24. 3. 2019 – 10:21 Uhr (CDT)
Camden, Arkansas, USA
»Der Kaffee ist fertig.«
»Okay.«
»Vergiss nicht, dass wir gegen zehn losmüssen.«
»Ich weiß.«
»Gut.«
»Hast du die Schlüssel?«
»In der Handtasche.«
Und mein persönlicher Liebling:
»Was?«
»Nichts.«
Das ist alles, was wir bisher miteinander gesprochen haben. Der letzte, wahnsinnig tiefsinnige Dialog ist kaum zwei Minuten her. Wir sind ins Auto gestiegen und Nate hatte keine Gelegenheit mehr, mir auszuweichen. Denkt er, ich merke nicht, dass er den Raum jedes Mal gewechselt hat, sobald ich da war?
Erst im Auto hatte ich die Gelegenheit, mir anzusehen, was mir schon im Haus zwischen Tür und Angel aufgefallen ist. Sein Wochenbart ist verschwunden – ganz und gar. Ich hätte mich gern darüber lustig gemacht, dass er meine Befürchtungen bestätigt, und plötzlich viel jünger aussieht als er ist. Aber mir steht nicht der Sinn danach. Ich weiß, dass er nicht gegrinst und irgendeinen trockenen Kommentar erwidert hätte. Und ich weiß nicht, wie seine Reaktion sonst ausfallen würde. Im Prinzip macht dieser Anblick mir vielmehr klar, dass ich mir überhaupt nicht mehr einbilden brauche, ich wüsste irgendetwas. Die Metamorphose zurück zu Nathan Moore, den jeder hier kennt außer mir, ist abgeschlossen.
Das ist nur ein subjektiver Eindruck. Doch der ist stark genug, um nicht einmal annähernd den Wunsch zu verspüren, meine Hand nach ihm auszustrecken und herauszufinden, wie sich sein Gesicht ohne den Bart anfühlt.
Er hat gemerkt, dass ich ihn beobachte, und es eine Weile ignoriert, bis sein »Was?« die Stille durchbrochen hat.
Da das eine ziemlich unpräzise Nachfrage von ihm war, hätte ich ihm einfach alles sagen können. Alles, was mir seit gestern durch den Kopf geht, beginnend damit, wie sehr mich seine Distanz heute Morgen aufregt. Gleich darauf könnte ich ihm sagen, dass ich mich seit Wochen darauf freue, ihn in diesem dreiteiligen Anzug zu sehen und wie scheiße es ist, dass ich jetzt nicht ihn darin sehe, sondern ein glattrasiertes, amerikanisches Arschloch. Ich könnte ihm sagen, dass es nur am ersten Tag süß war, wie stark sein Akzent wieder durchkommt, den er in England ein bisschen verloren hatte. Mittlerweile kann ich es nicht mehr hören.
Und dann hätte ich ihm die wesentlichen Sachen sagen können. Bis zu dem Punkt, dass ich mittlerweile Angst habe, irgendetwas zu sagen und damit noch mehr kaputt zu machen.
Wenn man es genau nimmt, ist das wohl auch die einzige Antwort, die ich ihm mit meinem tonlosen »Nichts« gebe.
Was darauf folgt, ist weiteres Schweigen. Man sollte meinen, allmählich hätte ich mich daran gewöhnt. Stattdessen wiegt es immer schwerer, je länger es andauert. Und es dauert lange. Genau genommen sind es nicht mehr als fünfzehn Minuten, ehe Nate und ich die Kirche erreichen. Stille hat nun einmal das sagenhafte Talent, Zeit zu nehmen und sie beliebig weit zu dehnen.
Ich hoffe einfach darauf, dass es sich verhält wie mit einem Gummiband. Dass dieses Schweigen die Minuten immer weiter auseinanderzieht, und irgendwann wieder loslässt. Und dann zieht sich das Band unfassbar schnell wieder zusammen, und der Tag ist vorbei.
Als Nate den Motor abstellt und tatsächlich ein paar Worte sagt, stellt sich dieser Effekt nicht ein. »Nach der Trauung nehmen wir Sandra und die anderen beiden Brautjungfern mit. Kim hat mich gestern darum gebeten.« Sieben Sekunden. Mehr sind nicht verstrichen.
»Sicher«, sage ich.
