27. 3. 2019 – 11:43 Uhr (CDT)
Camden, Arkansas, USA
Ich nehme an, dass Zeit, die sich einem Ende zuneigt, fast immer diesem Phänomen unterliegt. Man versucht, sie festzuhalten. Logik spielt dabei keine Rolle.
Die Hochzeit von Kim und Ian ist drei Tage her – drei beinahe durchgehend verregnete Tage, vor denen ich mir nichts sehnlicher herbeigewünscht habe als deren Ende. Doch dann hat es geregnet, es war grau draußen, und wir haben Kims Haus kaum verlassen. Wenn man viel Zeit hat und keinerlei Ziele, die es bei diesem Wetter anzusteuern lohnt, ist es beeindruckend, wie oft man Filme sehen kann, ohne irgendetwas von ihrer Handlung mitzubekommen. Einfach nur, weil es mehr Spaß macht, sich von Nate ablenken zu lassen. Genauso faszinierend ist es, wie viele Cheetos in einen Mann reinpassen, der sich in dieser kulinarischen Freude viel zu lange diszipliniert hat.
Und es ist erstaunlich, wie schwer es nach einer kurzen Zeit des süßen Nichtstuns fällt, den eigentlich ersehnten Abschied anzutreten. Nur aus dem Grund, dass es genauso ist wie zu Hause.
Gewesen.
Es ist wie zu Hause gewesen.
Bis der Wecker an diesem Morgen geklingelt und den Tag der Abreise eingeleitet hat. Es ist nicht die Abreise, die Nate kaum ein Wort sprechen lässt. Das ist mir klar, auch wenn sich das, was er sagt, um das Packen der Koffer und meine Flugangst dreht. Es gab eine kurze Exkursion zur Arbeitsteilung an diesem Vormittag, und ich bin mir ziemlich sicher, dass er froh darüber war, als ich getrennte Aufgaben vorgeschlagen habe.
Ich trage sogar meine Kopfhörer, damit er sich nicht gezwungen fühlt, fadenscheinige Dialoge mit mir führen zu müssen, während er in der Küche und dem von uns genutzten Bad Ordnung schafft und ich die Dekoration anbringe, wie wir es Harper versprochen hatten.
Das Herzstück meiner kleinen Eskalation ist das Netz, das ich über die Decke im Eingangsbereich gespannt habe. Darin wartet das übliche Klischee aus Luftballons und feinen Konfettiflocken darauf, auf das frisch vermählte Paar hinabzuregnen, sobald es über die Schwelle tritt. Dagegen sind die Lichterketten am Treppengeländer und die obligatorischen Rosenblütenblätter ein Witz.
Ich bringe gerade das Garn an der Klinke an, mit dem dieses dekorative Unwetter ausgelöst werden soll, als ich Nates Stimme höre. Nicht seine Worte, dafür ist die Musik zu laut. Ich überlege sogar kurz, ihn zu ignorieren, damit ich noch ein paar Zeilen des Songs hören kann, den ich liebe, jedoch nie laut in Nates Gegenwart hören kann.
Dabei kennt er ihn. Er hat ihn im November live mit mir angehört. Ich frage mich mittlerweile wirklich, wie es ihm dabei ging. Ob er an dieselben Dinge dachte wie ich mittlerweile – nun, da ich manches besser weiß.
Ich entscheide mich gegen den Song, drücke auf Pause und wende mich in die Richtung um, in der ich Nate vermute. Ich erspähe ihn auf der Treppe, wie er unsere Koffer hinunterträgt. Der erste steht bereits unten. Hatte ich das Gepolter die ganze Zeit überhört?
»Liz, schaust du noch mal nach, dass wir nichts liegen gelassen haben?«
»Sicher.« Ich knote kurz das Garn fest und deute energisch auf die Klinke. »Wenn du auch nur daran denkst, durch diese Tür zu gehen, mache ich dir die Hölle heiß.«
Ein ausgesprochen zaghaftes Lächeln huscht über seine Züge. Es hält nicht einmal durch, bis ich ihn erreicht habe und ihm einen flüchtigen Kuss gebe. »Der Flieger geht um halb acht. Wir müssen also spätestens um drei hier los. Allerspätestens. Also egal, was passiert, es wird nicht lange dauern. Okay?«
Ich weiß, dass die Worte ihm nichts von seiner Nervosität nehmen. Trotzdem lässt er sie mich sagen und tut nicht so, als müsste er sie nicht hören. Und das ist doch schon etwas, oder?
Er nickt, murmelt »Okay« und greift wieder nach dem Koffer, den er kurz abgesetzt hatte. »Dann nehme ich wohl den Umweg über die Terrasse.« Er wartet nicht einmal mein »Danke« ab, ehe er sich mit dem Gepäck auf den Weg macht. Also begebe ich mich nach oben, überblicke die üblichen Ecken, die sich zum Vergessen anbieten, und halte einer kurzen Welle von Wehmut stand, die mir ein letztes Mal weismachen will, dass dieser Abschied schmerzen müsste.
Ich schlage sie mit einem Kopfschütteln in die Flucht, greife nach der Tüte mit den Blütenblättern und verteile sie auf dem Weg treppab auf den Stufen. Unten angekommen lasse ich meinen Blick noch einmal über dieses rosarote, teilweise glitzernde Spektakel wandern, von dem ich froh bin, es nicht aufräumen zu müssen. Dann folge ich Nate mit meiner Handtasche und seinem Rucksack nach draußen zum Wagen, in dem er bereits alles verstaut hat.
»Bereit?«, hake ich nach und weiß schon während ich diese Frage stelle, dass seine Antwort mindestens eine Beschönigung, wenn nicht gar eine Lüge sein wird.
