Nates Logbuch
Siebter Eintrag: Die Weihnachtspizza

Auf gar keinen Fall darf hier der Weihnachtsbesuch bei meinen Eltern fehlen – aus den offensichtlichen Gründen und auch, weil es so ganz anders war als hier in Camden. Es war ... leichter. Ich denke, das ist das richtige Wort. Aber vielleicht war es das ja auch nur für mich.

Für Nate war es sicher recht ungewohnt. Meine Mum hatte mir mitgeteilt, dass sie uns nicht vor vier Uhr erwartete. In ihrer Sprache hieß das, dass wir es auf keinen Fall wagen sollten, vorher aufzutauchen. Es war schon vorgekommen, dass sie die Tür einfach nicht öffnete, weil Besuch dramatisch zu früh davorstand.

Für Nate bedeutete das seinen ersten Weihnachtsmorgen, an dem einfach nichts passierte, das nicht auch an jedem anderen Morgen vorkam. Es gab keine Geschenke, wir behielten unsere gemütlichen Schlafsachen an, bis wir uns allmählich fertig machen mussten. Es lief keine Weihnachtsmusik, und meine Wohnung war frei von jedweder Dekoration.

Und am Nachmittag stand der arme Kerl gemeinsam mit mir in Hammersmith im zehnten Stock eines Wohnhauses und wartete vor einer blau gestrichenen Wohnungstür darauf, dass es vier Uhr wurde. Ich hatte ihm zwar gesagt, dass wir keine Minute eher klingeln würden, allerdings denke ich nicht, dass ihm bewusst war, wie wörtlich ich das meinte.

Ich habe keine Ahnung, ob diese Absonderlichkeiten seine Aufregung noch zusätzlich anstachelten. Jedenfalls machte er sich nicht ein einziges Mal darüber lustig, dass ich akkurat auf die Einhaltung der Uhrzeit achtete. Und diese Albernheit hätte ihm sicher den einen oder anderen Angriffspunkt gegeben. Nein, er nahm es hin, als ich ihm sagte, dass das »bei uns so ist« und harrte widerstandslos und noch dazu sehr schweigsam mit mir aus.

Ich glaube, ich hätte ihm dieses Kennenlernen etwas leichter machen können. Aber ich war viel zu erpicht darauf, Nate zu zeigen, wie meine Familie tickte. Also hatte ich ihm alles erzählt, was mir eingefallen war, und ließ ihn jede Eigenart der Familie Green ungefiltert erleben. Ich hatte ihm sogar verboten, ein Hemd zu seiner Jeans zu tragen, und ihn gezwungen, es gegen einen Hoodie zu tauschen. In meiner Tasche hielt ich außerdem Jogginghosen für ihn und mich bereit, um uns dem Dresscode final anzupassen, den ich von den letzten Jahren nun einmal gewohnt war. Gemütlichkeit und dicke Socken. »Wir sind eine Familie und keine Vorstandsversammlung«, sagt mein Dad immer. Und dann regt er sich kurz über den Heiligenschein auf, den Weihnachten dem Kapitalismus aufsetzt. Für einen Fernfahrer kann er zuweilen sehr pathetische Reden halten.
Und das alles erklärte ich Nate auf dem Weg zu meinen Eltern. Unterm Strich erzählte ich ihm ganz viel von dem »Wir«, das die beiden und ich bildeten, und übersah dabei, dass er selbst gar nicht dazugehörte. Dabei ließ ich die Einheit, die er und ich mittlerweile waren, völlig aus. Himmel, ich hatte ihn sogar gebeten, alles, was wir im Team gegen meine Ängste erreicht hatten, bloß nicht zu erwähnen, weil meine Eltern nichts davon wussten.

Ich hatte ihnen gesagt, dass ich wohlauf war, und war ihnen so gut es ging aus dem Weg gegangen, bis diese Aussage wieder zutraf. Sie wussten nichts von vergessenen Cheetos und teuflischen Rolltreppen.

