Nates Logbuch
Kein richtiger Eintrag
Nur ein paar Gedanken

Man hat oft den Irrglauben, etwas überstanden zu haben, nur weil es vorbei ist.

Ich bin unglaublich gut darin, in diese Falle zu tappen. Wirklich, ich besitze ein unfassbares Talent dafür. Du weißt das, Nate, oder? Vermutlich erkennt man dieses fragwürdige Talent auf Anhieb, wenn man zu denen gehört, die es besser wissen.

Ich bin mit der U-Bahn darauf reingefallen, als ich dachte, ich würde problemlos allein Bahn fahren können, nachdem es mir einmal gelungen ist. Es wurde leichter, und trotzdem gab es noch zwei Gelegenheiten, bei denen ich heulend vorzeitig ausgestiegen bin und dich angerufen habe. Möglich, dass das irgendwann wieder vorkommt, wenn ich einen schlechten Tag habe.

Ich hatte angenommen, dass das Konzert leichter sein würde, nur weil mir an diesem Abend die Fahrt mit der U-Bahn phänomenal leichtgefallen ist. Als hätte das eine mit dem anderen unmittelbar zu tun.

Und genauso dachte ich, alles wäre wieder in Ordnung, als wir in deinem Zimmer waren, und du damit aufgehört hast, mich loswerden zu wollen. Du hast dich nach wie vor wie der Nate gegeben, den man von dir erwartete – aber du hast es immer mal wieder für einen Moment sein gelassen, wenn niemand außer mir hingesehen hat. Schließlich haben wir diesen Tag endlich überstanden, wir konnten zurück zum Haus deiner Schwester, hatten Sex – guten Sex – und du bist mit mir auf meiner Seite des Bettes geblieben, als wir irgendwann zur Ruhe gekommen sind. Du hast mich festgehalten und warst nicht so furchtbar weit weg wie in den Nächten zuvor. Ich dachte wirklich: Wir haben diesen Termin überstanden. Also ist alles wieder gut.

Zugegeben, ich war betrunken von der Erkenntnis, dass du mich nicht in ein paar Monaten verlassen würdest. Das entschuldigt jedoch nicht meine Naivität. Ich hätte es allmählich besser wissen müssen. Ich meine, du hast mir erzählt, was passiert ist, als du acht warst. Ich habe mir unzählige Male vorgestellt, wie es für dich gewesen sein muss, eine Stunde lang neben deinem toten Bruder zu sitzen und darauf zu warten, dass ein Erwachsener kommt, der es wieder in Ordnung bringt. Und du hast nicht ein einziges, weiteres Mal darüber gesprochen.

So was repariert man nicht mit ein paar ehrlichen Worten, Pflasterstripes und Sex. Auf gar keinen Fall.

Ich denke, das wurde mir wenigstens annähernd klar, als du einfach nicht einschlafen konntest. Du hast dich nicht hin und her geworfen, doch wirklich ruhig liegen konntest du auch nicht. Und da du hinter mir gelegen hast, deine Brust an meinem Rücken und deine Arme um mich geschlungen, war es auch unmöglich, das zu ignorieren.

»Nate, was ist los? Ist dein Arm eingeschlafen?« Das wäre denkbar gewesen, immerhin lag mein Kopf darauf.

Du hast den Kopf geschüttelt, mich kurz auf die Schulter geküsst und dann angelogen. »Alles in Ordnung.«

»Unsinn.« Ich musste mich nur umdrehen und dich ansehen, um zu wissen, dass ich recht hatte. Du sahst so unfassbar müde aus. Und mir fielen nur alberne Erklärungen dafür ein. Immerhin war der Tag doch überstanden. Alles war wieder gut. »Tut der Schnitt weh?«

Du hättest einfach Ja sagen können, aber ich glaube, du wusstest sehr gut, dass du eine hochwertigere Lüge brauchen würdest, um mich zufrieden zu stellen. Und dir fiel auch genau die richtige ein. »Ich muss meinen Eltern noch davon erzählen.«