Während wir zur Kirche laufen, nimmt Nate meine Hand. Er hält sie fest, wie etwas, das man eben bei sich hat, und ich hätte große Lust, sie ihm zu entziehen. Doch wir kommen nur ein paar Meter weit, ehe er die erste fremde Hand schütteln muss und meine zu diesem Zweck wieder freigibt. Er lässt sie so abrupt los, als wäre auch ihm aufgefallen, dass er in eine Gewohnheitsfalle getappt ist, und nun bietet sich endlich der geeignete Moment, um sich daraus zu entwinden.
Der Dialog, der sich dazu abspielt, wird sich wohl noch etliche Male wiederholen:
»Nathan, dein Vater hatte nicht verraten, dass du es schaffen wirst.«
»Es ist die Hochzeit meiner Schwester, Mr Chase. Mein Vater kam vermutlich gar nicht auf die Idee, dass das zur Debatte stehen könnte.«
Ein höfliches Lächeln und dann: »Und diese bezaubernde Dame ist?«
»Elizabeth Green. Meine Freundin.«
Es folgen Höflichkeitsformeln, ich schüttle eine Hand und sage die ganze Zeit über nicht ein Wort. Stattdessen lächle ich, bin bezaubernd und frage mich, ob es das ist, was man von mir erwartet. Dass ich Nates Auftritt hier mit etwas britischer Weiblichkeit dekoriere, um andere Dinge vielleicht etwas weiter in den Hintergrund zu rücken.
Nach drei weiteren Begegnungen, die alle gleich ablaufen, gelangen wir zu Nates Eltern. Harper erkundigt sich sogar, ob es mir wieder besser geht. Ich frage mich, ob sie die Frage für mich stellt oder für die umstehenden Leute, denen ich zum Großteil noch nie begegnet bin.
Ich lächle in Gesichter, die sich irgendwann gleichen und wiederhole Namen, denen ich versichere, dass es mir eine Freude ist, um sie kurz darauf ohnehin zu vergessen. Es wird wohl kaum für irgendwen von Belang sein, ob ich weiß, wer er ist oder nicht.
Während der ganzen Zeit merke ich, dass Nate mich beobachtet. Ich würde mir gern einbilden, dass ihm das Kleid gefällt, das ich trage, und er mir wahlweise auf meine Brüste oder den Hintern schaut. Stattdessen bin ich mir ziemlich sicher, dass er mich einfach im Auge behält, um einschreiten zu können, falls ich aus der Reihe springe.
Als sich die Flügeltür zur Kapelle öffnet und die versammelten Leute aus dem sonnigen Frühlingstag in das kalte Gemäuer hineinruft, spüre ich Nates Hand an meiner Taille, die mich zurückhält. Die Vertraulichkeit seiner Berührung schneidet sich durch die Distanz zwischen uns beiden. Es ist kein gerader, guter Schnitt. Die Klinge ist stumpf und macht mehr kaputt als vorgesehen. Ich kann gar nicht anders, als ihn anzusehen, als hätte er den Verstand verloren. Fass mich nicht an, denke ich. Wenn du nicht mal mit mir reden kannst, haben deine Hände nichts an mir zu suchen.
Natürlich kann Nate diese stumme Empörung nicht hören, aber er scheint sie meinem Blick anzusehen. Die Berührung an meiner Seite verschwindet sofort. »Mom geht rein und reserviert unsere Plätze«, sagt er leise und klingt für diesen kurzen Moment nicht wie Jacob. Der Moment verliert sich allerdings sofort in seinen nächsten Worten. »Ich habe ihr versichert, dass Dad und wir die Nachzügler begrüßen.«
Ich nicke, und zuerst fällt mir wieder nicht mehr ein als »Sicher.«
Ich beobachte ein paar Minuten lang, wie Nate einigen Leuten höflich zulächelt, sobald sie sich der Kirche und dann direkt seinem Vater nähern – dem bekannten Gesicht. Ich frage mich, wie viele dieser Gäste zu Jacobs Mitarbeitern zählen.
Nate muss mit kaum jemandem reden und ich gleich gar nicht. Unsere Aufgabe besteht aus netten Grüßen und einem noch netteren Lächeln. Hin und wieder kann ich beobachten, wie ihm dieses Lächeln, das ohnehin nicht aussieht wie seines, entgleitet, wenn er sich unbeobachtet wähnt.
»Wird das jetzt den ganzen Tag so gehen?«, hake ich nach. »Oder noch länger?«
»Wovon redest du?« Er spricht sehr viel leiser als ich gerade. Dabei stehen Jacob und drei weitere Männer etliche Meter weit weg.