Wenn ich es also aufs Simpelste hinunterbreche, kannte Nate alles, was die Beziehung zwischen meinen Eltern und mir ausmachte. Während meine Eltern nicht mehr kennenlernen würden als den Austauschamerikaner, der mit ihrer Tochter schlief. Sie würden von Zimtdonuts erfahren, von Filmabenden in seiner WG, bei denen Trinkspiele zu schlechten Drehbüchern abgehalten wurden. Darüber hinaus konnte ich ihnen einfach nicht erzählen, dass Nate ein Mensch ist, der weiß, wie man die U-Bahn besiegt. Das hätte bedeutet, ihnen zu gestehen, dass ich selbst das vergessen hatte.

Als wir zwei Minuten nach vier endlich klingelten, war es Dad, der öffnete. Ausgerechnet Dad. Sein »Komm rein« und die herzliche Umarmung galten mir, der musternde Blick wiederum Nate, dem er die Hand reichte und vermutlich genauso fest zupackte, wie man es von einem großen, bärtigen Rotschopf erwartete. »Du bist also Liz' Freund.« Ich kenne wenige Menschen, die wie mein Vater gleichermaßen herzlich und autoritär klingen können. Es war, als würde er ein ernst gemeintes Willkommen mit einer subtilen Drohung zusammenpacken.

Ich wartete vergeblich darauf, dass Nate irgendetwas Geistreiches erwiderte. Er ist kein so lauter, kein so einnehmender Charakter wie Dad. Trotzdem steht er ihm in seiner Souveränität in nichts nach. Eigentlich.

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr Green«, war das, was er schließlich sagte. Ich konnte nur beten, dass er wenigstens den Händedruck ordentlich erwiderte. Und ich überlegte, ob ich vergessen hatte, ihm irgendetwas zu erzählen, ihn auf irgendeine Eigenheit von Dad und auch Mum hinzuweisen.

Vermutlich war das Gegenteil der Fall. Er wusste ziemlich viel. Nur ist Wissen nicht dasselbe wie Zugehörigkeit. Nate war sich dessen nur allzu bewusst, und ich hatte noch keine Ahnung.

»Mh«, machte Dad, womit für ihn wohl alles gesagt war.

Ich seufzte. Diese Begegnung hatte ich mir anders vorgestellt, vor allem hatte ich sie mir anders gewünscht. Bloß wenn keiner der beiden beteiligten Männer seine Rolle so spielte, wie ich es erwartet hatte, konnte so ein spröder Plan nur implodieren.

»Wo steckt eigentlich Mum?« Ich gab mir ehrlich Mühe, beiläufig zu klingen, während ich mich meines Mantels und der Stiefel entledigte. Nate tat es mir unaufgefordert nach.

»Balkon.« Dad deutete hinter sich in den Flur. »Stellt das Dessert kalt. Dasselbe wie immer.«

»Ah, perfekt. Ist die Soße diesmal gelungen oder ist wieder die halbe Küche explodiert?« Ich plapperte, das merkte ich, doch das war mir lieber, als schweigend mit zwei Kerlen zusammen zu stehen, denen es anscheinend nicht gelingen wollte, sich auf Anhieb zu mögen. »Du musst wissen, Mums Weihnachtsdessert ist im Prinzip Panna Cotta. Nur mit Zimt. Und dazu macht sie die Karamellsoße selbst. Oder versucht es. Manchmal ist es geil, an anderen Tagen gibt es Zuckerwasser, da fällt mir ein ...« Oh, Gott sei Dank.

Fast hätte ich meine Erleichterung laut ausgesprochen, als ich sah, wie Mum aus dem Wohnzimmer in den Flur trat und auf unsere kleine Gruppe zusteuerte. »Mum, wir haben gerade gerätselt, welchen Zustand die Karamellsoße dieses Jahr hat.« Genau genommen hatte ich monologisiert, doch so viel Ausdehnung würde die Wahrheit schon vertragen.

