnzimmer für die Familie und ein weiteres, das eher auf den Empfang von Gästen ausgerichtet ist. Beim Badezimmer für die Gäste, das doppelt so groß ist wie jedes Bad, das ich je in einer Londoner Wohnung gesehen habe, hat Nate damit angefangen, sich zu entschuldigen. Den Ausflug zum riesigen, dschungelartigen Wintergarten hat er so kurz wie nur irgend möglich gehalten, und ehe wir den Weg in das obere Stockwerk angetreten sind, hat er mich gefragt, ob ich mir wirklich auch den Rest antun möchte.

Natürlich habe ich gewollt. Meine Neugier ist definitiv weit größer als irgendein Neid wegen zwei oder drei oder zehn Räumen mehr, in denen er aufgewachsen ist. Keines dieser Zimmer hat ihm eine bessere Kindheit beschert als mir. Ich weiß das. Und eigentlich habe ich gehofft, dass ihm auch klar ist, dass ich das weiß. Ich will es ihm nicht sagen müssen.

»Und mein Zimmer.« Mit einem tiefen Seufzen öffnet er die dritte Tür auf der linken Seite des Flurs.

Riesig, ist das Erste, das mir in den Sinn kommt. Ich glaube, dass meine gesamte Wohnung nicht viel mehr Quadratmeter hat als dieser Raum in Nates Elternhaus. Das Zweite, das mir auffällt, ist, wie viel von Nate noch hier drinsteckt. Da stehen das Bett und der Schreibtisch, die vermutlich schon seit Jahren hier stehen. Dieselbe Kommode, dieselbe Farbe an der Wand. Im Regal stehen Bücher, als würden sie von den Zeiten träumen, in denen sie jemand gelesen hat. Es ist deutlich, dass der Teenager, der hier mal gehaust hat, längst nicht mehr da ist. Und doch scheint das Zimmer sich für seine Rückkehr bereit zu halten. Nur für den Fall ...

»Die meisten meiner Sachen sind noch hier«, erklärt Nate und deutet auf die Flügeltür, die den Wandschrank verschließt. »Ich konnte nicht alles mit ins Wohnheim der Uni nehmen und nach London gleich gar nicht, von daher ...«

Ich nicke. »Deshalb also der Standby-Modus.«

»Mh«, macht er. Täusche ich mich oder zuckt ein vorsichtiges Schmunzeln über seine Mundwinkel? »So kann man es wohl nennen.«

Ich gebe mir mit meinem Lächeln etwas mehr Mühe und laufe ein paar Schritte durch das Zimmer, versuche, es mir vorzustellen – vielleicht mit Postern an der Wand. Mit Schulsachen auf dem Schreibtisch. Und ich merke, dass ich fast umgehend an meine Grenzen komme. Ich habe keine Ahnung, was Nates Jugend ausgemacht hat. Es würde ihm ähnlichsehen, Gitarre zu spielen – für sich, nicht vor anderen und mit Sicherheit nicht vor einem Publikum am Lagerfeuer. Hat er eher gelesen oder Filme geschaut? Wo hat er seine Zeit verbracht? Hier, in diesem Raum oder draußen mit ... Ja, mit wem? Aus dieser Zeit seines Lebens kenne ich nur das Wesentliche und das, was ich mir daraus ableiten kann. Doch absolut nichts darüber hinaus.

»Darf ich?« Ich deute auf das Bett, das neben dem Fenster steht. Zu Hause in der WG würde ich gar nicht daran denken, zu fragen. Mir würde nicht einmal in den Sinn kommen, dass ich ausgerechnet auf seinem Bett nicht willkommen sein könnte.

»Natürlich«, ist seine Antwort, allzu natürlich fühlt es sich jedoch nicht an, als ich die Tasse mit dem Rest des dritten Kaffees auf dem Nachttisch abstelle und mich ans Kopfende des Bettes setze. Ich ziehe nicht einmal die Beine richtig auf die Matratze.