»Diese ganze Farce. Was soll das darstellen? Method Acting? Du hast hier deine Rolle zu spielen. Unabhängig davon, was ich von der Sache halte, ich hab’s kapiert. Ich bin bloß kein scheiß Requisit, Nate. Wenn ich dir helfen kann, wobei auch immer, dann mach den Mund auf, und hör auf, dich aufzuführen, als wärst du dein Vater. So bist du nicht, und Überraschung! Ich bin nicht deine Mutter. Den Schwachsinn mach ich nicht ewig mit.«
Nate schaut kurz zu Jacob hinüber, der gerade seine gegenwärtigen Gesprächspartner in die Kirche verabschiedet. Dann sieht er wieder zu mir – mit diesem endlos geschäftsmäßigen Blick, den ich allmählich leid bin. »Du kapierst es offensichtlich nicht.«
Ich kann nicht anders, als die Augen zu verdrehen. Es fühlt sich einfach nicht an, als würde Nate diesen Vorwurf äußern, sondern ein Dogma seines Vaters predigen. »Dann solltest du dir vielleicht die Zeit nehmen, es mir zu erklären. Und zwar, ehe ich die Nase voll habe. Ehrlich, ich bin stinksauer. Allerdings ist das heute nicht mein Tag, sondern Kims, also spiele ich mit. Wie du wahrscheinlich auch. Aber du könntest mich wenigstens mal einen Blick in die Regieanweisung werfen lassen.«
Nates Antwort erfolgt schnell, und sie klingt wie die perfekt einstudierte Erwiderung auf einfach jede Unannehmlichkeit. »Das hier ist wohl kaum der richtige Zeitpunkt.«
Sicherlich ist es nicht der richtige Zeitpunkt für ein umfangreiches Gespräch. Trotzdem wäre er bestens geeignet für ein »Ich weiß, tut mir leid, wir reden später.« Ich schnaufe und blicke über meine Schulter. Der Eingang der Kirche steht offen, nicht gerade einladend. Dennoch scheint mir Reingehen klüger, als weiter hier zu stehen und immer mehr Gründe dafür zu finden, nicht mehr hier sein zu wollen. »Ich nehme an, es wäre dir lieber, wenn ich mich einfach zu deiner Mutter geselle, oder?«
Ich höre Nates Keuchen, ehe ich ihn wieder ansehe und einem leicht gequälten Blick begegne. Er presst die Lippen zusammen, als würde er eine Antwort zurückhalten müssen. Nur warum? Wer von uns würde sie nicht hören wollen?
Als er schon wieder über meinen Kopf hinweg zu seinem Vater sieht, ist mir das Antwort genug. »Wir sehen uns drinnen«, murmle ich tonlos und laufe an Nate vorbei in die Kirche hinein.
Harper finde ich schnell – vertieft in ein Gespräch mit der nächsten fremden Person, der ich als Elizabeth, Nates Freundin aus England, vorgestellt werde. Eben noch hatte ich dem wenigstens ein kleines Schmunzeln abgewinnen können. Es passte so gut zu Nate aus Arkansas und Liz, beste Freundin von Amber. Doch mit einem Mal klingt dieser Titel wie das, was man gern als »temporäre Lösung« bezeichnet.
Ist Nate bewusst, wie sehr er das antiquierte Alphaverhalten seines Vaters adaptiert? Tut er das mit Absicht oder ist ihm jahrelanges Training bereits in Fleisch und Blut übergegangen? Oder gar tiefer?
Ich hätte Lust, an Ort und Stelle einen Exorzismus durchzuführen anstelle einer Hochzeit. Weihwasser und Priester sind vorhanden. Doch da stößt schon der Besessene zu uns und verkündet, dass es gleich los geht.
Ian steht vorn am Altar und wirkt nervös auf diese gute, anrührende Art. Derweil sitzt Nate neben mir wie eine Statue, die eisern nach vorn schaut und sich erst mit allen anderen zur Kirchentür umwendet, als diese sich lautstark öffnet. Mich würdigt er weder eines Wortes noch eines Blickes. Auch keiner Berührung mehr. Das ungeschickte Halten meiner Hand hat er aufgegeben.
Und während ich Kim zum Altar schreiten sehe, frage ich mich, was vielleicht noch.
»Sie sieht wunderschön aus in ihrem Kleid.«
»Der Pianist war eine wunderschöne Idee. Treffender hätte das Lied nicht gewählt sein können.«
»Die Ehegelübde waren filmreif. Wunderschön. Meine Frau hatte Tränen in den Augen, nicht wahr, Liebling?«
»Der Garten ist kaum wiederzuerkennen. Ich habe Harper ja schon immer um diese zauberhafte Grünfläche beneidet. Was sie heute daraus gemacht haben, ist wunderschön.«
»Diese Hochzeitstorte. Elizabeth, haben Sie diese Hochzeitstorte gesehen? Wunderschön, nicht wahr?«
Wunderschön.