»Wovon?«

»Dass ich im Sommer nicht zurückkommen möchte.«

War es Zufall oder war dir klar, wie perfekt diese Ausrede war? Ich meine, damit hattest du mich sofort. Die Vorstellung, dich eben doch nicht gehen lassen zu müssen, hatte noch lange nichts von ihrem Zauber verloren – hat sie übrigens immer noch nicht. Und gleichzeitig war das ein Problem, das für mich greifbar war und bei dem ich sogar glaubte, helfen zu können. Immerhin war ich doch geübt darin, unliebsame Gespräche argumentativ so präzise vorzubereiten, dass ich mir damit ein nahezu lückenloses Auffangnetz stricken konnte.

»Meinst du, sie haben was dagegen?«

»Ich ... Keine Ahnung. Möglich. Dad bezahlt recht viel. Er wird das nicht einfach so weiter tragen wollen. Ich bin auch nicht sicher, ob ich ihnen schlüssig erklären kann, wieso ich in England bleiben will. Also, ohne ihnen weh zu tun.«

»Mh«, machte ich, und versuchte, meinen müden Kopf ein wenig zu sortieren, um ihm hilfreiche Ansätze entlocken zu können. »Ich glaube, wir brauchen eine Liste.«

Dein Lächeln wirkte, als wäre das genau die Antwort gewesen, auf die du gehofft hattest. »Eine Liste klingt perfekt.«

»In Ordnung.« Ich rückte mich ein wenig zurecht, um am Ende doch genauso da zu liegen wie zuvor. »Ich schlage vor, du sagst einfach, welche Probleme du befürchtest, und dann suchen wir nach einer Lösung. Soll ich mitschreiben?«

Du hast leise gegluckst und den Kopf geschüttelt. »Ich merk mir das.«

Was Unsinn ist. Jeder weiß, dass geniale oder auch nur hilfreiche Gedanken, die man nachts hat, morgens gern wieder verschwunden sind. Ehe ich dir das erklären konnte, hattest du schon Punkt Eins parat. »Ich werde weit weg sein. Wenn wir ehrlich sind, hatte ich schon in den letzten paar Monaten kaum Kontakt zu meiner Familie. Jedenfalls nicht mit meinen Eltern. Das wird noch weiter einschlafen, je länger ich wegbleibe.«

»Besuche«, kam mir zuerst in den Sinn. »Ich finde, sie sollten auch mal nach London kommen. Du könntest vorschlagen, gleich Termine auszumachen. Damit sie merken, dass du es ernst meinst. Und falls sie darauf bestehen, dass du herkommst, komme ich mit.« Wer würde dich sonst wieder zusammenflicken?

Du hast genickt und dabei schon weiter nachgedacht. »Und warum will ich überhaupt dort bleiben? Der Plan war ein anderer.«

Weil ich mir nicht ausmalen möchte, was passiert, wenn du wieder hierher musst. Allein und endgültig. Aber mir war klar, dass das unmöglich ein Argument ist, das man sagen kann. Dabei hätte deine Familie es sehen können. Die ganzen letzten Tage war es so grell wie eine Leuchtreklame. Jedenfalls für mich. »Meinetwegen«, gab ich also zurück.

»Auf gar keinen Fall«, war deine Antwort, und dennoch hast du mich enger in deine Umarmung gezogen und deine Lippen auf mein Haar gedrückt. »Sie würden dich dafür hassen.«

Ich strauchelte ein wenig, weil die Verführung zu groß war, dir zu erklären, dass ich mittlerweile genug Gründe hätte, das zu erwidern. Schlussendlich beließ ich es bei einem »Und wenn schon.«

»Das geht nicht. Die Entscheidung muss meine sein. Und nur meine. Alles andere ist angreifbar.«

»Dann eben auch alle anderen«, erwiderte ich schulterzuckend. »Amber, Logan ... Ich glaube, Logan hat dich richtig ins Herz geschlossen. Er meinte letztens, er wird einen Welpen adoptieren müssen und ihn Nate nennen, wenn du weg bist. Kein anderer Zweibeiner wäre in der Lage, diesen verpeilten Blick frühmorgens zu ersetzen.«

Es tat so gut, dein Lachen zu hören, auch wenn es nur leise war.