»Was meinst du, wie viel Zeit uns noch bleibt, bis deine Mum unsere Hilfe braucht. Diese Veranstaltungsfirma ist noch gar nicht da, oder?«

Nate schüttelt den Kopf und setzt sich neben mich an den Rand des Bettes, reibt sich die Augen und atmet einmal tief durch. »Mach dir keine Illusionen. Sie wird deine Hilfe brauchen, nicht unsere. Ich bin in solchen Sachen absolut unbrauchbar, und ich glaube, dass es ihr lieber sein wird, wenn ich mich aus der ganzen Planung raushalte. Sie ist nur zu höflich, um dich allein zu diesem Spektakel zu bestellen.« Seine Hand legt sich auf mein Knie, drückt es leicht, und diesmal ist sein Lächeln wesentlich deutlicher.

»Und an wessen Bein bist du dann der Klotz? An meinem oder dem deiner Mutter?«

»Ich fürchte, das müsst ihr unter euch ausmachen.«

»Mh«, summe ich und lehne mich nach vorn, bis ich meine Hände auf seine Schulter legen und mein Kinn darauf abstützen kann. Diese Position ist bestenfalls semi-bequem, aber für den Moment wird es gehen. »Dann hoffe ich, dass deine Mutter sich nicht auf ältere Rechte beruft. Im Zweifel muss ich das Argument anführen, dass ich sehr viel Erfahrung darin habe, vollkommen inkompetente Hilfskräfte anzuleiten.«

Ich glaube, es ist das erste Mal an diesem Tag, dass ich Nate lachen sehe. Eigentlich ist es mehr ein Glucksen, gefolgt von einem amüsierten Kopfschütteln, doch es fühlt sich nach mehr an. Nach genug, um es festhalten zu wollen.

»Außerdem behaupte ich, dass mir mehr Motivationsmöglichkeiten zur Verfügung stehen als deiner Mum.«

»Ist das so?«, fragt er, und ich gehe völlig naiv davon aus, dass er längst weiß, wovon ich spreche. Weil er bei diesem Thema noch nie eine allzu lange Leitung hatte.

Mein Vorschlag ist also ein Fall von klassischer Fehleinschätzung: »Ich denke schon, ja. Beispielsweise frage ich mich, welche Tagträume ein hormongestörter Teenager-Nate hier wohl hatte. Ich bin zuversichtlich, dass wir genug Zeit hätten, um wenigstens einen davon zu erfüllen.«

Ich kann beobachten, wie Nates Augenbrauen sich zu Skepsisfalten zusammenziehen und ahne, dass ich mein Ziel zu optimistisch angesetzt habe. »Wir sind hier nicht allein, Liz. Meine Mom ist unten und vermutlich auch schon ein paar Leute mehr.«

Meine Nachfrage ist vielmehr ein Automatismus als ein wirklicher Versuch, ihn umzustimmen. »Und du bist sicher, dass dich das stört?«

»Bin ich.« Und damit ist seine Antwort ganz unmissverständlich die erste Zurückweisung, die ich je von ihm erfahren habe.

»Alles klar«, sage ich und schwinge die Beine über die Bettkante. Ich gebe mir ehrlich Mühe, nicht gekränkt zu sein und auch keine Vergleiche zu ziehen. Nicht an zu Hause zu denken, wo er derjenige ist, den es einen Scheiß interessiert, ob seine Mitbewohner da sind. Wo er sogar seine helle Freude daran hat, wenn es mir schwerfällt, keinen Ton von mir zu geben. »Dann sollte ich vielleicht allmählich prüfen, ob man meine Hilfe schon braucht, oder?«

Ich klinge zickiger, als ich es vorgehabt habe. Mein Satz sollte eigentlich kein Vorwurf sein, nur ein Fluchtversuch aus einer unangenehmen Situation.

Nate nickt nur. Da ist kein Versuch einer Erklärung oder Schlichtung. Und das, nachdem ihm eben noch die Anzahl an Zimmern leidgetan hat. Prioritäten, die dringend überdacht werden sollten, wie ich finde.

Als ich aufstehe und ihm meine Hand entgegenhalte, bleibt Nate sitzen.

»Ich komme gleich nach«, sagt er. Seine Stimme klingt nicht abweisend und alles andere als kalt. Und trotzdem ist da meine Hand, die noch einen Moment in der Luft schwebt und nach der er nicht greift.