Das ist ein Wort, das ich häufig höre. Es spielt kaum eine Rolle, wem ich zuhöre – ob es Jacobs Geschäftspartner sind, Nachbarn oder die Tante von Ian. Jeder ist begeistert von der Trauung, von den Blumen, von der Braut. Und Fakt ist: Sie haben recht. Kim sieht wirklich wunderschön aus in ihrem Kleid – einem romantischen, cremeweißen Traum ohne viel Kitsch. Und sie strahlt mit ihrem Ehering um die Wette – und mit Ian, der sichtlich versucht, sich abgeklärt zu geben, was ihm nur selten gelingt.
Die Dekoration ist perfekt, die Torte, die vor einer halben Stunde angeschnitten worden ist, ist stilvoll, sogar der Kaffee ist ausgezeichnet. »Wunderschön« trifft es also ziemlich gut. Es ist genau das richtige Wort für alles, was sich auf diesem Grundstück abspielt, solange ich nur nicht zu dem Mann an meiner Seite schaue, der sich nun zum fünften Mal die Geschichte von jemandem anhört, der einmal in London gewesen ist. Solange ich nicht dem Gerede und Nates seelenlosen, aber höflichen Erwiderungen lauschen muss, die mir allmählich den Sinn für »wunderschön« nehmen.
Mittlerweile sind wir vier Leuten begegnet oder vorgestellt worden, die einmal eine mehr oder weniger lange Zeit in meiner Heimat zugebracht haben. Sie schwärmen von der Stadt wie von einer heimlichen Geliebten und geben Nate Ratschläge, was er unbedingt unternehmen und sehen muss. Als stünde ich nicht neben ihm.
Und Nate ist zu höflich, um anzumerken, dass er diese touristischen Klassiker wie Camden Town oder Covent Garden natürlich längst besucht hat. Er ist mit mir durch Neill’s Yard geschlendert, um empört darüber zu sein, wie winzig dieser Innenhof ist, und war mit Logan in mehr als einem der empfohlenen Pubs. Nichts davon erzählt er. Er hört aufmerksam zu, wiederholt die Ratschläge, lächelt mit einer Grimasse, die schon vom Hinsehen wehtut, und meint nichts davon ironisch.
»Und du solltest das Theater besuchen, Nathan. Die europäische Kultur ist eine ganz andere als hier. Davon solltest du so viel wie möglich auskosten, solange du da bist. So eine Chance hat man nur einmal im Leben.« Jacobs Stellvertreter, dessen Namen ich mir nicht gemerkt habe, klingt wie ein abgehalfterter Lehrer, als er das sagt. Dabei ist er höchstens Mitte vierzig und besagte Nummer fünf, die mit diesen Ratschlägen auf Nate zugeht.
Nate könnte ihm sagen, dass er genau das tut. Er kostet es aus. Er trinkt Guinness, geht mit Freunden in Restaurants und Bars, er hat Sex, er feilscht auf dem Flohmarkt und hat ein Auge dafür entwickelt, wo es die wirklich guten Fish and Chips gibt. Das hat er sich sogar ganz allein beigebracht, weil ich diesem Traditionsessen nicht viel abgewinnen kann. Einmal waren wir sogar im Theater. Der Hauptdarsteller einer seiner Lieblingsserien stand auf der Bühne, und es war herzergreifend, Nate dabei zu beobachten, wie er darüber gestaunt hat, im selben Raum mit diesem Menschen zu sein.
Nichts davon kann man sich vorstellen, wenn man ihm hier zusieht, wie er höflich lächelt und nickt und sagt: »Das werde ich mir merken, Mr Mahon, vielen Dank«. Nicht einmal ich kann mir das vorstellen, und ich war dabei.
Sobald sich sein Gegenüber mit einem zufriedenen Lächeln abwendet und sich einem weiteren Gast widmet, sackt Nates aufrechte Haltung ein wenig in sich zusammen, und ein kaum vernehmbares Aufatmen entweicht ihm. Wie auch bei den anderen vier Gesprächen ist das der tiefste Einblick, den ich in seine Gedanken bekomme. Ich könnte es zum Anlass nehmen und nachhaken. Vielleicht würde er mir sagen, dass es ihn genauso nervt wie mich. Allerdings scheint mir die Chance größer, dass er diesen winzigen Moment einfach nicht mehr teilt.