Er nickt und schließt den Kofferraum, nachdem ich seinen Rucksack zwischen die Koffer gequetscht habe. »Kim und Ian sind vermutlich schon da. Sie hat mir heute Morgen geschrieben, dass sie das Zimmer um 10 Uhr verlassen müssen, also ... Ich will ungern zu spät sein.«
Weder ist das die Antwort auf meine Frage noch eine berechtigte Sorge. Halb eins sollen wir zum Lunch da sein. Wir würden eine Verspätung also höchstens schaffen, falls wir dieses Auto schieben müssten, und auch dann nur knapp.
Ich sage nichts dergleichen, sondern setze mich auf den Beifahrersitz und gebe mir Mühe, es auch dabei zu belassen, während Nate den Motor startet und den Wagen von der Auffahrt lenkt.
Du bist nicht nervös, schießt es mir durch den Kopf, du hast Angst.
Du willst ihnen nur erklären, wo und wie du leben möchtest.
Es ist in Ordnung, weißt du? Es ist in Ordnung, dass du etwas tust, womit es dir gut geht.
Das muss dir nicht leidtun.
Ich weiß, dass er mir kein Wort glauben würde. »Amber fragt, was wir haben wollen«, sage ich also. Nicht, weil es mir wichtig scheint, sondern weil ich das Gefühl habe, irgendetwas sagen zu müssen, ehe ich all das ausplaudere, was mir durch den Kopf geht. Inklusive der Bitte, sich einen Therapeuten zu suchen. Vor allem diesen Punkt habe ich mir fest für »danach« vorgenommen. Für dann, wenn Nate sich nicht mehr so viel Mühe geben muss, die Fassade von fragwürdiger Normalität aufrecht zu erhalten.
»Wovon redest du?« Das ist die Antwort, auf die ich spekuliert hatte, wenn ich ehrlich bin. Wenn gutes Zureden schon keine Abhilfe schaffen kann, dann immerhin Irritation. Und tatsächlich löst sich Nates steinerne Miene in einem Stirnrunzeln auf.
»Von Nahrung. Ich weiß nicht, wie es dir geht. Ich werde jedenfalls keine Lust haben, morgen direkt einkaufen zu gehen, wenn wir ankommen. Ich werde nur essen und schlafen wollen. Für wenigstens zwei Tage. Und ich dachte, du willst mir dabei vielleicht Gesellschaft leisten. Amber geht davon übrigens auch aus. Sie spricht uns an, nicht mich. Plural.« Ich plappere, das merke ich. Aber ich merke eben auch, dass Nate mir zuhört.
Er schmunzelt ein kleines bisschen und nickt. »Pizza. So viel Tiefkühlpizza, wie in dein Gefrierfach passt, und Pies. Und Bier.«
Das ist in etwa die Antwort, die ich Amber ohnehin gegeben habe. »Guter Mann«, kommentiere ich. Und mehr kann ich nicht für seine kurze Zerstreuung tun, da wir in diesem Moment in die Straße einbiegen, in der seine Eltern wohnen.
Tatsächlich steht Ians Wagen bereits in der Auffahrt, als wir das Haus erreichen. Und ich merke sofort, wie sich Nate bei dem Anblick anspannt. »Halb eins«, erinnere ich ihn. »Wir sind nicht zu spät, nur weil andere zu früh sind. Was übrigens auch nicht pünktlich ist, sondern unhöflich.«
Nate dreht den Zündschlüssel und löst seinen Gurt, ehe er mich ansieht. Ich fürchte, er hat diese Sekunden gebraucht, um das Lächeln in seinem Gesicht zusammenzubauen, ehe er es mir präsentiert. »Das klingt nach einer Lektion, die deine Mutter dir beigebracht hat.«
»Oh, das sind sogar exakt ihre Worte«, erwidere ich, schenke ihm ein aufmunterndes Lächeln und nicke zu dem Haus, vor dem wir parken. »Irgendwer hat vermutlich schon mitbekommen, dass wir da sind. Wir könnten sie noch etwas auf die Folter spannen ...« Ich schaue auf die Uhr hinter seinem Lenkrad. »Noch exakt zwanzig Minuten.«
Wieder lächelt er zaghaft, und ich habe das Gefühl, dass er denkt, er müsse das tun. Es sieht fürchterlich angestrengt aus, wie er sich abmüht, wenigstens ein Stück weit der Nate zu bleiben, den ich nun einmal kenne. »Ich würde ungern noch mehr Unruhe verursachen.« Das klingt wie eine Bitte.
Was bleibt mir also anderes übrig, als zu nicken, ihn zu küssen, und mich selbst abzuschnallen? Ich will nicht von ihm verlangen, mich zu irgendwas zwingen zu müssen. Immerhin hat er mich genau darum schon in London gebeten, nach unserer ersten U-Bahn-Fahrt. Und diese Bitte ist so viel weniger bescheuert gewesen als jede dieser Erwartungen, die in den ersten Tagen hier in der Luft hingen wie zu schweres Parfüm.
»Du sagst es ihnen, wenn du so weit bist«, hebe ich an, als er auch schon dazu ansetzt, mich zu unterbrechen. »Nein, hör mir zu. Hörst du mir zu?« Ich warte sein Nicken ab und übersehe das Zögern dahinter geflissentlich. »Gut. Also ... Du sagst es ihnen, wenn du so weit bist. Ich werde meine Klappe halten. Nur belangloser Small Talk, versprochen. Falls es zu einer Diskussion kommt, weil du in London bleiben willst, halte ich mich raus.«
Nate sieht mich mit einem Blick an, aus dem so viel unverhohlene Skepsis heraussticht, dass er es gar nicht nötig hat, auch nur einen Ton zu sagen.