Ich atme tief ein und schnappe mir stattdessen meine Tasse. Der Kaffee darin ist längst kalt. »Nate, ganz ehrlich, ist alles in Ordnung?«

»Ich würde schon Bescheid sagen, wenn nicht, oder?« Ich weiß nicht, was es ist, das Nate die Augen verdrehen lässt. Ob meine Worte oder die Art, wie ich meine Frage stelle. Vielleicht war sie zu drängend oder zu vorsichtig, zu direkt. Oder es ist das Gleiche, was mich am Wahrheitsgehalt seiner Antwort zweifeln lässt.

Als ich zögere und nicht direkt gehe, holt Nate tief Luft und sieht mich leicht gequält an. »Sag mir bitte, dass du nicht auch schon zu denen gehörst, die nur darauf warten, dass mir alles zu viel wird. Ich bin nur müde, Jetlag. Und ich wollte in Ruhe nachsehen, ob ich noch ein paar Sachen für London brauche. Schuhe, Kleidung, irgendwas ... Mein Rucksack müsste hier noch irgendwo sein. Und das wollte ich zusammensuchen, ehe hier alles voller Gäste und Fremder ist. Sonst nichts, okay?«

Du kannst mir auch einfach sagen, wenn du einen Moment für dich brauchst, denke ich.

Ich hoffe, du weißt, dass das viel zu viele Erklärungen sind, um dir auch nur ein Wort zu glauben, denke ich.

Meinetwegen, nur mach den Mund auf, wenn ich was tun kann, ja?, denke ich.

»Okay«, ist am Ende alles, was ich sage.

Im Erdgeschoss dringen Stimmen aus der Richtung des Wintergartens zu mir und bringen die unverkennbare Geräuschkulisse dessen mit, was ich in meinem Job schlicht »Aufbau« nenne. Weil ich nicht wüsste, wohin ich sonst gehen sollte, nähere ich mich dem Tumult vorsichtig.

Der Aufbau ist noch nicht allzu weit fortgeschritten, und trotzdem kann man bereits sehen, dass er den gesamten Garten einnehmen wird. Bis hin zur Außentür des Wintergartens, in dem ebenfalls schon erste Stehtische aufgestellt werden. Das Gesamtbild gibt noch nicht viel mehr her als die Idee dessen, was daraus entstehen soll. Fürs Erste genügt mir die, um ein ungläubiges »Ach du Scheiße« zu denken und mir die einzige Person an meine Seite zu wünschen, der ich diesen Gedanken auch mitteilen könnte. Oder mich an seine.

Statt dieses Menschen entdecken mich fünfzig Prozent seines Gencodes. »Elizabeth!« Nates Mutter strahlt, als sie mich erspäht, winkt mir zu und macht sich trotzdem direkt auf den Weg zu mir. Schon auf halber Strecke deutet sie hinter sich auf das, was fünf Männer gerade im Begriff sind, zu errichten. »Was hältst du davon?«

Mir fällt nicht viel mehr ein, als auf die vor mir liegende Kulisse zu deuten und ein »Wow« auszustoßen. Und anscheinend ist es genau das, was Harper hören will.

»Nicht wahr?«, seufzt sie und lächelt verträumt in die Richtung, aus der sie gekommen ist. »Die Männer werden jetzt etwa zwei Stunden für den Aufbau brauchen. Und Gerald ist in einer Stunde hier mitsamt seiner Assistentin und der Floristin, um die Dekoration final abzusprechen. Er hält das für unabdingbar, damit es morgen schnell gehen kann. Es wäre lieb, wenn du mir bei dem Gespräch zur Seite stehst. Willst du noch einen Kaffee?« Ich komme gar nicht zum Antworten, da schiebt sie mich schon sanft zurück in Richtung der Küche. »Ich brauche doch gleich deine ganze Aufmerksamkeit«, gluckst sie und nimmt mir meine Tasse ab, um sie in den Geschirrspüler zu räumen. »Du bist die einzige Fachfrau unter uns. Und Nathan sagt, du hast Geschmack.«

Ich bin nicht sicher, ob er damit auf mein nicht vorhandenes Faible für Dekorationselemente angespielt hat. Ehrlich gesagt bezweifle ich das sogar, aber ich lächle brav und nicke. Mehr wird man während dieser Beratung wohl ohnehin nicht von mir erwarten, und wenn es das ist, was Harper beruhigt, bin ich gern behilflich. Und wer weiß? Vielleicht fällt mir ja wirklich noch ein sinnvoller Hinweis ein. Nur ein kleiner, um meiner Daseinsberechtigung etwas Gewicht zu geben.