»Der nächste Programmpunkt beginnt in etwa zehn Minuten. Vielleicht sollten wir wieder zum Festzelt zurückgehen«, murmle ich stattdessen und deute auf das Kärtchen, das auf jedem der Stehtische versteckt ist. Auf ihnen findet sich ein richtiges Veranstaltungsprogramm wie bei einem kleinen Festival. Und der nächste Punkt lautet »Jukebox der Erinnerung – 16:15 Uhr – großes Festzelt«.
Eine Weile konnten wir uns von Nates Familie lösen, und erst dachte ich, es täte ihm gut, sich nicht mehr unter Jacobs Beobachtung zu wähnen. »Oh gut, richtiger Kaffee«, waren seine Worte angesichts des hochkomplizierten Kaffeestandes, den Harper und Jacob gebucht hatten – inklusive zwei Baristas. Ich hatte es für eine Anspielung auf die fragwürdige Maschine in der WG gehalten, für etwas, das von all den Anwesenden hier nur ich verstehen konnte. Aber vermutlich habe ich es auch nur dafür halten wollen.
Nate nickt, wirft einen Blick über die anderen Gäste hinweg in die Richtung, in die wir gehen müssen, und nickt noch einmal, ehe er seinen Kaffee in einem Zug leert, sich meine Tasse nimmt und sie zusammen mit seiner zurück zum Kaffeestand bringt. Eine Angewohnheit, die er sich von mir abgeschaut hat, und die ich ihm nur einmal erklären musste. »Ich habe die Getränke da abgeholt, also kann ich die Tassen auch wieder zurückbringen. Das ist nur höflich.«
Es ist eine so unscheinbare Kleinigkeit, die zu Hause längst zu einer Normalität geworden ist, die man ständig übersieht. Doch hier fällt es mir auf. Was eine maßlose Untertreibung ist. Es fällt mir nicht einfach nur auf, es begräbt mich unter einer Wagenladung Heimweh.
»Dieser Programmpunkt ist offensichtlich irgendwas mit Musik.« Er deutet mit einem Nicken nach vorn, wo auf der kleinen Bühne in dem Zelt tatsächlich Bandequipment steht. »Keine Ahnung, ob getanzt werden soll. Aber für den Fall ... Falls Dad dich auffordert, tu ihm bitte den Gefallen. Generell gehe ich davon aus, dass er sich heute wenigstens einmal mit dir wird zeigen wollen, auch wenn Kim im Fokus steht.«
Ich nicke nur und bewundere Nates neues Talent, Momente passgenau kaputt zu machen, obwohl er vermutlich nicht einmal von deren Existenz weiß.
Wir erreichen unsere Plätze noch vor Ians Cousine und ihrem Mann, die mit uns an einem der runden Tische sitzen – gemeinsam mit Kims Brautjungfern, die sich bereits aufgeregt über etwas austauschen. Das Brautpaar samt Eltern und Trauzeugen sitzt am Tisch neben uns. Ich beobachte, wie eine Frau um die Fünfzig Kim etwas sagt und Nates Schwester herzlich lacht, ehe sie einen Seitenblick zu Ian wirft, der nur grinsend den Kopf schüttelt. Wie viele Ratschläge zum Führen einer Ehe werden die beiden sich heute schon angehört haben, obwohl sie nicht annähernd wirken, als hätten sie auch nur einen davon nötig?
»Liz?«
Ich zucke leicht zusammen und reiße meinen Blick los. Bis ich mich zu der Stimme neben mir umgewandt habe, findet mein Gesicht auch das Lächeln wieder. Tara, eine der Brautjungfern von Kim, schaut mich erwartungsvoll an. »Ja?«
»Können wir dich für ein Attentat in Beschlag nehmen? Kim meinte, du hättest keine Berührungsängste mit Menschen.«
Ich hebe etwas skeptisch die Augen. »Das hängt davon ab, wo ich sie berühren muss.«
Ich achte gar nicht darauf, ob Nate in irgendeiner Form auf meine Worte reagiert. Ich weiß, wie er es tun würde, wären wir nicht hier und muss mir die Vorstellung von seinem süffisanten Grinsen nicht mit der Realität kaputt machen. Stattdessen widme ich mich lieber dem Glucksen von Tara und ihrem Kopfschütteln.
»Nein, um Himmels Willen, doch nicht so was.« Sie sieht über meine Schulter hinweg zum Brauttisch, als befürchte sie, belauscht zu werden. »Nach dem Punkt hier werden Sandra und Maddy die beiden zu der alten Scheune entführen.«
Ich nicke, als hätte ich auch nur die geringste Ahnung, wo das sein soll.