»Es ist mehr Sirup als Soße, ganz wie dein Dad und du es mögt.« Dann verschränkte sie die Hände vor der Brust und sah erst mich an, dann Nate und dann zu Dad. »Hat es einen Grund, dass ihr immer noch bei der Tür steht? Ich mache nicht extra vor meiner Schicht noch Punsch, damit ihr hier Wurzeln schlagt.« Ihr Blick blieb etwas länger auf Dad liegen, kippte in eine sanfte Ermahnung und hellte sich auf, als sie an mich herantrat und mich in die Arme schloss. »Keine Bange, dein Dad wird sich benehmen«, flüsterte sie mir zu, und es fiel mir wahnsinnig leicht, ihr das zu glauben. Als wäre ich sechs und sie hätte mir hoch und heilig versprochen, dass auf den zweihundert Metern Schulweg wirklich keine Piratenbanden lauerten.

»Nate sich auch«, versicherte ich meinerseits, auch wenn mir lieber gewesen wäre, er würde sich etwas weniger gut und dafür mehr wie er selbst benehmen.

Mum gluckste, wie es eher Freundinnen im Teenageralter tun und gab mir damit den dezenten Hinweis darauf, dass sie auch ein wenig aufgeregt war. Da war immerhin ein Fremder in unserem inneren Kreis, den sonst nur Amber unbefangen betrat und wieder verließ.

Sie ließ mich los und hielt Nate nicht die Hand entgegen, wie Dad es getan hatte, sondern schloss ihn ebenfalls in ihre Arme. »Schön, dass du da bist«, konnte ich noch verstehen. Danach sah ich nur die Bewegung ihrer Lippen, konnte die Worte jedoch nicht ausmachen. Was sie sagte, ließ Nate dafür endlich sein Grinsen wiederfinden. Er nickte und sah wieder mehr wie er selbst aus, als Mum ihn aus ihrer Umarmung entließ. Nur ihre Hand blieb noch auf seiner Schulter liegen. »Ich bin übrigens Izzy und denk nicht mal dran, diesen Griesgram hier Mr Green zu nennen.« Damit deutete sie auf Dad und strahlte diesen mit einem Siegerinnenlächeln an. »Das hätte Ethan vermutlich gern. Aber den Unsinn lässt du schön bleiben, hörst du? Steigt ihm nur zu Kopf.«

Dad verdrehte die Augen und schnaufte. »Erzähl den beiden lieber, dass sie in diesem Aufzug hier nicht erwünscht sind.« Damit deutete er auf die Jeans, die Nate und ich trugen und die an einem Weihnachtstag der Familie Green nicht über den Eingangsbereich hinaus geduldet werden konnten.

Anmerkung 154: Nathan Moore zeigt deutliche Tendenzen, seinem direkten Umfeld jegliche soziale Kompetenzen abzusprechen. Vorhandene Ausbildung, Berufspraxis oder vergangene Erlebnisse, die dies entkräften, werden von ihm kategorisch ignoriert.

Eigentlich habe ich einfach weitererzählen wollen. Davon, wie Nate und ich uns dem Dresscode meiner Familie angepasst und die Jeans gegen Jogginghosen eingetauscht haben. Von meinem Eindruck, dass sich Nate zwar anstandslos umgezogen hatte, aber nie richtig zu wissen schien, was er von dieser Situation halten sollte. Ich wollte erwähnen, wie er zu keiner Zeit meine Bitte ausgeschlagen oder auch nur infrage gestellt hat, meinen Eltern gegenüber kein Wort über mein U-Bahn-Dilemma zu erzählen.