»Wo ist der Junge überhaupt?« Sie lässt es sich nicht nehmen, suchend an mir vorbeizublicken, um ihre Frage noch zu unterstreichen. Als würde Nate sich hinter mir verstecken.

»In seinem Zimmer«, erkläre ich und versuche, dabei nach so viel Selbstverständlichkeit zu klingen, wie möglich. »Er wollte noch ein paar Sachen zusammenpacken, die er ...« Zuhause. »... in London vielleicht braucht. Und einen Rucksack wollte er wohl noch raussuchen.« Ich bin selbst ganz erstaunt, dass ich klinge, als hätte ich ihm diesen Unsinn abgekauft.

Seine Mum stellt einen neuen Pott unter die Kaffeemaschine und lässt den vierten schwarzen Kaffee für mich zubereiten. Natürlich, sie muss mittlerweile annehmen, dass ich meinen Kaffee grundsätzlich so trinke. »Ging es ihm denn gut?«, hakt sie nach und deutet mit einem Nicken auf die Zimmerdecke, und ich versuche mich zu erinnern, ob sie ihm diese Frage in den letzten beiden Tagen ein einziges Mal selbst gestellt hat.

»Klar.« Was soll ich auch anderes sagen? Das Geständnis, dass ich nicht sicher bin, hätte sich angefühlt, als würde ich ihm in den Rücken fallen. »Ich glaube, der Jetlag macht ihm mehr zu schaffen als mir.«

Harper nickt und lächelt auf diese verständnisvolle mütterliche Weise, dir mir das Gefühl gibt, in einer US-Serie der Neunziger gelandet zu sein. Dass sie mir dabei den nächsten Kaffee in die Hand drückt, macht es nicht besser. »Und ihr habt euch nicht gestritten oder so?«

»Was? Nein, wieso?«

Gott sei Dank lässt sie meine Nachfrage mit einem Lächeln und einem Kopfschütteln fallen. »Ich wundere mich nur, dass er dich ganz allein in die Nähe seiner Mutter lässt. Er erzählt nicht sehr viel. So sind Jungs wohl. Aber eine Freundin unbeaufsichtigt in der Gegenwart einer Mutter ... Ich hatte einfach angenommen, dass er sich mehr Mühe gibt, dem vorzubeugen.« Dann scheint sie ein wenig über ihre eigenen Worte zu erschrecken und überspielt es mit einem zaghaften Lachen. »Versteh mich nicht falsch – ich bin sehr froh, dass er das nicht tut. Wir sind alle so neugierig auf das Mädchen, das er mit hierherbringt. Und vielleicht habe ich ja Glück, und du verrätst mir etwas mehr davon, wie es ihm in London geht.«

»Gut«, sage ich zuerst, entschließe mich dann aber, dass es wohl in Ordnung ist, Nates Mum wenigstens ein paar Kleinigkeiten zu erzählen. »Seit ein paar Wochen flucht er endlich über Touristen, wenn wir unterwegs sind. Wir sind wahnsinnig stolz auf ihn.«

»Wir?«

»Seine Mitbewohner und ich. Wir kennen uns über Amber.« Und als Harper beim Klang dieses Namens nicht den Anschein macht, als würde sie ihn kennen, erkläre ich noch: »Seine Mitbewohnerin. Sie und ich sind schon ewig befreundet. Und als in der WG Zimmer frei wurden ... Egal. So haben wir uns jedenfalls kennengelernt.« Allmählich dämmert mir, dass Nate ihr noch weniger erzählt haben muss, als ich bisher angenommen habe. Hat sie ihn überhaupt gefragt? Oder hat sie darauf gewartet, dass er jemanden mitbringt, dem das Reden leichter fällt?