»Wirklich, ich kann das«, beteure ich. »Ich sage nur etwas dazu, wenn ich direkt angesprochen werde. Du weißt besser, was deine Familie hören muss. Und ich will es dir nicht schwerer machen, indem ich damit herausplatze, was ich lieber hören würde.« Kurz überlege ich, noch ein paar Dinge mehr zu sagen. Nur ein paar Worte mehr zu dem, was ich mittlerweile verstanden zu haben glaube. Doch ich habe Angst, dass es zu viel wäre, also belasse ich es bei einem »Ich meine es ernst, okay?«
Die Skepsis rückt ein wenig von Nates Gesicht ab. Er sieht kurz an mir vorbei zum Haus, dann findet sein Blick wieder meinen. »Danach. Du kannst mir danach alles sagen, was du beim Essen für dich behalten hast.«
»Das klingt fair.«
Es folgen keine weiteren Worte mehr. Nur ein tiefer Atemzug von Nate, als ich ihm wie zum Abschied noch einmal mit den Fingern durch die Haare fahre, während er sich die Ärmel seines Pullovers wieder bis zu seinen Handgelenken zieht. Der Verband an seinem linken Unterarm ist kein Thema, das er auch noch mit in sein Elternhaus bringen möchte.
Schweigend steigen wir aus. Seine Hand liegt kaum merklich an meinem Rücken, während wir über den Kiesweg zur Haustür laufen. Sie ist nicht verschlossen, also öffnet Nate sie einfach, und wir treten ein.
Wir finden Kim und Harper in der Küche. Sie stehen plaudernd an der Anrichte und bereiten den Salat vor, während Ian und Jacob bereits den Grill entzünden. Ich erwidere kurz Nates Seitenblick, der prüft, ob ich mir wirklich einen Kommentar verkneifen kann. Dabei bräuchte es mehr als das gängige Klischee von Geschlechterrollen, um mich mein Versprechen brechen zu lassen.
Tatsächlich halte ich mich an das, was ich gesagt habe. Ich lasse mich auf die überschwängliche Begrüßung von Nates Schwester und seiner Mutter ein und stecke schon in einem Austausch zu den letzten Tagen, ehe ich nur daran denken kann, die Augen darüber zu verdrehen, dass sich Nate fast umgehend zu den Männern begibt, um vermutlich gewichtige Analysen zum Weltgeschehen aufzustellen.
Die Themen in der Küche sind etwas leichtgängiger. Und ich bin froh, dass Kim diejenige ist, die sie mit ihrer Begeisterung für das Spa-Hotel füllt, in dem Ian und sie die letzten Tage verbracht haben. Sie schwärmt, Harpers Augen leuchten ob der gelungenen Freude, und mir bleibt es erspart, mir Märchen auszudenken, um nicht erklären zu müssen, dass weder Nate noch mir in den letzten Tagen der Sinn danach gestanden hatte, allzu viel von Camden und der Umgebung zu sehen.
»Sie hatten auch so einen Pool mit kleinen Fischen, die einem an den Füßen knabbern«, erzählt Kim begeistert. »Ich glaube, ich hatte noch nie so weiche Füße. Das müsst ihr mal ausprobieren. Und dann diese ...« Sie verstummt, als die Terrassentür zur Seite geschoben wird. Beinahe, als hätte sie uns gerade sensible Geheimnisse verraten, die niemand außer uns hören darf.
»Fünf Minuten«, verkündet Nate und deutet zu den Salatschüsseln, die längst bereitstehen. »Braucht ihr Hilfe beim Tragen?«
»Nur bei den Getränken«, sagt Harper. »Wenn du das Bier und die Karaffe da schon mit rausnehmen könntest? Und den Wein. Liz, du trinkst doch einen Wein mit mir? Nun, da Kim mir keine Gesellschaft leisten kann.«
Ein kurzer Blick von Nate verrät mir, dass ich nun wohl zu den Weintrinkern gehöre, auch wenn Bier mir lieber gewesen wäre. Ich notiere Punkt eins auf meiner Liste der Dinge, über die ich mich später auslassen darf, und nicke. Dann eben Wein.
Er ist weiß und trocken, was auch ziemlich gut auf die Gespräche zutrifft, die geführt werden, während man Teller mit Steaks und Schüsseln mit Salat herumreicht. Vieles dreht sich um Personen, die ich nicht kenne.
»Sogar Laurel Bishop hat gratuliert.« Es folgt ein gewichtiges Raunen, das mich neugierig genug macht, um mir vorzunehmen, Nate später zu fragen, wer diese Laurel Bishop sei. Während des Essens kommen noch weitere Namen hinzu. Warren Blake, der die Feier schon nach einer Stunde verlassen hatte. Jedenfalls hat ihn niemand mehr gesehen. Sarah Percey, die wohl ebenso wie Kim keinen Alkohol getrunken hatte, was gerade in der aktuellen Situation natürlich zu einer brodelnden Gerüchteküche führt. Woraus allerdings diese aktuelle Situation konkret besteht, bleibt mir schleierhaft. Ebenso, weshalb »dieses Kleid« von einer Mary ohne erwähnten Nachnamen eine Frechheit gewesen war.
Etwa an dieser Stelle und bei meinem nunmehr dritten Glas Wein gebe ich es auf, mir weitere Namen zu merken. Ich bin ohnehin nicht allzu zuversichtlich, mir diese wenigen zu behalten, bis ich mit Nate allein sein werde.
»Nathan, hast du gesehen, dass Caroline auch da war?«
Vielleicht liegt es am Alkohol, doch ich kann nicht anders, als aufzuhorchen, als Harper ihrem Sohn diese Frage stellt. Etwas im Klang ihrer Stimme scheint zu lauern, nur weiß ich nicht so recht, worauf.
Nate nickt. »Ich habe kurz mit ihr und Tony gesprochen, ja.«
»Sind die zwei denn mittlerweile verlobt?«
»Das kann ich dir leider nicht sagen, keine Ahnung.«
Harper seufzt enttäuscht und bricht ein Stück von ihrem Brot ab, um dann nicht mehr damit zu tun, als es einfach nur zwischen ihren Fingern zu drehen. »Ich glaube, sie sind verlobt. Nach all den Jahren wäre es höchste Zeit.«
Nate nickt nur und schenkt seiner Mutter ein Lächeln, das ihr versichert, dass er sich nicht die Mühe machen wird, dem zu widersprechen. Kim tut ihm den Gefallen, ihn mit einem Kichern wieder aus dem Fokus zu ziehen. Möglicherweise tut sie den Gefallen auch eher mir.
