Nates Logbuch
Achter Eintrag: Auld Lang Syne

Ich glaube, diese ist eine meiner liebsten Erinnerungen. Die Überschrift lässt vielleicht schon erahnen, wieso. Himmel, ich werde dieses Lied vermutlich nie wieder hören können, ohne entweder zu kichern oder zu weinen. Je nach Grundstimmung. Vermutlich schaffe ich es nicht, alles aufzuschreiben, ehe wir losmüssen, aber ich kann ja wenigstens anfangen.

In etwa einer Stunde werden wir mit Kim und Ian aufbrechen, um uns mit den Eltern und, ich glaube, einer weiteren Freundin zum Grillen zu treffen. Um den letzten Abend der beiden als unverheiratetes Paar zu zelebrieren. Wo ich herkomme, macht man so was meist mit viel Alkohol und unter Freunden, die versuchen, einen zu Dummheiten anzustiften – und sei es nur Karaoke. Hier ist es ein großer Steingrill im Vorgarten. Allerdings besteht meine Weihnachtstradition aus Pizza, also werde ich nicht vorschnell urteilen.

Nate sitzt neben mir, und vor ein paar Minuten habe ich mit den Beteuerungen aufgehört, dass das nur ein doofer Grillabend ist und alles viel undramatischer sein wird, als es sich jetzt in seinem Kopf darstellt.

»Das Safeword weißt du noch?«

Es ist etwa zehn Minuten her, dass ich ihn das gefragt habe. Mein letzter Versuch, ihm ein Lächeln zu entlocken, vielleicht etwas mehr. Stattdessen hat er mich nur mit einem skeptischen Blick bedacht. »Natürlich weiß ich das noch.«

»Gut.«

Seither habe ich ihn in Ruhe gelassen und hoffe, dass er es wirklich noch weiß. Und dass er es nicht brauchen wird. Ich möchte mit der Prophezeiung für diesen Abend unbedingt recht behalten. Nate soll in ein paar Stunden mit mir hierher zurück spazieren und sich selbst wundern, wieso er sich eigentlich so viele Gedanken gemacht hat. Ich glaube, dass ihm das guttun würde. Und mir wäre es eine Hilfe. Ich habe nämlich keine Ahnung, was ich tun soll, falls er wirklich von diesem Notruf Gebrauch macht.

Besagtes Safeword haben wir für die Jahresendgala vereinbart. Es war seine Idee, und sie war absolut wasserdicht: »Aubergine. Das Bild. Nicht das Wort. Wenn du das ernsthaft losschicken kannst, ohne drüber lachen zu müssen, ist das eindeutig ein Notfall. Dann mache ich mich sofort auf den Weg zum Hotel. Versprochen.«

Und tatsächlich gab es an Silvester zwei Situationen, in denen ich überlegt habe, Nate die Aubergine zu schicken.

Das erste Mal war es etwa sieben Uhr am Abend. Wir hatten die vier großen Veranstaltungsräume zu einem großen Bankettsaal zusammengeschlossen, sodass die Gäste, die mittlerweile fast vollzählig waren, zu einem großen, bedrohlichen Gewimmel mutiert waren. Ich wusste, dass die runden Tische perfekt angeordnet waren, dass die Wege dazwischen ausreichend breit waren, um dem Serviceteam den Zugang so einfach wie möglich zu gestalten. Aber noch waren zahlreiche wichtige Menschen damit beschäftigt, durch die Gegend zu laufen und andere wichtige Menschen zu begrüßen.

Ich kannte den Plan, ich kannte die Bestuhlung. Ich hatte sogar die Sitzordnung in meiner Mappe bei mir, wusste, wo welcher Name platziert war, ohne die dazugehörigen Gesichter zu kennen. Ganz zu schweigen von der Stationierung der Kellner. Die zwölf Gänge, die serviert werden würden – jeder stellvertretend für einen Monat des erfolgreichen vergangenen Jahres – kannte ich auswendig, ebenso die Unverträglichkeiten und Ausweichpläne für genau siebenunddreißig Gäste. Ich war das gottverdammte Lexikon dieses Abends, und was ich nicht wusste, hatte ich bei mir.

Dennoch brauchte es nicht mehr als Sir Harold Benton, den Initiator dieser Gala, der mich erblickte, begrüßte, und mich zwei seiner Kollegen vorstellen wollte. Damit war ich gezwungen, in die Menschenmenge hineinzulaufen und hatte dabei die Hand eines Mannes an meinem Ellenbogen, dem ich bisher vielleicht vier Mal begegnet war. Er hielt mich nicht einmal richtig fest, und ich glaube, dass ich auch mehr als genug Abstand zu jeder Person halten konnte, an der er mich vorbeimanövrierte.

Und trotzdem musste ich mich sehr auf meine Atmung konzentrieren, als er die kleine Gruppe erreichte, die er angesteuert hatte. Ich hatte Mühe, mir ihre Namen zu merken. Schon das Lächeln und Nicken fiel mir schwer. Es gelang. Weil ich mittlerweile wusste, dass man auch dann noch lächeln kann, wenn sich der Herzschlag längst mit dem Brustbein duelliert. Ich wusste auch, dass das Brustbein für gewöhnlich gewinnt und dass man nicht atmen muss, um eine Hand zu schütteln und einfach immer weiter zu lächeln.