Ich hatte vorgehabt, schwer verliebt davon zu berichten, wie Nate ganz selbstverständlich zustimmte, Mum bei der Pizza zu helfen. Während Dad und ich uns mit dem Schneiden von ein bisschen Gemüse aufhielten, erledigten die beiden den ganzen Rest. Meine Mutter war restlos begeistert von so viel widerstandsloser Unterstützung und Dad betitelte Nate nach nur einer halben Stunde als Schwiegermutterstreber. Eine weitere halbe Stunde dauerte es, bis Nate klar wurde, dass dieser Titel grundsätzlich etwas Gutes war. Und ich glaube, das war auch in etwa der Zeitpunkt, an dem er angefangen hat, sich wieder wie mein Nate aus Arkansas zu benehmen. Die Pizza war längst gegessen, ehe er das erste Mal über eine Geschichte von Mums Arbeit gelacht und selbst eine Anekdote über Amber und mich zum Besten gegeben hatte.

Rückblickend hätte wohl nur wenig besser laufen können. Und mein Plan war gewesen, über diesen beeindruckend unkomplizierten Nachmittag zu schreiben. Nur das. Nichts weiter.

Nur funktioniert es einfach nicht, schöne Erinnerungen festzuhalten, wenn man die ganze Zeit den Vergleich zur Gegenwart ziehen muss. Mir war klar, dass es anstrengender sein würde, Nates Eltern kennenzulernen – sowohl für mich als auch für ihn. Ich war nicht so naiv zu glauben, dass es nicht merkwürdig sein würde. Doch ich habe eben auch fest damit gerechnet, dass es irgendwann aufhört, merkwürdig zu sein.

Eine Stunde etwa. So lange hat es bei meinen Eltern gedauert, bis ich das Gefühl hatte, entspannen zu können. Dad hatte Nate akzeptiert und Mum war ganz verknallt in ihn. Mit Sicherheit wurde das Erste durch das Zweite mit verursacht. Aber nicht nur. Mit Sicherheit nicht nur.

Ich glaube, es war gegen halb acht, als ich Dad in die Küche begleitete, um neuen Punsch und noch ein paar von Mums Cookies zu holen. Nate und Mum waren im Wohnzimmer geblieben – die Krankenschwester und der angehende Sozialarbeiter waren völlig vertieft in ein Gespräch über Nates Projekt und Mums Jahre auf einer onkologischen Kinder- und Jugendstation. Eine Zeit, die schon über zehn Jahre zurücklag und die dennoch eine Erinnerung war, die sie immer wieder hervorholte. Dad und ich waren längst zu einem Publikum geworden, das sich hin und wieder ein wissendes Schmunzeln oder dem Gespräch einen Kommentar schenkte. Das Brettspiel, das wir begonnen hatten, war schon vor einer Weile in unseren Gesprächen versandet, stand allerdings immer noch auf dem Tisch und wartete darauf, dass ihm wieder Aufmerksamkeit zuteilwurde.

Als wir in der Küche waren, ließ Dad sich noch so viel Zeit, wie ich brauchte, um die Punschschüssel aus dem Kühlschrank zu holen, ehe er die klassische Frage stellte. Es war merkwürdig, sie von ihm zu hören. »Du magst ihn, oder?«

Zugegeben – ich war etwas nervös, als ich ihm antwortete. Nicht, weil ich unsicher gewesen wäre, wie die Antwort auf seine Frage war. Ich wusste nur nicht mit Bestimmtheit, wie sein Urteil über diese Antwort ausfallen würde. »Dad, man muss einen Menschen schon sehr mögen, um ihn dir zum Fraß vorzuwerfen.«

Der Bart um seine Mundwinkel herum zuckte ein wenig und ein belustigtes Grunzen entwich seiner Kehle. Mehr sagte er nicht.