»Wir wissen, dass Kim sich auch unkonventionelle Hochzeitsfotos wünscht, nicht nur die bei der Kirche, also haben wir einen Fotografen engagiert und ...«
»Komm zum Punkt«, flüstert Maddy ihr zu. »Es geht gleich los.«
»Also, wenn die beiden weg sind, will ich die Gäste abklappern, nach einem Bild fragen«, sie deutet auf eine Polaroidkamera unter ihrem Stuhl, »und ob sie ein paar nette Worte schreiben. Ich habe hier ein paar Seiten für ein Album vorbereitet.« Sie zieht eine gestärkte Papierseite hervor, die bereits mit Ecken für die Polaroidfotos versehen ist, ebenso mit einer Lochung, um sie in ein Album einfügen zu können. Wie viele Stunden hat sie wohl an dieser Bastelei gesessen? »Ich habe noch eine zweite Kamera, wir könnten uns also aufteilen.«
Die Frage, ob ich ihr helfe, überspringt sie einfach. Ein geschickter Schachzug, der es mir nicht unmöglich, sondern nur schwerer macht, mich rauszureden. Wobei ich das eigentlich gar nicht will. Es klingt nach etwas anderem als »Was Nate in London unbedingt noch machen sollte, ehe er wieder hier ist«.
Ich sehe kurz zu ihm und erwarte irgendeine souveräne Antwort oder Aufforderung, die mir ebenso gut auch sein Vater hätte geben können. Stattdessen liegt der Hauch eines schadenfrohen Lächelns auf seinen Lippen, und in seinen Augen funkelt das vertraute »Oh nein, Verehrteste, den Scheiß hast du dir selber eingebrockt.« Was er sagt, passt wieder etwas besser in den engen Rahmen dieser Veranstaltung, dennoch klingt es nach ihm. »Lass dich von mir nicht aufhalten, aber ich fürchte, ich wäre da keine Unterstützung.«
Damit kann ich gut leben. Ich hoffe, dass mein Grinsen bei ihm denselben Nerv trifft, wie seines bei mir. »Wärst du wirklich nicht. Du bist viel zu höflich, um Leuten auf den Keks zu gehen. Wie so ein Engländer.«
Ich weiß nicht, was es ist, das über seine Züge huscht. Es ist zu schnell vorbei und verflüchtigt sich mit dem Nicken, das seine einzige Antwort bleibt.
»Hat meine Komplizin Sie schon belästigt?«
»Ach, natürlich sind Sie fotogen. Ich sorge schon dafür, vertrauen Sie mir einfach.«
»Muss ich wirklich meinen Joker ziehen und sagen, dass es der Wunsch der Braut ist? So weit wollte ich eigentlich nicht gehen.«
»Schauen Sie einfach niedlich. Mehr müssen Sie nicht tun.«
»Was immer Ihnen einfällt. Schreiben Sie einfach drauflos. Unsinn ist herzlich willkommen.«
Ein bisschen fühlt es sich an wie mein Job, als ich von Gast zu Gast gehe und wildfremde Menschen anspreche. Es tut sogar richtig gut, auf den Auslöser zu drücken und Gästen dabei zuzusehen, wie sie entweder Standardformeln zu Papier bringen oder sich bemühen, etwas kreativer zu werden. Damit habe ich etwas zu tun, bei dem ich auch wirklich etwas bewirke – und Nate bekommt eine Pause von mir und meinem ständigen Bestreben, ihm eine Hilfe zu sein.
»Achtzehn habe ich, was ist mit dir?«
Tara hat mich wiedergefunden und drängt sich durch eine kleine Gruppe zu mir durch.
»Keine Ahnung«, gestehe ich und schnappe mir meinen Stapel an Albumseiten, um sie durchzuzählen. »Wie viele Leute sind hier überhaupt? Tausend? Ich habe das Gefühl, niemanden zwei Mal zu sehen ... Sechzehn.« Für etwas mehr als eine halbe Stunde finde ich das einen mehr als akzeptablen Schnitt.
»Sehr gut. Wir haben nachher noch mal ein Zeitfenster, kann ich dich dann wieder dazu holen?«
»Natürlich, ich habe doch grade erst ein System entwickelt.« Das ist etwas weit hergeholt, aber es ist eine Zusage, und Tara freut sich. Es ist schon faszinierend, wie ansteckend die Freude eines anderen Menschen sein kann.