»Caroline war Nates erste große Liebe«, erklärt sie und grinst mich an. »Wie alt wart ihr? Sechs? Sieben?« Mehr hätte sie nicht sagen müssen, um diesem Namen sein Gewicht zu nehmen. Trotzdem plaudert sie weiter. »Ich glaube für zwei Wochen wart ihr sogar ein offizielles Paar. Und das, obwohl die anderen Jungs Nate dafür ausgelacht haben, dass er ein Mädchen mag.« Sie greift sich ans Herz und trägt ihr Schmunzeln dabei noch immer auf dem Gesicht. »Trotz aller Widrigkeiten hat er zu ihr gehalten. Er hat ihr sogar immer die selbst gebackenen Cookies geschenkt, die Mom uns für die Schule eingepackt hat, und dafür das gesunde Zeug gegessen, das Caroline immer dabeihatte. Und was kommt am Ende raus? Dieses gemeine Biest hat die Kekse einfach an Tony weitergegeben, um ihn damit zu verführen.«
»Kim ...«, raunt Harper mahnend, und ich bin nicht sicher, ob es der Bezeichnung gilt, mit der ihre Tochter ein Kind tituliert, oder daran, dass sie dieser etwa Sechsjährigen strategische Verführungskünste zutraut.
»Es ist doch wahr. Sie hat Nate ausgenutzt, um sich den Sohn vom Mathelehrer zu angeln. Es war empörend. Außerdem hat Nate mich monatelang nur geärgert, weil damit natürlich grundsätzlich alle Mädchen doof waren, sogar seine Schwester.«
»Das klingt nur konsequent«, meine ich – unsicher, ob ein solcher Kommentar überhaupt erwünscht ist. Immerhin grinst Kim mir kurz zu, während Nate gar nicht wirklich auf das Gespräch reagiert, das sich ja wenigstens zur Hälfte um ihn dreht. Stattdessen stellt er schon leere Salatschüsseln ineinander, um sich nur weit genug aus diesem Dialog zurückzuziehen.
Am liebsten möchte ich ihm zuflüstern, dass er es einfach sagen soll. Dass es vielleicht gar nicht schlimm wird. Und dass er es ohnehin hinter sich bringen muss. Er schiebt es schon viel zu lange vor sich her, und ich weiß nicht, wie lange er sich noch damit quälen will. Als wäre jemals irgendetwas leichter geworden, weil man darauf wartet.
Tatsächlich tut er sich das noch einige Minuten länger an. Lange genug, um das Thema wieder zu anderen Personen weiterziehen zu lassen. Dabei muss es doch viel schwerer sein, es wieder zu sich zurück zu lenken.
Kim setzt gerade dazu an, gemeinsam mit ihrer Mutter das Dessert zu holen, als ich Nate neben mir höre. »Ich ... könnt ihr noch kurz sitzen bleiben? Es dauert auch nicht lange.«
Er wartet kurz, bis sich seine Schwester wieder hingesetzt und seine Mum ihr Weinglas wieder in der Hand hat. Danach gilt seine Aufmerksamkeit in erster Linie Jacob. Er sieht seinen Vater an und scheint einen Moment lang nicht weiter zu wissen. Als hätte er vergessen, dass er mittlerweile erwachsen geworden ist, und dass das hier kein Streich eines dummen, kleinen Jungen ist, den er beichten muss. »Bisher war geplant, dass ich zum nächsten Semester wieder in Little Rock sein werde. Aber ich habe mich erkundigt und kann mein Studium gleichwertig in London beenden.« Ich beobachte, wie er tief einatmet, kurz zu seiner Mutter sieht und dann auf irgendeinen Punkt zwischen ihnen. »Eine Verlängerung meines Visums habe ich bereits beantragt.«
Ich warte darauf, dass er sich auch noch dafür entschuldigt. Vielleicht hätte er das sogar getan, hätte Jacob nicht zuerst das Wort ergriffen.
»Also ist das hier ein Beschluss, von dem du uns erzählst. Keine Überlegung.«
»Richtig«, bestätigt Nate, und ich unterdrücke den Impuls, nach seiner Hand zu greifen.
»Mh.« Kurz sieht Jacob seine Frau an und nickt dann. »Ich bin aufrichtig enttäuscht, dass du uns erst so spät davon erzählst, Nathan. Deine Mutter und ich, und ich denke, ebenso deine Schwester, rechnen seit einer Woche mit dieser Nachricht. Es wäre fair gewesen, uns eher in Kenntnis zu setzen.«
»Ich wollte mich vor oder bei der Hochzeit nicht in den Mittelpunkt drängen«, erklärt Nate. Er klingt beinahe wie ein Soldat, der seinem Leutnant Bericht erstattet. Aber diesmal schaut er dabei zu Kim, nicht seinem Vater. »Und dann wollte ich warten, bis alle wieder da sind.«
Jacob reagiert gar nicht auf die Rechtfertigung seines Sohnes. Ich überlege, ob das immer so ist. Vielleicht ist nur wichtig, dass Nate seine Verteidigung vorbringt. Nicht, dass man in irgendeiner Form ihre Gültigkeit bestätigt. »Dein Studium geht noch zwei Jahre. Geht deine Planung auch darüber hinaus?«
»Ich werde vor Ende des Studiums meine Möglichkeiten noch einmal genau bewerten müssen. Allerdings muss ich offen sagen, dass ich mit dem Gedanken spiele, auch nach meinem Abschluss in England zu bleiben.« Augenscheinlich hat sich Nate allein besser auf diese Fragen vorbereitet, als wir es gemeinsam in unserem nächtlichen Dialog geschafft haben. Zum Glück hat er das. Denn keine der Fragen, mit denen ich gerechnet hätte, wird gestellt. Nur die anderen.