Es dauerte ewig, bis ich eine passende Gelegenheit ausmachen konnte, um mich mit einem fadenscheinigen Vorwand zu entschuldigen und zu den Personaltoiletten durchzuschlagen. Dort schloss ich mich in eine Kabine ein, versuchte, tief durchzuatmen, und scheiterte daran. Meine Hände zitterten, mein Puls raste. Und Luft war keine da.

Ich zückte mein Handy und war wirklich drauf und dran, einen Hilferuf abzusetzen. Nur war ich mit diesem Gedanken nicht die Erste. Nate war mir um zwei Nachrichten voraus: »Amber hat mir eben den Songtext vorgelegt. Ich muss bis heute Abend jede Strophe von Auld Lang Syne kennen. Ich singe auf keinen Fall. Sag mir, dass du sie einfach nur zu einem schlechten Scherz angestiftet hast, sonst bin ich derjenige, der von der Aubergine Gebrauch macht.« Und darunter: »Funktioniert die so rum überhaupt? Ich hänge schließlich nur bei Freunden fest, du bei reichen Schnöseln. Wie groß muss der Notfall sein, damit du die für mich sitzen lässt?«

»Auld Lang Syne« ist eine Tradition, die Amber schon immer ausgesprochen ernst genommen hat. Und da ihr eigener Freund in diesem Jahr genauso wenig dazu verdonnert werden konnte wie ich, musste eben meiner herhalten. Das war nicht unbedingt der fairste Deal, doch er führte Nate nah genug an den Rand der Verzweiflung, dass es mir ein Grinsen entlockte und dieses beschissene Angstrauschen in meinem Kopf und meinen Ohren leiser werden ließ. Ich musste sogar ein wenig lachen. Und Atmen ist etwas, das mit Lachen ziemlich gut korrespondiert.

Einen weiteren tiefen Atemzug später beschloss ich, dass eine Aubergine nicht nötig sein würde. Nicht im Moment. Und dass Nate einen Lichtblick verdient hatte: »Aubergine zählt nur für mich. Aber wenn du das Lied mit schottischem Akzent singst, lasse ich hier alles stehen und liegen und fahre zu dir. Nackt.«

Nates Antwort erreichte mich noch, ehe ich wieder zu meiner Arbeit zurückkehrte, um allmählich die Gäste zu platzieren, damit der erste Gang starten konnte. Die Nachricht, die er schickte, war kurz und wirksam. »Deal.« Mit diesem einen Wort saß das Grinsen noch etwas stabiler in meinem Gesicht.

Damit bewältigte ich diesen Abend. Es lief sogar ausgesprochen gut, und wenn es kurz ins Stocken geriet, dachte ich an diese albernen Nachrichten.

Ursache für meinen zweiten, kleineren Anflug von Notfall war ... Keine Ahnung. Wahrscheinlich ist es normal, dass Menschen in den letzten Minuten eines Jahres sentimental werden. Wie eine Falle, die das alte Jahr uns stellt, um wenigstens unseren Wehmut einzufangen, wenn schon wir selbst weiterziehen.

Es war kurz vor Mitternacht, das Licht im Veranstaltungssaal war mittlerweile gedimmt, damit der perfekte Blick auf die Themse und das London Eye nicht durch künstliches Licht irritiert werden konnte. Meine Mitarbeiter huschten mit Tabletts voller Champagnergläser durch die Menge, um jeden mit dem zu versorgen, was es nun einmal braucht, um auf ein neues Jahr anzustoßen.

An der Stelle habe ich vorhin aufhören müssen, weil wir aufgebrochen sind. Jetzt bin ich wieder hier und dachte, ich lenke mich damit ab, indem ich mit dem Schreiben weitermache. Ganz offensichtlich ist es ja mehr als nötig, dich daran zu erinnern, wie du normalerweise bist.

Was zur Hölle sollte diese Scheiße, Nate? Und wo bleibt bitte deine Entschuldigung? Ich meine ... Ich bin in einem dermaßen albernen Schneckentempo hierhergelaufen. Du hättest jede Chance gehabt, mich einzuholen oder mich anzurufen oder irgendwas. Ich frage mich ehrlich, was du stattdessen machst. Lässt du dich gerade dazu beglückwünschen, als vorbildliches Alphatier dein Frauchen zur Raison gebracht zu haben? Weißt du, genau so stell ich es mir vor, wie dein Vater Konflikte löst. Ganz genau so.

Wenn du das gebraucht hast – bitte! Von mir aus! Aber du hast versprochen, dass du Bescheid gibst, wenn du was brauchst. Zu dumm, dass du vergessen hast, mir zu sagen, dass du es nötig hast, dich wie ein chauvinistisches Arschloch aus den Fünfzigern zu verhalten. War es so wichtig, deine unbezwingbare Männlichkeit unter Beweis zu stellen? Auf diese Art? Ehrlich jetzt?

Scheiß drauf, denn weißt du was? Ich hätte mich auf diese bescheuerte Show eben echt eingelassen. Wenn es das ist, was deine Familie braucht, damit sie deine Anwesenheit toleriert. Nur musst du mir das auch sagen, verdammt noch mal! Nichts davon hätte wehgetan, wenn du mich mit ins Boot geholt hättest. Du musst doch einfach nur mit mir reden ... Seit wann ist das bitte so schwer?