Nun war ich fünfundzwanzig Jahre alt, und mir hätte egal sein können, was mein Vater von meinem Freund hielt. Nur war er eben mein Dad. Ich glaube nicht, dass eine Tochter je wirklich damit aufhört, ihren Dad zu vergöttern, solange er ihr keinen Grund dafür gibt. Also musste ich einfach nachhaken. »Zweifelst du an meinem Urteilsvermögen?«

Diesmal gluckste er, was nur eine Nuance von seinem Grunzen entfernt war. Man musste ihn eine Weile kennen, um diese feinen Unterschiede zu erkennen. »Wohl eher an meinem.«

»Deinem?« Gott sei Dank ist mein Dad nicht nur ein Mann, der wenige Worte verliert – er braucht auch nicht viele. Dieses eine und ein Stirnrunzeln reichten ihm, um sich zu erklären.

»Ich hätte bei dir einfach immer mit einem anderen Typ Mann gerechnet.«

Ich lachte und spähte kurz in Richtung Küchentür. »Ganz ehrlich? Ich auch.«

Diesmal war Dad derjenige, der nur seine Augenbrauen hob.

»Mehr wie du«, gestand ich. »Mürrischer Kerl, Bart, vielleicht Tätowierungen und natürlich Schotte.« Das passte nicht unbedingt mit meiner Schwärmerei für Henry Cavill zusammen, sehr wohl aber mit meiner realistischen Vorstellung davon, welche Art von Mann ich an meiner Seite erwartet hätte. »Ich hab da mal drüber nachgedacht.« Das hatte ich tatsächlich.

»Oh nein«, entfuhr es Dad, doch nun hatte ich schon ausgeholt, also erklärte ich auch zu Ende.

»Ich bin doch schon wie du. Noch so jemand an meiner Seite kann unmöglich gut gehen. Ich denke, es ist schon ganz logisch, dass ich jetzt jemanden habe, der eher ist wie Mum. Nur eben als Mann. Und etwas ruhiger.«

»Etwas ...«, lachte Dad, und er hatte recht. Das war hochgradig untertrieben. Und dann stellte er die erste Frage zu Nate, die er wohl weder aus Höflichkeit noch aufgrund väterlicher Skepsis stellte, sondern aus ehrlichem Interesse. »Trinkt dein Freund Bier?«

Diese Frage konnte ich beantworten, alle weiteren stellte er Nate, als wir zurückkamen – ich mit den zwei Punschgläsern für Mum und mich und Dad mit den zwei Flaschen Bier, von denen er eine Nate reichte und umgehend mit ihm anstieß. Eine winzige Geste, die meinem Freund einen grenzenlos irritierten Blick abverlangte und meiner Mutter ein Na-geht-doch-Lächeln.

»Seid ihr zwei jetzt mit eurer Fachbesprechung durch?«, hakte Dad nach und setzte sich wieder auf seinen Sessel.

»Nach einer Viertelstunde?«, gab Mum zurück. »Noch lange nicht. Das Konzept, bei dem Nate mitwirkt, ist wahnsinnig faszinierend. Vor allem im sozialen Bereich. Wir hatten den Gedanken auch oft bei uns in der Klinik, aber Tiere und die hygienischen Bestimmungen ... Ich finde es toll, dass es auf anderer Ebene viel unkomplizierter funktioniert. Und den Tieren ist ja auch geholfen. Wirklich, Ethan, das ist eine ganz großartige Idee, die die jungen Leute da haben ...« Es war deutlich, dass das kein Versuch mehr war, Dad für Nate zu begeistern, sondern ehrliche Faszination für sein Projekt. »Es wäre wirklich wünschenswert, wenn sich das etabliert. Stell dir nur vor – Kinder, die ständig durch verschiedene Pflegestellen ziehen müssen, immer wechselnde Bezugspersonen. So ein Hund kann genau der Anker sein, den sie brauchen. Sie müssen nur lernen, damit umzugehen und ...« Sie seufzte. »Ich plappere.«

Dad schmunzelte und zwinkerte mir zu. Etwas ruhiger, also. Etwas ... »Was meinst du, Nate – ist dieses Konzept auch in den USA so umsetzbar? Ich kenne mich nicht aus, welche Möglichkeiten und Einrichtungen es gibt, um Kinder und Jugendliche aufzufangen ...«

»Man kann das mit Sicherheit adaptieren«, antwortete Nate frei heraus, während ich schon ahnte, auf welche Fährte Dad ihn locken wollte.