»Und wie sieht es mit deiner Unterkunft aus? Hast du dir darüber bereits Gedanken gemacht?«
»Bis zum Ende des Semesters bleibe ich wie geplant in der WG. Für danach gibt es bereits eine Option.«
Eine Option ... Ich stelle mein Weinglas lieber beiseite, ehe es mich dazu überreden kann, seinen Inhalt in einem Zug zu leeren.
»Und vermutlich rechnest du damit, dass ich weiterhin für deine Unkosten aufkomme.«
Ich höre Nate neben mir tief einatmen. Ich weiß, dass das der Punkt ist, der ihm die meisten Sorgen bereitet. »Im nächsten Studienjahr kann ich andere Aufgaben im Rahmen meines Projektes übernehmen. Aufgaben, für die ich mit einer finanziellen Entlohnung rechnen kann. Deren Höhe muss ich noch verhandeln. Ansonsten werde ich auch die Zeit finden, mir mit einer Nebenbeschäftigung etwas dazuzuverdienen.«
Jacob nickt diesmal tatsächlich. Und damit räumt er mir einen Moment ein, um mich zu fragen, ob irgendwer außer diesen beiden überhaupt etwas zu der ganzen Sache sagen dürfte, wenn er wollte. »Darüber verständigen wir uns, sobald du kalkulieren kannst. Und eine Sache noch, Nathan«, hebt er an und beugt sich leicht nach vorn. »Wir sind nach wie vor deine Familie und als solche werden wir gefragt, was unser Sohn in England so treibt. Ich erwarte, dass du deiner Mutter wöchentlich berichtest, wie es dir geht, und wie sich das Studium entwickelt.«
»Das werde ich.« Mehr sagt Nate dazu nicht, woraufhin sein Vater sich wieder zurücklehnt und nach seinem Glas greift.
»Dann konnte das nun endlich besprochen werden. Wollen wir zum Dessert übergehen?« Die Frage stellt er Harper, drückt sogar kurz ihre Hand, und sie lächelt, als hätte sie die ganze Zeit auf diese Frage gewartet.
»Dann gebt mir mal eure Teller, damit wir Platz schaffen können. Ian, reichst du mir noch die Platte dort?«
Ich biete an, ihr zu helfen. Und während ich selbst Besteck in einer leeren Salatschüssel sammle und nach den ersten leeren Bierflaschen greife, wird das Gefühl stärker, dass es so nicht laufen sollte.
Mit dem Geschirr verschwindet auch das Thema um Nates Entscheidung vom Tisch. Und zwar ganz und gar. Ich hatte für einen Moment angenommen, dass sich dieses Gespräch zwischen Vater und Sohn einfach unbeholfen an leicht zu bemessenden Prioritäten entlanggehangelt hat, ehe die wesentlichen Dinge zur Sprache kommen können. Aber die bleiben einfach in dieser Nacht nach Kims Hochzeit und zwischen Nate und mir. Sie schaffen es nicht bis hierher.
Als Harper ihren Blueberry Cheesecake nach dem Rezept einer ihrer Großmütter anschneidet, erzählt Ian von geplanten Renovierungen und der neuen Küche, die kommen soll, noch ehe das Baby da ist. Und Nates Familie greift bei diesem Thema mindestens genauso dankbar zu wie beim Kuchen.
Immer wieder schaue ich zu ihm und suche auf seinem Gesicht nach derselben Wut, die in meinem eigenen Bauch schwelt. Vielleicht auch Enttäuschung oder Verunsicherung, weil das Thema hier keinem wichtig genug scheint, um sich länger als nötig damit zu befassen. Verletzung, weil der Umgang mit seiner Entscheidung unfassbar repräsentativ ist für den Umgang mit ihm selbst.
Doch auf Nates Gesicht sehe ich nichts dergleichen. Ganz im Gegenteil – er wirkt fast schon gelöst. Ihm scheint es leichter zu fallen, einzusehen, dass es das jetzt war. Dass seine Entscheidung keine weitere Aufmerksamkeit bekommen wird, und er selbst auch nicht.
Als Kim mich fragt, ob ich Blaubeeren nicht mag, höre ich auf, in Nates Mimik nach einem Echo dessen zu suchen, was ich selbst empfinde. Ich lächle, sage irgendwas von Tagträumen und widme mich dem Nachtisch, nicht den übrigen Gesprächen. Weil ich wenig über die Einrichtung von Küchen zu sagen weiß und noch weniger über jüngste Skandale in der unmittelbaren Nachbarschaft, um die es sich später dreht. Vor allem aber kann ich nicht so recht aufhören, zu warten. Ein Teil von mir rechnet einfach nach wie vor damit, dass Jacob oder Harper noch einmal das Wort ergreifen mit einem »Um noch mal darauf zurückzukommen, was du gesagt hast, Nate ...«
Diese Erwartung lässt mich einfach nicht los. Das ist oft so, wenn man sich Sachen schon im Vorfeld ausmalt. Gespräche und Reaktionen darauf. Und dann bleiben Teile davon einfach aus, manchmal auch die großen, wesentlichen. Das kann passieren. Und es ist nur normal, dass man noch eine Weile auf das wartet, was fehlt.
Oft vergeblich.
»Ist alles in Ordnung?«
Die Frage stellt man in den meisten Fällen nur obligatorisch. Aber als ich neben Nate wieder im Mietwagen sitze und zusehe, wie das Haus seiner Eltern hinter uns immer kleiner wird, hätte ich wirklich gern eine andere Antwort darauf als nur die obligatorische.
Nate tut mir den Gefallen nicht. »Alles okay«, sagt er, schaut noch einmal in die Richtung, aus der wir eben gekommen sind, und lenkt den Wagen dann um die nächste Kurve. Das Haus verschwindet.
»Gilt noch, was du vorhin gesagt hast?«
Er sieht mich fragend an.
»Dass ich dir jetzt alles sagen kann, was ich da drin für mich behalten habe?«
»Natürlich«, antwortet er. Ebenso obligatorisch wie eben.