»Und von euch lernt er das Fluchen über Touristen?« Sie klingt amüsiert, als könnte sie sich gar nicht vorstellen, dass ihr Sohn sich über die Idiotie fremder Menschen aufregt. Dabei zeigt er ein ausgeprägtes Talent dafür.

»Wie ein richtiger Großstädter«, bestätige ich und fürchte im selben Moment, damit vielleicht schon zu viel gesagt zu haben. Nicht zu viele Details, das nicht, und dennoch nichts, was eine Mutter hören möchte.

Tatsächlich ist das Lächeln, das sie mir nun schenkt, eine abgemilderte Version dessen, was ihr Gesicht eben noch zustande gebracht hat. Ehe sie antwortet, wirft sie einen Blick an mir vorbei. Zur Treppe.

»Kann ich dir eine Frage stellen, Elizabeth?« Ihre Frage ist entweder rhetorisch oder eilig, denn sie wartet keine Antwort ab. »Muss ich mich darauf einstellen, dass Nate uns eröffnen wird, dass er nicht wieder nach Hause zurückkommt?«

»Das kann ich dir nicht sagen.« Weil noch nicht April ist. Und weil ich völlig bescheuert gewesen sein muss, mir den April auszusuchen. »Lass uns im April noch mal drüber reden. Das ist jetzt noch viel zu früh.« Noch am Vorabend habe ich genau diese Worte in meinem Notizbuch festgehalten und hätte mich am liebsten für so viel Dummheit geschlagen. Das feige Ausweichmanöver am Weihnachtsabend, an dem ich geglaubt habe, für eine Antwort noch nicht bereit zu sein.

Harper nickt, als verstünde sie. »Er hat dich also zum Schweigen angehalten. Das sieht ihm ähnlich.« Sie atmet tief durch, und das Lächeln, mit dem sie mich dann bedenkt, wirkt, als würde es ihr schwerfallen. »Es freut mich ehrlich, dass er jemanden gefunden hat, dem er sich anvertraut. Das sollte das Wichtigste sein, oder?«

Das sollte es. Und ich gebe ihr recht, dass es schön wäre, hätte er so jemanden gefunden. Allerdings fürchte ich, das hat er nicht. Und falls doch, ist es ihm noch nicht klar.

Ich antworte nicht gleich, weil sich alles scheinheilig angefühlt hätte. Nate sitzt in seinem Kinderzimmer und ich bin diejenige, die er fortgeschickt hat – nicht die, für die seine Mutter mich hält. Und ehe ich dazu ansetzen kann, mich über ein paar Phrasen hinwegzuretten, spricht sie weiter. »Wirklich, es beruhigt mich sehr, dass es ihm gelingt, so gut Anschluss zu finden. Ich hatte immer befürchtet ... Aber das muss ich wohl nicht mehr.« Wieder dieses angestrengte Lächeln. »Also kann ich mich wohl darauf vorbereiten, dass er lieber weiter Touristen verflucht, anstatt sich mit dem Klatsch einer Kleinstadt ...« Sie verstummt, noch ehe ich die Schritte höre, die ausgesprochen zaghaft die Treppenstufen hinabkommen.

Es kostet mich sehr viel Anstrengung, mich nicht direkt zu Nate umzudrehen und damit noch viel ertappter zu wirken, als ich es bin. Ein Manöver, das seine Mum mit Bravour zunichtemacht. »Nathan! Möchtest du auch einen Kaffee? Deine Freundin und ich haben uns gerade ein wenig unterhalten.«

Einen winzigen Augenblick lang glaube ich, dass sie ihn darauf ansprechen wird. »Wir haben uns gerade gefragt, wie es ab Sommer für dich weitergeht und vor allem, wo.« Der unverfängliche, absolut berechtigte Gedanke einer Mutter. Nur vergesse ich diesen winzigen Augenblick lang, dass sie Nates Mutter ist und nicht meine.