»Ist das dein Plan? Also, es dort genauso umzusetzen?«, fragte er weiter. »Ich hoffe, du nimmst mir die Frage nicht übel, aber wenn ich es richtig sehe, hat meine Frau gerade ihr Herz an dich verloren, und ich wäre untröstlich, wenn es ihr gebrochen wird. Wenn auch für einen guten Zweck.« Ich war Dad dankbar für das Höchstmaß an Diplomatie, zu dem er fähig war. Er hatte es geschafft, ausschließlich neugierig zu klingen und nicht einmal ansatzweise vorwurfsvoll.

Nur tat das das nicht viel zur Sache. Ich fing Nates Blick auf, der natürlich direkt zu mir huschte, und auf einmal wieder genauso viel Unsicherheit verriet wie vor ein paar Stunden noch. »Das ...«, begann er, dann schienen ihm die Worte auch schon auszugehen. Mühsam klaubte er noch ein paar zusammen. »Das war der Plan, mit dem ich hergekommen bin, ja. Ich habe mir bisher noch nicht viele Gedanken über andere Optionen gemacht.«

»Es ist ja auch noch viel Zeit«, mischte sich Mum ein und schaffte es dabei, herrlich beiläufig an ihrem Punsch zu nippen. »Ein halbes Jahr, oder? Wer weiß, wie viele Optionen sich in einem halben Jahr noch bieten.« Sie sah kurz zu Dad, doch ich konnte ihren Blick nicht sehen. War er tadelnd? Wütend? Oder etwas ganz anderes? »Ethan vergisst gern, dass einem ständig neue Möglichkeiten begegnen, wenn man jung ist. Bei ihm ist das einfach schon so lange her. Mit Mitte zwanzig dauert ein halbes Jahr einfach viel länger als mit fünfzig.«

»Neunundvierzig«, brummte Dad.

»Nicht mehr lange«, erinnerte Mum ihn und erzählte mir dann taufrisch von den Rückenschmerzen, über die mein Vater sich neuerdings beklagte. Das Thema um Nates Aufenthalt in England ließ sie nicht noch einmal zu. Ich glaube, dass sie mir und ihm damit einen Gefallen tun wollte. Aber im Prinzip hieß es für mich nur, dass Dads Frage in meinem Hinterkopf weggesperrt wurde und dort rebellierte, bis wir eine gute Stunde später aufbrachen und ich sie wieder daraus entlassen konnte.

Wir hatten gerade mal den Fahrstuhl betreten, als ich das Thema auch schon aufgriff. Keine Einleitung, keine Aufwärmphase.

»Was Dad vorhin meinte ... mit deinem Projekt. Hast du wirklich noch nicht darüber nachgedacht? Also ... wie es damit ab dem Sommer weitergeht?«

Diesmal schien Nate die Frage nicht zu überraschen. Das hieß trotzdem nicht, dass er sofort Worte fand. Stattdessen bewunderte er die Anzeige der Stockwerke, die sich sehr behäbig verringerte. Acht ... Sieben ... Auf Etage sechs oder fünf atmete er tief ein und gab mir dann eine vage Antwort, die eigentlich keine war. »Ich müsste mit der Uni sprechen, welche Optionen es gibt. Das Visum ist ein Thema und meine Familie. Sie haben sich auf ein Jahr eingestellt. Und ich ja auch. Das WG-Zimmer habe ich nur so lange und ...«

