Nates Logbuch
Fortsetzung achter Eintrag: Aus Prinzip

Ich war mir eigentlich sehr sicher, dass mir klar ist, dass du nicht perfekt bist. Einfach aus dem Grund, dass niemand perfekt sein kann. Vollkommenheit ist eine dumme Lüge, die uns rosafarbene, glitzernde Hormone der Verliebtheit vorgaukeln.

Ich war wirklich überzeugt, dass mir vollkommen bewusst war, dass du auch nur ein Mensch bist. Manchmal etwas merkwürdig, dafür sehr oft auch ziemlich großartig. Das zweite habe ich sogar auf Band. Ich habe eine astreine Aufnahme davon, dass du der fürsorglichste Mensch sein kannst, der diesem Kaff hier vermutlich je entsprungen ist. Meine Güte, ich kann es nicht fassen, dass du den ganzen Weg nach England gemacht hast, um das hier alles hinter dir zu lassen. Oder um endlich jemand zu sein, der nicht nur aus seiner Vergangenheit besteht. Das ist dir gelungen, weißt du? Und dann kommst du wieder her und bist auf einmal nicht mehr da. Wo zur Hölle steckt der Nate, den ich kenne? Und warum ist er nicht hier?

Ich muss aufhören, dich direkt anzusprechen. Das hier ist Papier, das du vermutlich lesen wirst – auch wenn ich mittlerweile keine wirkliche Ahnung habe, unter welchen Umständen und wann das sein wird. Antworten wirst du mir auf keine meiner Fragen. Jedenfalls nicht hierüber. Und vor allem nicht jetzt, wo ich diese Antworten echt gebrauchen könnte.

Mitternacht. Es war wie gesagt Mitternacht. An dieser Stelle hatte ich vorhin aufgehört. Mit dem Start ins neue Jahr, dem Moment, in dem dreihundert Gäste jubelten, sich beglückwünschten, umarmten und küssten. Mit dem Feuerwerk, von dem ich nur kleine Ausschnitte über diese ganzen Köpfe hinweg sehen konnte. Ich selbst stand an einem der Ausgänge und beobachtete mein Team dabei, wie es bereits anfing, Tische abzuräumen und für das spektakuläre Dessert einzudecken.

Ich nahm die ganzen guten Wünsche für ein schönes 2019 entgegen, die mir im Vorbeigehen gemacht wurden, und erwiderte jeden mit einer von drei bereitgelegten Floskeln. Das Ganze dauerte etwa fünf Minuten, bis ich es satthatte und mich bei meiner Kollegin mit einem »Bin gleich wieder da« entschuldigte.

Ich wollte wenigstens kurz mit jemandem sprechen, der mir wichtig war. Etwas abseits vom Geschehen zückte ich mein Handy. Es war von Vorteil, dass abgesehen von meinen Eltern die mir wichtigsten Menschen ohnehin an einem Platz waren, also dachte ich, ich rufe einfach so lange jeden von ihnen an, bis ich einen erwische.

Mich hätte vermutlich nicht überraschen sollen, dass Nate mir längst zuvorgekommen war. Die Sprachnachricht, die auf mich wartete, dauerte über vier Minuten. Er musste die Aufnahme also fast unmittelbar Schlag zwölf gestartet haben.

»Die Sache ist die, Liz, du bist nicht hier. Das ist dir vermutlich aufgefallen. Also habe ich hier diese ganzen Chaoten am Hals, und ich weigere mich, dich so einfach davonkommen zu lassen. Da du fürs Telefon vermutlich keine Zeit hast, kriegst du eine Aufzeichnung. Damit hast du keine Ausrede mehr. Dumm gelaufen, was? He!« Diese Einleitung endete mit einem Zuruf an eine andere Person, den ich nicht verstand, und ging direkt in das Gelächter von Logan über, der sich darüber ausließ, wie gut ich meinen Freund erzogen hätte. Er vertiefte sich kurz in Theorien, wie ich Nate diese kleine Aktion danken würde und erinnerte mich dann daran, morgen zum Brunch nicht zu vergessen, genießbaren Kaffee mitzubringen, ehe er mich an seine Freundin übergab.