Ich versuche, mich davon nicht abschrecken zu lassen. »Wenn uns deine Familie je besucht, werde ich Bier trinken, nur um sie zu schockieren. Damit du das schon einmal weißt.«
Er nickt. »In Ordnung.«
»Und ich hätte gern, dass du ab heute ein Shirt trägst, auf dem steht ‚Ich habe eine Option‘. Einfach nur, damit alle Frauen direkt wissen, dass du glücklich vergeben bist.« Ich sehe ihn ein bisschen provokativ von der Seite an, während ich auf seine Antwort warte. Diesmal braucht er dafür auch deutlich länger.
Er schaut kurz zu mir. »Tut mir leid, das war nicht ... Tut mir leid.«
»Schon gut«, sage ich und lächle. Ich habe das Gefühl, dass wenigstens einer von uns lächeln sollte. Es ist schließlich vorbei, nicht wahr? Es ist vorbei. Nur die Erleichterung fehlt, als hätten wir sie liegen lassen wie ein Ladekabel, das hinter den Nachttisch gefallen ist. »Nate, ich ... Ich bin nicht sicher ...« Ich seufze, dann drehe ich mich auf meinem Sitz zu ihm um. »Ich bin sauer. Das solltest du wissen. Nicht auf dich – abgesehen von dieser kleinen Belanglosigkeit mit der Option. Auf deine Familie.«
Ich kann ihm ansehen, dass er das nicht hören will. Dennoch hält er den Mund und lässt mich reden. So, wie er es mir versprochen hat.
»Wenn ein Familienmitglied beschließt, den Kontinent zu wechseln – dauerhaft – dann ... Dann rede ich doch nicht über Küchen! Oder liege ich da falsch? Ich frage ihn doch, wie es da ist, wo er hinzieht. Wann man sich wieder besucht, wann ich selbst mir sein neues Leben ansehen kann. Ich frage doch, warum er dort bleiben will, oder? Ich meine, mindestens deine Eltern müssten doch hören wollen, dass es dir da gut geht. Dass du vielleicht sogar glücklich bist, wenigstens manchmal. So was wollen Eltern eigentlich wissen. Ich meine ...« Ich hole tief Luft und beeile mich, weiterzureden, bevor Nate mich unterbrechen und mir sagen kann, dass ich es bitte sein lassen soll. »Meine Mum hat mich drei Mal gefragt, ob ich mir die Reise hierher zutraue. Die Flüge. Ich glaube, dass sie in erster Linie Angst hatte, ich komme nicht zurück, weil die Hinflüge traumatisch werden. Ich hätte ihr nicht von Dublin erzählen sollen und davon, dass ich für den Rückflug ein leichtes Beruhigungsmittel brauchte. Aber ich hab ihr gesagt, dass dir das wichtig ist, dass ich mitkomme, und dass es deshalb eben auch mir wichtig ist. Und ich glaube, sie musste das auch hören, weil ... Ach, keine Ahnung. Ich finde, sie sollten wissen wollen, wie es dir geht.«
Nate sagt zuerst nichts, sieht nur kurz in meine Richtung und biegt dann auf irgendeine Bundesstraße ab.
»Ich bin fertig«, schiebe ich also noch nach und lasse mich wieder in meinen Sitz zurückfallen. »Ich musste mich nur kurz darüber aufregen, dass du deiner Familie so eine Entscheidung mitteilst, und fünf Minuten später ist das Thema beendet. Das ist ...« Nicht normal. »So kenne ich das nicht.«
»Wir haben alles Wichtige besprochen.« Irritierend ist nicht, was er sagt, sondern dass ich glaube, er meint es ernst. »Die finanzielle Sache mache ich mit Dad unter vier Augen aus. Ich will mindestens die Hälfte der Miete zahlen, wie ich es gesagt habe, und das kriege ich auch irgendwie hin.«
»Genau die Hälfte«, berichtige ich ihn. »Und keinen Penny mehr. Darüber haben wir schon gesprochen.«
Nate schnauft, nickt aber. Vermutlich will er das nicht hören, doch so ein winziger Patriarch steckt eben doch in ihm. »Genau die Hälfte und keinen Penny mehr«, wiederholt er augenrollend, was wir eigentlich schon vor zwei Tagen besprochen haben.
»Geht doch.«
Und dabei bleibt es für eine Weile. Bei Musik aus dem Radio und der gelegentlichen Versicherung, dass ich Kim ihre Schlüssel wiedergegeben oder dass ich an unsere Flugtickets gedacht habe. Einmal hole ich sie sogar extra aus meiner Tasche, um meine Versicherung mit den notwendigen Beweisstücken zu belegen. »Hier, siehst du. Und wir sind gut in der Zeit. Es ist alles perfekt.«
Ein knappes »Gut« ist die Antwort, und am liebsten würde ich ihn schütteln, bis er mir endlich sagt, was ihm durch den Kopf geht. Warum er nicht voller Freude über das Überstandene diese amerikanischen Oldies im Radio mitsingt. Völlig egal, ob er den Text kann oder nicht. Oder »Auld Lang Syne«. Wäre ich sicher, dass es den gewünschten Effekt hat, würde ich den Song einfach im Internet suchen und ihn auf meinem Handy abspielen, bis wir den Flughafen erreichen, oder bis wir ihn nicht mehr hören können. Aber ich bin nicht sicher, ganz und gar ...
Mein Handy blinkt. Der Ton ist aus, stattdessen kann ich das Leuchten in meiner Tasche sehen, mit dem sich ein Anruf bemerkbar macht. »Deine Schwester«, stelle ich mit einem Blick auf das Display fest, und Nate stellt die klassische Frage, die vermutlich nur ein Mann stellen kann.