»Mum hat recht.« Etage zwei. Wir waren noch nicht einmal unten angekommen und ich hatte schon beschlossen, dass ich die Antwort auf meine Frage, die ich im zehnten Stockwerk gestellt hatte, nicht hören wollte. »Es ist noch ewig Zeit. Jetzt ist Dezember, du bist nicht mal drei Monate hier. Warum solltest du dir darüber schon Gedanken machen? Das ist völlig bescheuert. Darüber kannst du immer noch nachdenken, wenn ... Im März oder im April. Nach der Hochzeit von deiner Schwester. Dort kannst du mit deiner Familie reden. Und im April kann Dad dann seine Antwort haben. So lange muss er halt warten. Was gerade die viel dringlichere Frage ist: Was hat Mum dir gesagt, als wir angekommen sind?«

»Was?« Nate schien irgendwo in dem Wust meiner Wörter hängen geblieben zu sein. Und es war ihm nicht gelungen, mir auf mein kleines, zweifelhaftes Rettungsboot zu folgen, von dem ich so froh war, es gefunden zu haben.

»Als sie dich begrüßt hat. Sie hat dir irgendwas gesagt und du musstest grinsen. Es kann also nur eine Gemeinheit gewesen sein.«

Tatsächlich spiegelte sich das Echo dieses Grinsens kurz auf seinen Zügen wider, während der Fahrstuhl zum Stehen kam und wir ausstiegen. »Sie meinte nur, dass du der größte Sturkopf in ihrer Familie wärst. Wenn ich dich für mich gewonnen habe, dann wird Ethan ein Kinderspiel sein.«

Ich schmunzelte und nickte. Und schlussendlich hatte Mum wohl auch recht behalten.

»Wegen dieser anderen Sache ...«, hob Nate noch einmal an. Und ich hätte ihn ausreden lassen sollen. Auch wenn ich keine Ahnung habe, was er mir gesagt hätte, ich hätte es schon irgendwie überstanden – besser, als nun im März hier zu sitzen und immer noch keine Antworten zu haben.

»April«, unterbrach ich ihn. »Bis dahin kann sich noch so viel ändern. Lass uns im April noch mal drüber reden. Das ist jetzt noch viel zu früh. Nur tu mir einen Gefallen, ja?« Ich sah ihn nicht einmal an, während ich diese blöde Klischeebitte äußerte. Ich ging einfach nur an ihm vorbei nach draußen, während er mir die Tür aufhielt. »Was auch immer du machst, mach das nicht meinetwegen. Wenn du in zehn Jahren feststellst, dass ich eine verbitterte blöde Hexe bin, will ich nicht Vorwürfe dafür hören, dass ich dich gezwungen habe, hierzubleiben. Okay?«

Nate nickte und murmelte ein »Okay.«

Ich habe bescheuert reagiert, das weiß ich. Das waren wahnsinnig viele leere Worte und ein wahnsinnig weit entfernter Zeitpunkt, nur um nicht sagen zu müssen: »Ich will nicht, dass du gehst.«

Ich hatte Schiss. Ich meinte durchaus ernst, dass ich nicht wollte, dass du deine Entscheidung nur meinetwegen triffst. Nur war das vermutlich der einzig wirklich kluge Gedanke, den ich in diesem Moment hatte. Immerhin waren wir zu dem Zeitpunkt kaum drei Monate zusammen. Und ich hatte Bedenken, dass du eine von Hormonen getragene Entscheidung triffst, deren Geschäftsbedingungen du bestenfalls durch die rosarote Brille studiert hast. Und gleichzeitig auch davor, dass du vielleicht längst einen Beschluss gefasst hast, der mir wehtun würde. Ehrlich gesagt hat die zweite Vorstellung mir noch mehr Angst gemacht. Das ist egoistisch, aber schlicht logisch.

Also habe ich es vertagt. Als wäre es leichter, so was zu hören, nachdem man noch mehr Zeit zusammen verbracht hat. Wie unfassbar dämlich kann man sein?

Im Prinzip hatte ich zwei Hoffnungen.

Zum einen natürlich, dass du bleibst. Nur hättest du mir das doch längst gesagt. Oder?

