Gegenwart

23. 3. 2019 – 23:16 Uhr (CDT)

Camden, Arkansas, USA

Ich zucke zusammen, als ich eine Tür höre, die sich öffnet. Es folgen leise Schritte und dann wird sie vorsichtig wieder ins Schloss gedrückt. Nichts davon passiert laut. Doch in einem leeren Haus ist vermutlich auch das leiseste Geräusch ohrenbetäubend, wenn man auf jemanden wartet.

Ich klappe das Notizbuch zu, lege es zur Seite und lausche. Ich warte darauf, Nates Stimme zu hören, die meinen Namen ruft oder einfach nur seine Ankunft mitteilt. Ich warte auf Schritte, die sich diesem Zimmer nähern, das für die Woche unseres ist. Ich warte auf irgendetwas, das mir sagt, dass Nate bemerkt werden möchte und dass wir jetzt endlich seinen Anfall von Idiotie aus der Welt schaffen können.

Als ich nicht sofort seine Stimme höre und auch keine Schritte auf der Treppe, schaue ich auf das Handy. Ich hoffe auf eine Nachricht wie »Bin wieder da. Bist du noch wach?«.

Nichts dergleichen leuchtet auf dem Display auf.

Ich bin hier, denke ich. Das weißt du doch, also beweg gefälligst deinen Arsch hierher.

Ich komme mir ziemlich schnell ziemlich erbärmlich vor, wie ich da auf dem Boden vor dem Bett sitze, in das Haus hinein lausche und trotzdem kaum mehr hören kann als meinen eigenen Puls, der sich mit einem Mal zu einem ohrenbetäubenden Protest erhoben hat.

Ich weiß, dass ich einfach aufstehen und ins Erdgeschoss gehen könnte. Meine Beine haben mir den Dienst nicht versagt. Trotzdem bleibe ich sitzen, weil ich nicht sicher bin, ob ich diejenige sein sollte, die auf ihn zugeht. Ich war ja auch nicht diejenige von uns, die wollte, dass ich gehe.

Er hat mich weggeschickt. Und zuerst muss doch dieses »weg« bereinigt werden, ehe wir über alles andere sprechen können. Darüber, dass er mich nicht vor all dem hier gewarnt hat. Darüber, dass er im Prinzip überhaupt nichts gesagt hat, was mich vorbereitet hätte.

Ich überlege sogar, nach unten zu gehen und mich zu entschuldigen. Weil ich nicht so weit gedacht habe, weil ich nicht selbst auf die Idee gekommen bin, dass ihm offensichtliche Sorge unangenehm sein könnte. Aber bei dieser Überlegung sehe ich nicht meinen Nate vor mir, der mir erklärt, dass ich ihm so viel Angst gemacht habe, dass er seine Cheetos vergessen hat. Ich sehe seinen Vater und höre die Aufforderung, mich doch gefälligst so zu benehmen, wie man es von mir erwartet.

Woher weiß ich, dass Nate mittlerweile aufgehört hat, so zu sein?

Das Warten macht mich unruhig, und ich rappele mich auf, um schließlich neben dem Bett zu stehen und die Tür anzustarren, die halb offen steht und nun wirklich keine Hürde wäre. Er müsste nur die Treppe hochlaufen, um das zu sehen. Es ist doch nicht so schwer. Es sind doch nur ein paar Stufen. Doch im Prinzip sind es auch nur ein paar Stufen bis zu einer U-Bahn. Ein paar mehr als hier, aber ist die Hürde nicht trotzdem dieselbe?

Mein Handy bleibt stumm, genauso wie das Haus. Allmählich glaube ich, dass Nate seit Minuten im Flur steht und nicht weiß, wohin. Und das ist eine Vorstellung, die für mich sehr gut in das Bild von ihm passt, das ich kenne. Mit Sicherheit rechnet er damit, dass ich wütend bin. Das ist nicht neu, und er hat sich davon bisher noch nie beeindrucken lassen. Allerdings war ich bisher auch nie wütend auf ihn gewesen, nicht primär, und ich bin mir sicher, dass ihm das auch immer völlig klar war.