»Was will sie?«
Ich zucke mit den Schultern und finde es heraus, indem ich den Anruf entgegennehme. »Hallo?«
»Liz, hallo. Nate ist nicht an sein Handy gegangen. Er fährt ja sicher auch.« Kim redet wahnsinnig schnell, weshalb ich mir keine Mühe machen muss, ihre Vermutung zu bestätigen. »Wir sind gerade zu Hause angekommen und ... ihr seid doch verrückt. Ian flucht die ganze Zeit, aber ich freue mich wirklich und ... Kann Nate mich überhaupt hören?«
»Nein, warte ...« Ich nehme das Handy von meinem Ohr und begutachte etwas hilflos den Bildschirm in der Mittelkonsole. »Scheiße, wie kann ich hier mein Handy koppeln?«
»Das müsste ...« Kurz schaut er zum Bedienfeld, schnauft dann und fährt den Wagen rechts auf die Standspur. »Hast du Bluetooth an? Dann ... gleich.«
»Geht gleich los«, verspreche ich Kim, während ich die nötigen Einstellungen an meinem Handy vornehme und Nate die am Auto. Nach ein paar Sekunden ertönt Kims Stimme über die Lautsprecher. »Hört ihr mich?«
»Klar und deutlich«, sage ich und halte mein Handy einfach weiter in der Hand.
»Ich wollte mich nur bedanken. Auch im Namen von Ian. Der beruhigt sich, sobald ich ihm sage, dass ich das Konfetti nachher wegsauge und er nichts machen muss.«
Ich grinse. »Also hat das mit dem Netz funktioniert?«
»Wir sind von Luftballons und Konfetti erschlagen worden«, lacht Kim. »Also ... Vielen Dank. Ich werde Mom bei Gelegenheit davon erzählen müssen. Ich glaube, sie wird sich freuen zu hören, wie verrückt ihr seid.«
»Liz«, berichtigt Nate und schenkt mir ein Lächeln, während er das richtigstellt. »Liz hat das alles gemacht. Ich will mich nicht mit fremden Lorbeeren schmücken.«
»Feigling«, flüstere ich ihm zu.
»Ach was, du hast sie nicht aufgehalten. Das ist schon viel wert«, sagt Kim, dann höre ich sie tief einatmen, ehe sie etwas leiser weiterspricht. Der Part mit der Euphorie scheint vorüber. »Nate, bist du noch dran?«
»Ich bin hier.«
»Okay. Ich wollte nur ... Keine Ahnung, ob für dich wichtig ist, was ich denke, aber ich bin deine große Schwester. Nach wie vor, oder?« Eine Antwort wartet sie nicht ab. »Also kann ich dir auch weiterhin sagen, was ich von dir halte und was du zu tun hast.«
Nate sagt nichts. Er sieht nur das Display an, das anzeigt, dass dieses Gespräch bisher knapp vier Minuten andauert.
»Er nickt«, lüge ich also, damit Kim weiterspricht.
»Gut, ich ... Nate, du wirst mir fehlen. Trotzdem finde ich gut, was du machst. Ich glaube, es ist das Richtige. Und ich weiß, ich bin frisch verheiratet und voller Hormone, und vermutlich willst du das überhaupt nicht hören. Egal, da musst du durch: Ich bin froh, dass du jemanden hast, der dir nicht die Cookies wegnimmt und sie dann an einen anderen Kerl weiterverschenkt.«
Nate lacht leise und sieht kurz zu mir. »Als ob Liz Kekse teilen würde.«
»Trotzdem muss ich sagen, dass ich dich zu Kleinholz verarbeite, wenn du meinst, dich jetzt völlig von uns abkapseln zu können, nur weil du ein paar Kilometer weiter weg bist. Hast du mich verstanden?« Ich höre, dass sie kurz schlucken muss, ehe sie weiterredet. »Ich will, dass mein Kind einen Onkel hat. Und ich meine nicht eine alte Geschichte, die sich alle hier erzählen. Ich will, dass mein Baby irgendwann damit angibt, dass es einen Onkel in England hat, den es in den Ferien besucht, oder der komisches Essen schickt. Und der ihm zeigt, wie man auf diese riesige Buche in Grandmas Garten hochklettert.« Sie lacht kurz, und auch auf Nates Gesicht zeigt sich ein Grinsen, das mich an ein Echo aus glücklichen Kindertagen erinnert. »Meine Güte, du hast unsere Eltern immer wahnsinnig damit gemacht. Sie dachten, du stürzt jeden Moment ab. Und vermutlich wird es mich auch wahnsinnig machen, mein Kind da oben zu sehen, aber ich will, dass es das von dir lernt, weil du auch weißt, wie man wieder runter kommt, ohne sich was zu brechen.« Was folgt, ist ein weiterer, geräuschvoller Atemzug, ehe sie ihre finale Anweisung formuliert. »Ich beharre noch mal darauf: Ich bin deine große Schwester. Und ich verlange von dir, dass du dich hier regelmäßig blicken lässt. Hast du mich verstanden?«
Er nickt. Diesmal tut er es wirklich. »Verstanden«, sagt er und sieht mich dann fragend an. »Ihr könntet doch auch nach London kommen. Vielleicht im Sommer, solange du noch gut reisen kannst. Um dir anzusehen, wo dein Ableger in zehn Jahren seine Ferien verbringt.«
»Im Sommer hat Nate noch sein WG-Zimmer. Ich könnte also für ein paar Tage einfach zu ihm, und ihr kriegt meine Wohnung«, schlage ich vor. »Seine Mitbewohner wird das freuen, weil das heißt, dass es guten Kaffee gibt. Ich ertrage nämlich das Zeug aus dieser Maschine nicht und ... egal. Euch zeigen wir dann auf jeden Fall London. Alles davon. Die Ecken für die Touristen zuerst und dann noch die richtigen.«
»Das wäre großartig. Ich spreche mit Ian darüber, ja? Vielleicht nehmen Liz und ich die Planung besser in die Hand, das ist ja doch eher Frauensache.«
Ich lache lautlos und schüttle augenrollend den Kopf, ehe ich ihr mit einem »Das machen wir« antworte.