Und zum anderen, dass meine eigene rosarote Brille abgelegt sein würde, ehe du mir sagst, dass du London planmäßig wieder verlassen wirst. Ich dachte, dass das weniger schlimm ist, wenn man ein etwas desillusioniertes Bild vom anderen hat. Ganz pragmatisch, sozusagen.

Weißt du was? Ich glaube, das mit der Desillusionierung hat funktioniert. Ich meine, alles, was du genießbar zubereiten kannst, sind Pancakes. Wenn ich mich aufrege, bleibst du einfach so lange ruhig, bis ich meine Klappe halte. Das ist wahnsinnig nervig, weißt du das eigentlich? Du könntest mir wenigstens ein Mal zugestehen, dass ich mich zurecht in Dinge reinsteigere. Und hast du die leiseste Ahnung, wie teuer mein Shampoo ist? Wieso verbrauchst du davon mehr als ich, wenn du bei mir bist? Was zur Hölle stellst du damit an? Und wenn du betrunken bist, lachst du über die dümmsten Witze. Man könnte meinen, dein Niveau wäre im Wodka ersoffen.

Und noch was: Wenn du mir jetzt sagst, dass du wieder hierher zurückkehrst, wird es trotzdem mehr wehtun als im Dezember. Das ist vermutlich der beschissenste Fakt von allen.

Ich habe den Faden verloren, tut mir leid. Vermutlich ist es der Jetlag, der mich den Fokus etwas aus den Augen verlieren lässt. Eigentlich wollte ich die Gelegenheit nutzen, mir etwas Luft zu machen. Ich weiß, dass diese Notizbücher anders gedacht waren. Wie ein schriftliches Fotoalbum, nicht als Tagebuch und gleich gar nicht als Brief. Scheiß drauf. Ich habe dir mittlerweile etliche Beispiele geliefert, die dir klarmachen sollten, dass du viel, viel mehr bist, als du anscheinend glaubst zu sein. Du und jeder andere hier. Wir sind jetzt fast drei Tage hier, und langsam frage ich mich, was zur Hölle nicht mit euch stimmt.

Wie geht es dir, Nate?

Die ganze Zeit dreht sich hier alles nur um diese Hochzeit. Natürlich steht die im Vordergrund. Die Organisation läuft auf Hochtouren. Es wird Kims großer Tag sein, und es ist zuckersüß, wie sie in ihrer Vorfreude aufgeht. Aber du warst ein halbes Jahr nicht hier. Wieso ist nicht einmal ein kurzer Moment Zeit dafür, dich die einfachsten Dinge zu fragen? Interessiert es ehrlich niemanden?

Wie geht es dir in London?

Wie geht es dir bei deinem Studium, mit dem Projekt?

Wie geht es dir mit Liz und den neuen Freunden, die du da drüben hast?

Wie geht es dir damit, wieder hier zu sein?

Nicht ein einziges Mal hat dich das irgendjemand gefragt. Wieso nicht? Und wieso scheint das für alle normal zu sein? Das ist nicht normal, Nate. So, wie es Weihnachten bei meinen Eltern war, das ist normal. Wie du Mum völlig begeistert von deinen Projekten erzählt hast, weil endlich jemand mit derselben sozialen Ader dir zugehört hat – und sogar dein Fachlatein wenigstens halbwegs verstanden hat. Dass Dad und ich uns über euch zwei lustig gemacht haben, das ist auch normal.

Bitte sag mir, dass dir das genauso fehlt wie mir. Oder denkst du, dass es so sein sollte wie hier gerade? Das kannst du doch nicht wirklich glauben.

Bitte sag mir, dass dich das genauso aufregt wie mich. Sag mir, dass es normalerweise anders läuft und ich nur einen schlechten Eindruck bekommen habe. Sag mir, dass das irgendein schräger Insiderwitz ist, den ich einfach nicht kapiere.

Und bitte sag mir verdammt noch mal, wie es dir geht. Ich habe nämlich keine Ahnung.