Das hier ist neu, und vielleicht kommt sogar er hier an seine Grenzen – der, der sonst immer weiß, was zu tun und welcher Schritt der Nächste ist.

Vielleicht ist es diesmal an mir, ihm einen Anstoß in die richtige Richtung zu geben. So funktioniert es doch immer zwischen uns, oder? Ich bin wütend, ich tobe, ich fluche. Und Nate hält es aus, bis der Sturm schwächer wird und er mir gefahrlos sagen kann, wie ich wieder zur Vernunft komme. Er fängt mein Toben, Wüten und Fluchen ein, und ich lasse es zu.

Nate hat vorhin nicht geschrien oder dergleichen. Aber vielleicht war das ja seine Art eines Ausbruchs. Wir werden definitiv darüber reden müssen, dass ich Gebrüll besser verstehe. Dennoch wäre es möglich, und je länger ich darüber nachdenke, umso mehr leuchtet es mir ein.

Ich lausche weiter, während ich vorsichtig zur Tür schleiche. Vielleicht kommt er mir ja doch zuvor. Ehrlich gesagt wäre mir das ganz lieb, denn ich habe keine verdammte Ahnung, was genau ich tun soll. Nate ist es immer mühelos gelungen, meine Wutanfälle zu beobachten und den richtigen Moment zu finden, um mir zu sagen, dass es jetzt an der Zeit ist, wieder normal zu werden. Und es hat funktioniert, jedes Mal. Jetzt muss ich nur noch herausfinden, wie.

Ich bleibe stehen, als ich im Erdgeschoss ankomme. Das Licht ist aus – in jedem der Räume.

Nate steht nicht wie angewurzelt im Flur, da das allerdings sowieso nur ein Hirngespinst war, gehe ich weiter zur Küche. Leer.

Ich finde ihn im Wohnzimmer, und prompt zerschlägt sich meine Angst, es nicht genauso gut hinzubekommen wie er. Denn die Sache ist die: Schlichtung kann nur funktionieren – egal ob gut oder schlecht – wenn sie erwünscht ist. Man muss sie zulassen können. Und offensichtlich ist das eher mein Talent und definitiv nicht Nates. Denn nichts in diesem System kann funktionieren, wenn man sich davor versteckt, indem man sich einfach auf die Couch legt und schläft.

Da ist kein Zettel, keine Notiz. Nichts. Als wäre es das Abwegigste überhaupt, in irgendeiner Form auf mich zuzukommen. Er muss doch wissen, dass ich auf ihn gewartet habe! Nur ist das offenbar egal. Und anscheinend gesteht er mir auch keine verletzten Gefühle zu, denn sonst wäre es ja wohl an mir, zu entscheiden, ob er die Nacht auf der Couch verbringt oder nicht. Ist ihm in den vergangenen Stunden nicht ein einziges Mal der Gedanke gekommen, dass er zu weit gegangen sein könnte? Dass er hätte anders reagieren können? Bin immer noch ich diejenige, die an allem schuld ist? Ist das sein verdammter Ernst?

Wütend donnere ich die Tür hinter mir zu, als ich das Zimmer wieder verlasse. Meine Schritte, die mich wieder treppauf führen, poltern. Und ich hoffe, dass es ihn weckt, dass er mich fragt, ob ich spinne. Warum ich mich nicht benehme, wie man es von mir erwartet. Und dann kann ich ihn anschreien, kann ihm alles an den Kopf werfen. Alles, was mich ankotzt – an seinem Schweigen, an seiner Familie, daran, hier zu sein mit einem Mann, der nicht derselbe ist wie zu Hause. Ihn zu fragen, was er denn nun eigentlich von mir erwartet, wäre laut so viel leichter. Und dann kann er tun, was er am besten kann – er wartet, bis es vorbei ist und bringt die Dinge wieder in Ordnung.

Doch Nate tut mir den Gefallen nicht. Ich weiß nicht, ob er wach geworden ist. Falls ja, lässt er es mich nicht wissen.