»Mal im Ernst, Nate. Du sagst selbst, dass du in London zu Hause bist. Dazu gehören nun einmal andere Menschen. Genauso wie die Mentalität und die Stadt selbst. Vielleicht sogar hin und wieder das Essen. Abgesehen von der einen oder anderen Lücke.« Ich weiß noch, wie ich mich an dieser Stelle etwas von dir losgemacht habe, um dich ansehen zu können. »Es ist dein Zuhause. Ich finde, es ist okay, wenn du das auch so sagst. Das hat doch mehr Gewicht als irgendwelche fadenscheinigen Argumente.«

Und so ging es weiter. Über organisatorische Themen wie dein Visum und das Studium, wozu du dich längst erkundigt hattest bis hin zu deiner Unterkunft, wenn Ben sein Zimmer wieder beanspruchen würde. »Dann schläfst du bei mir auf der Couch, wenn es unter den Brücken zu kalt wird. Ganz einfach.« Im Prinzip war es damit schon geklärt, fand ich, und dein Grinsen und dein Kuss haben mich glauben lassen, dass es das auch für dich ist. Ich hoffe, ich liege hier nicht falsch. Ich hoffe, du weißt, dass du zu mir ziehen kannst, sofern du das willst. Oder wir suchen uns einfach etwas Neues. Auf Dauer wird meine Wohnung wohl etwas klein für zwei Leute. Aber du wirst auf keiner Couch schlafen müssen, außer du versackst bei Logan.

Das ist dir doch klar, oder?

Ich weiß nicht mehr viel von den Punkten, die wir noch besprochen haben. Wie ich schon sagte: Das ist es nun einmal, was der nächste Morgen mit Gedanken macht. Nur sind das ohnehin nicht die Themen, die dir Kopfzerbrechen bereiten wegen des Gesprächs morgen, nicht wahr? Diese ganzen Punkte sind wie unnötige Dekoration, die vielleicht auf den Tisch kommen wird, aber um die es eigentlich niemandem geht.

Und du hast es mich wissen lassen. Ich bin nicht sicher, ob absichtlich, oder ob es nur die Müdigkeit war, die nach dir gegriffen hat und diesen vorgeschobenen Plan mit den Argumenten bröckeln ließ.

»Sie werden mir vorwerfen, dass ich mich vor meiner Verantwortung drücke.«

»Welche Verantwortung?« Meinen Kopf hatte ich längst wieder an deine Brust gelegt. Ohne dieses kleine Detail wäre ich vielleicht nur dabei geblieben, das als Unsinn abzutun, und wäre eingeschlafen. Doch dein Herzschlag wurde unruhiger und holte mich aus diesem Dämmerzustand zurück.

»Liam.«

Aber er ist tot, schoss es mir durch den Kopf. Niemand hat mehr die Verantwortung für ihn. Das ist vorbei.

Es brauchte ein paar Umwege, bis mein Kopf deinen Worten ihre eigentliche Aussage zugeordnet hatte. Bis ich sicher war, dass du glaubst, das alles könnte danach aussehen, dass du wegrennst. Nicht vor irgendeiner Verantwortung, sondern vor der Schuld, diese Waffe gehalten zu haben. Eine Waffe, in der die Patrone gar nicht hätte sein dürfen, die beim Entladen wohl in der Trommel stecken geblieben war. Die genauso gut dich hätte treffen können.

»Nate?« Nun sah ich doch wieder auf, und du hast meinen Blick erwidert. Es wirkte fast schon wie eine Herausforderung. Und, Liz? Welches Argument kannst du dagegen anführen?