Nach Eve hatte Amber Nates Telefon. »Scheiße, ich hab dir gerade eine Nachricht geschickt. Muss ich das jetzt wirklich alles noch mal laut sagen?«

»Sie ist nicht hier. Sie hat es nicht anders verdient«, hörte ich Nate im Hintergrund. Ich glaube, ab diesem Punkt hat es angefangen, wehzutun. Nicht »hier« zu sein.

»Meinetwegen. Aber Liz, ich bin empört, dass du deinen Kerl nicht besser im Griff hast. So ein kitschiger Firlefanz wie eine Sprachnachricht. Ehrlich. Er sollte sich schämen. So was ist Aufgabe einer besten Freundin ... Na, ist doch logisch! Weil wir uns fast zwanzig Jahre kennen. Da hab ich solche Gesten nicht mehr nötig«, antwortete sie irgendwem, vermutlich Nate. »Da kommt ihr auch noch hin. Keine Bange. Egal. Was soll ich sagen? Du hast diesen Abend so gut wie überstanden, und darauf stoßen wir morgen an. Wodka um zwölf. Nur für dich, Liz. Ich bin stolz auf dich. Weiter hole ich nicht aus, sonst wird es kitschig und dann glaubst du mir kein Wort. Bis morgen!«

Im Hintergrund hörte ich Gelächter, ehe Nate wieder das Wort ergriff. »Amber hat recht, Liz. Du hast es geschafft.« Er klang dabei nur so viel ernster als meine Freundin. Ernst und unfassbar stolz. »Ich ... Ja, ich bin ja gleich fertig!« Ich musste unweigerlich glucksen und hielt das Handy etwas dichter an mein Ohr. Das brachte gar nichts. Ein Telefon, das man fester ans Ohr drückt, ist nicht einmal ein dürftiger Ersatz für die Person, deren Stimme man hört. »Scheiß drauf, wie das klingt, aber ich musste gerade an unsere erste U-Bahn-Fahrt denken. Und jetzt stemmst du diese Gala. Ganz allein! Ich hoffe, dir ist bewusst, was das für eine Leistung ist. Vermutlich höre ich mir später an, dass das eben dein Job ist und dir eh nichts anderes übriggeblieben wäre. Ich werde mit den Augen rollen, nur dass du es weißt. Das kannst du live bewundern, wenn du mir diesen Unsinn morgen direkt sagst. Wir ... Ich muss Schluss machen. Die anderen nerven. Und ich soll dir noch mal sagen, dass du an den Kaffee denken sollst. Erbärmliche Prioritäten. Denk lieber an den Wodka, der Vorrat hier macht’s nicht mehr lange.«

Und das war das Ende seiner Nachricht. Und da ich sie immer noch in unserem Nachrichtenverlauf habe, weiß ich auch mit Bestimmtheit, dass er sie mir geschickt hat. Ich habe mir das nicht eingebildet. Nate aus Arkansas hat sich die Mühe gemacht, mich wenigstens ein bisschen an seinem Silvester und dem meiner Freunde teilhaben zu lassen. Er wusste, was dieser Abend für mich bedeutet, und hat getan, was er konnte, um trotz seiner Abwesenheit für mich da zu sein.

Und hier ... Ich bin ja sogar wirklich da. Ich bin nicht weg. Stell' ich mich wirklich so beschissen an? Bin ich ehrlich so schlecht darin, ihn zu unterstützen? Ich frage mich gerade, ob ich es ihm auch so schwer gemacht habe. Ob er genauso ratlos war wie ich heute. Er kam mir nie so vor, nicht ein einziges Mal. Warum kann er nicht einfach ...