Anstelle einer Nachfrage an ihren Sohn richtet Harper ihr Lächeln kurz an mich. Es ist anders als vorher – eine Bitte, wenn ich nicht irre. »Der Jetlag, nicht wahr, Elizabeth? Er setzt euch beiden ziemlich zu. Ich hoffe, bis zur Hochzeit übermorgen könnt ihr eure Augen etwas leichter offenhalten.«

»Kaffee wäre toll, Mom, danke«, sagt er und scheint zu wissen, dass seine Mutter sich daraufhin umgehend an die Maschine retten wird. Er sieht sie nicht einmal an, stattdessen liegt sein Blick auf mir.

Ich kenne diesen Ausdruck auf seinem Gesicht. Ich habe ihn noch nie bei Nate gesehen, trotzdem kenne ich ihn. Diesen Blick, wenn sich jemand sicher ist, dass er Mist gebaut hat und nun abwartet, was ich daraus mache. Meist sind es meine Mitarbeiter, die mich so ansehen. Nur ist hier in der Gegenwart seiner Mutter nicht der passende Raum, um ihm zu sagen, dass er sehr richtig einschätzt, dass diese Aktion eben nicht cool war. Dass wir uns in diesem Punkt also einig sind und dass das ausreicht, um die Sache zu vergessen.

Im Hotel habe ich diese kleine Ansprache mittlerweile perfektioniert. In der Küche von Nates Eltern muss ein Lächeln ausreichen. Zur Sicherheit klopfe ich noch sachte neben mich auf den Tresen, gegen den ich lümmle und wo ich meinen Kaffee nach wie vor eher festhalte als trinke.

»Auch schwarz?« Harper hat eine Tasse aus dem Regal hervorgeholt – rot mit irgendwelchen Comicfiguren drauf, die ich von meinem Platz aus nicht erkennen kann.

»Oh nein, das alte Ding hast du noch?« Nate seufzt genervt, wie man es von einem Sohn erwartet, dessen Mutter sich in seinen Augen danebenbenimmt.

Und Harper scheint genau das sichtlich zu genießen. Sie strahlt regelrecht. »Ich wollte sie letztens wegwerfen, als wir das neue Geschirr gekauft haben«, gesteht sie, während Nate sich zu mir stellt, sich mit den Unterarmen auf dem Tresen abstützt und seine Schulter sachte an meine lehnt. »Kim meinte, ich solle sie wenigstens aufheben, bis ihr hier gewesen seid. Sie hat darauf spekuliert, dass es vielleicht wenigstens eine Gelegenheit geben wird, dich damit bei Elizabeth vorzuführen.« Es klingt beinahe, als würde ein fieser Oberbösewicht aus einem Zeichentrickfilm seinen dunklen, blutrünstigen Plan verraten. Und Harper wirkt glücklich in dieser Rolle. »Also – auch schwarz?«

Nate wirft einen Blick auf meinen Kaffeebecher und rümpft leicht die Nase. »Ist vermutlich das Klügste.«

Seine Mutter nickt, stellt die Tasse unter die Maschine, drückt den entsprechenden Knopf und sieht dabei zu, wie der Kaffee das Gefäß allmählich füllt. Sie stellt Nate nicht dieselbe Frage wie mir. Dabei wäre die Gelegenheit perfekt, und er hätte sie ihr bestimmt beantworten können. Sie spricht auch nicht mehr über diese Tasse, deren Auftritt nun vorüber ist. Weiter reicht das Drehbuch einfach nicht, also bleibt ihr nur, den Kaffee zu beobachten, bis sie ihn an ihren Sohn weiterreichen kann.

»Ich schaue mal, wie weit sie mit dem Aufbau sind. Ihr zwei könnt ja einfach nachkommen, wenn ihr ausgetrunken habt.«

»Machen wir. Danke, Mom.« Im Augenwinkel sehe ich Nates Lächeln, mit dem er seine Mutter gehen lässt. Er sieht ihr nach, bis sie die Tür zur Küche von außen schließt.

Das ist der Moment, in dem seine Schulter, die noch immer an meiner lehnt, ein Stück nach unten sackt. Als hätte sie die Situation einen Moment zu lange tragen müssen, und nun gibt sie unter dem Atem nach, den Nate die ganze Zeit angehalten hat.