Hast du gemerkt, dass ich mit einem Mal wahnsinnig nervös war? Ich war mir sicher, die Antwort auf dein Problem zu kennen. Bloß wenn sie dir nicht längst bewusst war, würdest du sie mir nicht glauben. Da war ich ebenso sicher. »Nate, du weißt, dass das nicht deine Schuld war, oder?«

Nein.

Du hast keinen Ton gesagt. Die Antwort, die dein Gesicht mir gegeben hat, war dafür unmissverständlich. Deine Mimik war wie eine Mauer, die krampfhaft die letzten sechzehn Jahre festhielt, die drohten, aufzubrechen und den achtjährigen Jungen dahinter preiszugeben.

Ich habe dir wehgetan.

Ich glaube, ich habe das erste Mal etwas gesagt, was du dringend hören musstest, am besten immer und immer wieder. Aber weil es dir wehgetan hat, bin ich davor zurückgeschreckt, weiter zu fragen. Nachzuhaken, ob du selbst wenigstens mal in Erwägung gezogen hast, dass die Schuld vielleicht irgendwo in den Umständen lag und nicht in den Händen eines Kindes.

Hat man in eurer Familie überhaupt jemals darüber gesprochen, oder ist alles nur weit weggeschoben worden, wo man es nicht sehen muss? Und wo es auch sonst niemand sehen kann? Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es genau so gewesen ist. Nun, da ich deine Familie kennengelernt habe, bin ich mir sogar sehr sicher. Vielleicht geht es den anderen ja wie dir – auf die eine oder andere Art.

Es kommt mir vor, als wärt ihr auf Inseln, auf denen jeder mit den gleichen Monstern kämpft wie die anderen auch. Nur schafft ihr es nicht, euch das zu sagen. Stattdessen schickt ihr Bilder von den Palmen und vom Strand.

Nate, ich gebe es nicht gern zu, aber ich habe wirklich Angst davor, dir noch mehr weh zu tun. Mehr kaputt zu machen. Ich bin niemand, der weiß, wie solche Dinge wieder repariert werden können, und welche noch einmal zerbrechen müssen, um zu heilen. Ich finde, das sollte dir jemand zeigen, der sich damit auskennt. Mir ist klar, dass in deiner Familie nie über diese Option gesprochen wurde, und ich kann mir auch denken, weshalb. Denk bitte trotzdem darüber nach, ja? Das soll nicht heißen, dass ich dir nicht helfen will. Ich finde nur, dass ich es nicht kann, aber dass es irgendjemand tun sollte.

Als du mir im Januar von Liam erzählt hast, meintest du, dass du eine Stunde auf deine Mutter gewartet hast. Ich fand die Vorstellung unfassbar grausam, wie ein Achtjähriger eine ganze Stunde lang neben seinem Bruder ausharren muss. Das ist viel Zeit für ein Kind.

Dabei sind es nicht die sechzig Minuten, um die es geht, oder?

Im Januar habe ich das noch nicht verstanden. Diese Stunde muss unvorstellbar schmerzhaft gewesen sein, aber sie war nur der Anfang von sechzehn weiteren Jahren.

Im Prinzip sitzt du dort noch immer, nicht wahr? Du sitzt auf dem Boden im Arbeitszimmer deines Vaters, neben dir liegt dein Bruder, und du siehst zu, wie das Blut auf seine blauen Schuhe mit den gelben Streifen zukriecht. Du bist all die Jahre dortgeblieben und hast versucht, es wieder gut zu machen.

Nate, ich fürchte, dass niemand kommen wird, um dir zu sagen, dass es genug ist. Niemand wird dir aufhelfen und dich durch die Tür begleiten. Ich hoffe, dass dir stattdessen jemand zeigen kann, wie du allein rauskommst.

Ich verspreche, ich werde hierbleiben, okay? Ich bin hier, bis du es schaffst, diese verdammte Klinke herunterzudrücken.