Egal. Das muss ich ihn fragen, nicht irgendein Notizbuch. Also ... Silvester. Ich hatte mir diese Nachricht angehört und dann wirklich Probleme, ein Gefühl von Erfolg zu entwickeln, obwohl Amber und Nate es mir doch sogar mit ihren Worten hatten zukommen lassen. Sie waren stolz auf mich. Und das zu Recht. Immerhin hatte ich den Abend ganz allein absolviert. Nur irgendwie war das Echo, das von dieser Nachricht zurückblieb, nur dieses Gefühl von Alleinsein. Wie zur Hölle schaffen es Menschen, sich über Dinge zu freuen, wenn da sonst keiner ist, mit dem man es teilen kann? Wie geht das?

Für einen Augenblick war der Wunsch übermächtig, wenigstens Nate und Amber bei mir zu haben. Ich war sogar so weit, in der Emojiauswahl eines Handys bis zum Gemüse zu scrollen. Der Notfallplan war noch immer eine Option, und er wurde mit einem Mal fast unwiderstehlich. Ich wollte das hier einfach nicht allein. Meinetwegen würde ich auch ganz auf diesen Erfolg verzichten, um stattdessen bei ihnen zu sein.

Mir war klar, dass diese Episode überbordender Sehnsucht in ein paar Minuten vorüber sein würde. Nur blieben mir keine paar Minuten, ehe ich wieder an die Arbeit musste, also setzte ich schnell selbst mit einer Sprachnachricht nach. »Ich finde, diese Nachricht war meine gerechte Strafe. Immerhin darf ich hier das Feuerwerk gucken und habe schon zwei Gläser echten Champagner getrunken. Im Dienst! Und ... Egal. Danke.« Ich atmete aus und mit der Luft entwich mir auch jede Motivation für belangloses Geschwafel. »Es läuft wirklich ziemlich gut. Besser, als ich gedacht hätte. Ich kann es trotzdem kaum erwarten, euch morgen zu sehen. Ich ... Ich wäre wirklich gern bei euch. Ihr fehlt mir hier.« Die letzten Worte kamen ziemlich fragil heraus, doch immerhin brachen sie nicht. »Es ist gut, dass ich das heute durchgezogen habe, denke ich. Das war ...« Ich seufzte und nickte, als meine Kollegin mich eilig zu sich winkte. Es war Zeit für das Dessert. Hunderte Wunderkerzen wollten zeitgleich angezündet werden. »Ich muss los. Bis morgen.«

Ich habe also wirklich nicht viele Worte verloren und auch keine besonders schönen. Und ich behielt recht mit meiner Einschätzung. Es ging mir etwas besser, als die Hektik mich wieder zurückhatte. Sie behielt mich in ihren Fängen, bis sie mich um kurz vor vier Uhr am Morgen endlich ausspuckte.

Genau so fühlte ich mich in diesem Moment auch. Als hätte mich dieser Abend hochgewürgt und auf den Asphalt gekotzt, über den ich zum Bus lief, weil die erste U-Bahn noch auf sich warten ließ. Erst dort schaffte ich es wieder, in Ruhe auf mein Handy zu sehen.

Dort erwartete mich diese Nachricht von Nate. Wieder eine Tonaufnahme, bloß kürzer diesmal. Er hatte sie mir gegen halb eins geschickt. Und erst über drei Stunden später setzte ich meine Kopfhörer auf und lauschte.

»Amber und ich sind uns einig, dass du nicht gut klingst. Und ich habe ihr zugesichert, dass ich das wieder hinkriege – wenigstens ein bisschen. Ich hoffe, ich habe mich damit nicht zu weit aus dem Fenster gelehnt. Eigentlich wollte ich damit auch warten, bis ich die Möglichkeit habe, deine direkte Reaktion mitzubekommen, aber ... Prioritäten.« Was folgte, waren ein tiefer Atemzug und ein etwas verlegenes Lachen, ehe Nate »Auld Lang Syne« anstimmte. Er zog das gesamte Lied durch, wobei sein schottischer Akzent von beeindruckender Treffsicherheit zeugte – weit mehr als sein Verständnis für Töne.