Ich würde sogar behaupten, dass meine Laune recht gut ist, als ich wieder zum Zelt zurückkehre, vor dem sich allmählich alle Gäste sammeln. Ich bleibe etwas abseits stehen und halte Ausschau nach dem Kopf, der die meisten von ihnen überragen müsste. Doch die Luftballons, die bereits verteilt werden, um gleich mit guten Wünschen in den Himmel zu steigen, machen dieses Unterfangen schwer.
Ich schlage mich eine Weile durch die Wartenden hindurch, kann Nate jedoch nirgends entdecken, auch nicht an seinem Platz an unserem Tisch. Also beschließe ich, einfach beim Tisch zu warten und schicke ihm eine kurze Nachricht mit der Frage, wo er steckt. Das Handy behalte ich in der Hand, während ich die Menschen vor dem Zelt im Auge behalte, darauf wartend, dass sich Nate aus ihnen herauslöst, zu mir kommt und mich fragt, wo ich so lange gesteckt habe.
Immer wieder kommen Leute ins Zelt und steuern ihre Plätze an, meist, um ihr Handy oder eine Kamera zu holen, um gleich die aufsteigenden Ballons aufnehmen zu können. Einigen bin ich bereits begegnet und grüße höflich. Der Einzige, den ich schließlich nach Nate fragen kann, ist Jacob. Ich hoffe, dass es wenigstens einmal von Vorteil sein könnte, dass er seinen Sohn ständig zu beobachten scheint. Selbst dann, wenn er nicht hinsieht.
»Ich dachte, der Junge sei bei dir.« Er wirkt genervt von der Tatsache, dass er damit falsch lag. Etwas unwirsch zieht er die Kamera aus ihrer kleinen Tasche, die an der Stuhllehne von Harper hängt. Und er schüttelt den Kopf, ich bin nur nicht sicher, ob aus Enttäuschung oder Wut. »Bei der Hochzeit seiner Schwester. Und ich hatte gehofft, du würdest dafür sorgen, dass er sich zusammenreißt.«
Eigentlich will ich nicht. Weder will ich den Dialog mit Jacob führen, noch will ich mir die Blöße geben, einzugestehen, dass ich keine Ahnung habe, wo er ist oder wovon Jacob redet, trotzdem kann ich die Frage nicht für mich behalten. »Also weißt du, wo er steckt?«
Jacob scheint zu zögern, schüttelt den Kopf – schon wieder – und geht um den Tisch herum, bis er bei mir ist. »Du scheinst eine nette junge Frau zu sein, Elizabeth. Aber wenn du dir das nicht denken kannst, kennst du meinen Sohn schlechter als jeder Einzelne hier. Jeder hier wird wissen, was er gerade tut, sobald sein Verschwinden auffällt. Und jedes Gespräch wird sich um ihn drehen, wenn er wieder zurückkommt. Alle werden ihn ansehen und nach Anzeichen suchen. Wenn du ihn also findest, richte ihm aus ...« Er verstummt abrupt, als er einen Mann mit grau meliertem Haar grüßt und versichert, dass er gleich wieder bei den Übrigen sein wird. Jacobs Gastgeberlächeln sitzt dabei einwandfrei auf seinem Gesicht. Es hält an, bis der andere verschwunden ist, und fällt dann von ihm ab wie getrockneter Matsch. »Richte ihm aus, dass wir alle seine Show satthaben. Es geht hier nicht um ihn, sondern um seine Schwester. Alle Aufmerksamkeit gebührt ihr und nicht Nathan. Heute ausnahmsweise mal nicht.«
Ich kann mich nicht erinnern, dass es an einem der letzten Tage um ihn gegangen wäre. Und noch weniger kann ich mir vorstellen, dass das irgendwann anders so gewesen sein könnte. Noch lieber als das möchte ich Jacob allerdings in dieses arrogante, über alles erhabene Gesicht sagen, dass er einen Scheiß über seinen Sohn weiß. Mir fällt so unendlich viel ein, um ihm das deutlich zu machen. Aber ich halte meinen Mund und zwinge mich stattdessen dazu, mit ihm zu sprechen, wie ich es bei jedem anderen Firmenchef machen würde. Emotionale Aufrichtigkeit gehört nun einmal nicht in das Verständigungsrepertoire dieser Menschen. »Ich richte ihm das aus, wenn du mir sagst, wo er steckt. Und ich werde dafür sorgen, dass wir einfach beide noch ein bisschen verschwunden sind. Dann wird jeder denken, wir haben versucht, es clever anzustellen, irgendwo unauffällig eine Nummer zu schieben. Das ist sicher auch nicht höflich, aber anderes Gerede als das, was du befürchtest.«
Jacob sieht mich einen Moment lang an, und ich hasse es, zu beobachten, wie sein Blick kurz an mir hinabgleitet, als wäre ihm bisher gar nicht in den Sinn gekommen, dass sein Sohn Sex mit dieser Frau haben könnte, die vor ihm steht.