Nate grinst fast schon schadenfroh, als er seine Hand auf meinen Oberschenkel legt und ihn sanft drückt. »Kim, wir müssen jetzt weiter, damit wir pünktlich sind. Aber ich bringe deinem Zwerg zu gegebener Zeit alles bei, was dich in den Wahnsinn treibt. Und wenn ich an meine Grenzen komme, hilft Liz aus.«
»Versprochen?«
»Versprochen.«
Das erleichterte Aufseufzen ist unüberhörbar, als es aus den Lautsprechern klingt. »Meldet euch, wenn ihr heile gelandet seid, ja?«
»Das machen wir«, versichere ich und ahne, dass das auch so eine »Frauensache« sein wird.
»Sehr gut, danke.«
Es ist offensichtlich, dass die beiden keine Übung darin haben, ein Gespräch zu beenden. Vermutlich haben sie gerade den ersten Versuch unternommen, überhaupt eines zu führen. Also springe ich ein, indem ich versuche, einen Abschied einfach zu ersparen, und ihn durch eine Verschiebung zu ersetzen. »Ich schreibe dir dann, wenn wir in Charlotte landen, okay? Dann weißt du, dass die erste Etappe geschafft ist, und vielleicht hast du bis dahin ja schon mit Ian gesprochen und wir können uns ein Datum überlegen, was meinst du?«
»Oh, das wäre wunderbar. Also bis nachher?«
»Bis nachher.«
Damit ist es leichter, aufzulegen. »Bis nachher« wiegt nicht so schwer wie ein »Auf Wiedersehen« und ist vor allem viel leichter als jedes »Lebwohl«.
Ich drücke auf den roten Hörer auf meinem Display und schrecke auf, als mein Handy direkt wieder auf meine Musik-App springt. Ich höre die Lyrics des Songs, den ich vorhin in Kims Haus unterbrochen habe. Worte, von denen ich auf keinen Fall will, dass sie Nate ausgerechnet jetzt ins Gesicht schlagen. Hastig schalte ich den Song weiter.
Er scheint nichts davon bemerkt zu haben. Seine Hände liegen auf dem Lenkrad und halten sich daran fest, während sein Blick auf etwas liegt, das sich irgendwo hinter dem Seitenfenster befindet.
Jetzt ist alles Wichtige gesagt, denke ich. Alles, was vorhin gefehlt hat. Manchmal ist es eben leichter, das Wesentliche erst dann auszusprechen, wenn der Abschied längst vorüber ist.
»Hey«, sage ich vorsichtig und lege meine Hand auf Nates. Ich warte, bis er seine dreht, und die Finger mit meinen verschränkt. Das genügt mir, um weiterzureden. »Im Juli habe ich eine Woche Urlaub. Bisher war noch nichts geplant. Ich bin nur nicht sicher, welche es war. Wenn ich wieder bei der Arbeit bin, würde ich direkt nachsehen. Oder ich frage meine Kollegen, ob sie kurz einen Blick auf die Liste werfen. Falls es eilt.«
Sein Blick lässt los, woran auch immer er sich festgehalten hat, und findet stattdessen mich. Das Schmunzeln erkenne ich schon in Nates Augen, ehe es seine Lippen erreicht. »Ich hoffe, du weißt, worauf du dich einlässt. Kim wird wollen, dass du dein Versprechen wahr machst und ihr alles zeigst. Und ich meine alles.«
Ich lache und beuge mich zu ihm. Ich sehe, dass sein Blick kurz zu meinen Lippen huscht, ehe er sich wieder meinen Augen widmet. Mein zartes Grinsen kann ich mir also unmöglich verkneifen. »Und ich hoffe, du weißt, dass ich bei Amber im Zimmer schlafen werde, solltest du auch nur andeutungsweise den Versuch machen, mich mit der Planung allein zu lassen. Von der Durchführung ganz zu schweigen. Frauensache. Was für ein Schwachsinn ist das denn?«
Und da ist es, Nates Lachen. Ihm folgt das Gefühl einer großen, warmen Hand, die sich an meine Wange legt. Ein Daumen, der sanft über meine Unterlippe streicht, ehe Nates Kuss seinen Platz dort findet. »Danke«, murmelt er, als er sich wieder von mir löst.
»Unsinn.« Ich winke ab. »Dafür hat man doch eine Option, oder? Für Frauengespräche mit der Schwester ...«
Mit einem etwas gequälten Blick lässt sich Nate wieder auf seinen Sitz zurücksinken. Meine Hand hält er dabei noch immer fest. »Das ist eigentlich nicht das, was ich meinte«, sagt er. Etwas deutlicher ist die Kopfbewegung, mit der er in die Richtung deutet, aus der wir gekommen sind. Wobei ich glaube, dass er weniger einen Ort meint, sondern vielmehr eine Zeit, die wir endlich hinter uns gebracht haben.
»Mh«, mache ich, drücke seine Hand und überlege, wie ich ihm sagen kann, dass wir ja wohl weit mehr hinter uns haben als ein paar Tage, in denen er sich wie ein Idiot aufgeführt hat. Und dass es okay ist. Alles davon. »Wenn du mich fragst, ist das auch etwas, wofür eine Option da ist. Zum Zusammenflicken und für Pancakes. Und wer schleppt dich sonst die Rolltreppe hoch, wenn du ohnmächtig geworden bist? Irgendein Passant? Sicher nicht.«
Nate lacht. »Das wäre dann vermutlich auch Kidnapping und keine Hilfestellung.« Und doch liegt in seinem Blick ein Ausdruck, als hätte ich ihn nicht nur die Rolltreppe nach oben getragen, sondern direkt bis nach Hause.
Noch einmal legen sich seine Lippen auf meine, diesmal ein wenig länger als eben noch. Dann startet er den Motor und lenkt den Wagen auf die Seite der Straße, die allmählich beginnt, mir etwas weniger Angst zu machen.
I imagine you’re still there.
You’re still there.
At this place behind shut doors
Where no one left for good.
You’re still there.
Singing, laughing, dancing.
Dancing in your blue shoes.
Treehouse Promises »In Your Shoes«