Ich wusste, dass sein Ziel ein anderes gewesen war. Dass ich lachte. Oder dass ich mein Versprechen wahr machte, ihn umgehend aufzusuchen, und auf dem Weg meine Klamotten zu verlieren. Stattdessen saß ich in diesem Bus nach Hause und hatte große Mühe, nicht zu weinen.

Er fehlte mir. Was eigentlich gar nicht schlimm war, weil ich wusste, dass ich ihn in ein paar Stunden sehen würde. Nur brachte dieses Gefühl eben auch die allgegenwärtige Befürchtung mit sich, dass er mir irgendwann fehlen würde, ohne, dass es ein »in ein paar Stunden« geben würde. Nicht einmal ein »in ein paar Tagen oder Wochen«.

Fast wäre ich nicht nach Hause gefahren, sondern zur WG. Allerdings hatte ich den Schlüssel nicht bei mir. Das war tatsächlich der einzige, aber entscheidende Grund, weshalb ich nicht einfach eine andere Richtung einschlug. Ich ärgerte mich die gesamte Fahrt, dass ich mir nie angewöhnt hatte, diesen Schlüssel bei mir zu haben. Er lag in einer Schublade, weil ich auf keinen Fall Schlüssel anderer Menschen verlieren wollte. Im Prinzip war er ja auch nur für den Notfall da. Die Tür in dieser WG stand mir auch ohne ihn immer offen. Nur nicht um halb fünf am Neujahrsmorgen.

Ich hatte große Mühe, diesen Ärger nicht in Selbstmitleid kippen zu lassen, weil das Überschreiten dieser Silvester-Ziellinie nichts anderes für mich bereithielt als meine Wohnung, mein leeres Bett und ein paar Stunden Schlaf. Sollte sich so was nicht glamouröser anfühlen und weniger einsam?

Als ich zu Hause ankam, war es nicht glamourös – keine Scheinwerfer, kein Konfetti, keine Liveband und edle Cocktails. Dennoch musste ich nur zwei Schritte in die Wohnung gehen, um zu sehen, dass ich nicht allein war. Zwei Schritte – weiter ist es in diesem kleinen Flur einfach nicht bis zu meiner Kommode aus abgeschliffenem Holz, die immer mit viel zu viel Kram zugemüllt ist.

Dieser Kram war an diesem Abend auf eine Seite gewichen. Auf der anderen warteten eine Wodkaflasche, ein Teller mit Pancakes und eine kleine Tüte Cheetos. Erst jetzt nahm ich den süßen Geruch frischer Pancakes wahr, der zart in der Luft hing wie eine Idee, von der man noch nicht so recht wusste, ob sie gut war.

Sie war perfekt. An der Wodkaflasche lehnte ein zusammengefalteter Zettel mit einem kurzen Gruß. »Herzlichen Glückwunsch! Was auch immer dein Nervenkostüm nach diesem Kraftakt braucht – es ist alles erlaubt. Falls diese Auswahl hier nicht ausreicht – ich bin hier. Für Nachschub oder andere Gefälligkeiten.«

Ich bin hier.

Für mich waren das die essenziellen Worte in dieser Nachricht.

Ich glaube, es war vorher noch nie so langwierig und mühsam gewesen, einen Mantel und Stiefel loszuwerden. Nur meine Handtasche folgte dem Ruf der Schwerkraft ohne größeren Widerstand. Als ich diesen ganzen Ballast endlich los war, ließ ich die Kommode mit ihrem kleinen Willkommensgruß hinter mir und huschte an ihr vorbei in Richtung Wohn- und Schlafzimmer. Das Licht war ausgeschaltet, doch mehr als den Schein, der aus dem Flur hierher fiel, brauchte es nicht, um Nate zu entdecken, der auf seiner Seite meines Bettes tief und fest schlief. Auf meinem Kissen lag eine weitere Notiz. »3:49 Uhr. Ich gebe auf. Weck mich einfach, wenn du da bist.«

Den Zettel nahm ich und ...