»Meinetwegen«, sagt er dann, und ich kann nur knapp vermeiden, dass ich erleichtert aufatme, sobald sein Blick sich wieder von mir abwendet. »Sein Zimmer. Er wird sich eingeschlossen haben. Genau wie früher. Wir haben zur Sicherheit ein Schloss einbauen lassen, um die Tür auch von außen öffnen zu können, sollte er es mal ernst meinen. Den Schlüssel findest du im Wohnzimmer. Der alte Schreibtisch neben der Vitrine. Oberste Schublade auf der linken Seite.« Erst jetzt sieht er mich wieder an und nicht mehr zu den Luftballons, die immer zahlreicher über den Köpfen der Leute schweben. »Ich erwarte absolute Diskretion, Elizabeth. Dieser Tag heute kann keinen Skandal gebrauchen.«
Ich sage nichts, sondern gehe einfach. Mittlerweile ist längst eine Ahnung in meinen Kopf gekrochen, wovon Jacob redet, auch wenn er es nicht so deutlich gesagt hat. Eigentlich ist es sogar recht offensichtlich. Ich habe nur nicht selbst daran gedacht. Narben geraten in Vergessenheit, wenn es nicht die eigenen sind, nicht wahr?
Ich weiß nicht, ob ich sehen will, wie neue entstehen. Vor allem bezweifle ich, dass Nate möchte, dass ich das sehe.
Doch vielleicht liegt Jacob falsch. Es könnte doch sein, dass Nate sich einfach nur zurückgezogen hat.
Er macht das nicht mehr, sage ich zu mir selbst, als ich den Schlüssel hole. Er hat das seit Jahren nicht mehr gemacht. Ich kenne seine Narben. Sie sind blass und alt. Er musste einfach nur weg, nichts weiter. Und vielleicht ist das etwas, bei dem ich helfen kann. Und wenn nicht, dann ... Nun, dann habe ich mich wohl mittlerweile allmählich daran gewöhnt.
Die Stufen zur ersten Etage schleiche ich regelrecht nach oben. Ich glaube nicht, dass irgendwer außer mir selbst meine Schritte hört. Doch für mich ist dieses Geräusch genauso ohrenbetäubend wie verräterisch.
Vor der Tür zu seinem Zimmer halte ich inne. Von drinnen höre ich kein Geräusch. Totale Stille. Erst denke ich, das ist etwas Gutes, das könnte es doch sein, oder? Aber dann fallen mir Jacobs Worte wieder ein, die in meinem Kopf nicht mehr halb so unterkühlt klingen wie aus seinem Mund. Sollte er es mal ernst meinen ... Das würde er nicht. Ich bin sicher, ich bin mir absolut sicher. Nur sind das die Menschen im Umfeld nicht immer?
Am Ende ist es diese Unruhe, die mich dazu antreibt, vorsichtig anzuklopfen. »Nate? Bist du da drin?«
»Verdammte Scheiße!« Ich höre, wie etwas Schweres umfällt. »Gott, Scheiße!«
Ohne weiter darüber nachzudenken, stecke ich den Schlüssel in das Türschloss. Es dauert etwas länger, weil meine Finger zittern, aber schließlich kann ich die Tür entriegeln und schiebe sie auf.
»Raus!«, brüllt Nate mir sofort entgegen. Er steht neben seinem alten Schreibtisch. Der Holzstuhl liegt neben ihm, unbeeindruckt von der donnernden Stimme, die über ihn hinweg in meine Richtung fegt. »Mach, dass du hier rauskommst!«
Ich bleibe wie erstarrt stehen und sehe ihn nur an. Sehe seine Hand, die sich auf den linken Arm presst. Sollte er es mal ernst meinen ...
»Ich hab gesagt, du sollst verschwinden! Sofort!«
Blut rinnt durch seine Finger. Klares Rot, das über seine Haut strömt und immer mehr wird. Es tropft von seinen Fingerspitzen auf den Boden und bleibt dort. Als würde es dorthin gehören und nicht in den Körper, aus dem es gekommen ist.
»Liz, verpiss dich!«