»Herr Gott, Druwe!«, rief der ältere Kommissar. »Hier geht es zu wie bei den Hottentotten. Jagen Sie jeden raus, der am Tatort nichts zu suchen hat!« Paul Konter hielt sich die Hand vor die Nase. Der Pestilenzhauch hier unten in der Kanalisation war infernalisch, unerträglich, und der Rest von Rasierwasser, der noch von der Morgentoilette an ihm haftete, machte es nicht viel besser. Normalerweise hätte er diese Drecksarbeit vollständig einem Untergebenen zugewiesen und sich einen Bericht geben lassen. Aber erstens handelte es sich bei dem Fall wahrscheinlich um ein Tötungsdelikt. Es wäre peinlich, wenn er bei einer späteren Befragung durch Gennat eingestehen musste, dass er nicht vor Ort gewesen war. Zweitens war Konters neuer Mitarbeiter ein wenig übereifrig und musste gebremst werden. Intelligent zwar, jedoch schien er sich mit seiner Penibilität oft selbst im Weg zu stehen. Und gerade die eifrigen Anfänger übersahen in ihrem Bestreben, nichts zu übersehen, besonders viel.
Der junge Kriminalassistent Jens Druwe, der gerade aus Hamburg nach Berlin versetzt worden war, stand fluchend am Rand des unterirdischen Rückhaltebeckens und rieb den Rand seines Mantels mit einem Taschentuch ab. Tatsächlich ähnelte das Hin und Her eher einem Taubenschlag als einem Tatort. Jeder beteiligte Schupo war neugierig und angewidert in die Katakomben hinabgestiegen, um den außergewöhnlichen Fundort der Leiche in Augenschein zu nehmen. So etwas sah man auch in Berlin nicht alle Tage. Schaurig war im Kintopp gerade in Mode. Da schien es passend, wenn man eine wahre Geschichte beim nächsten Kneipenbesuch zu erzählen hatte. Verschiedene Theorien machten die Runde, von Selbstmord bis zu Graf Orlok. Und alle Anwesenden überboten sich in Kraftausdrücken hinsichtlich der Sinneseindrücke, die die Szene auslöste. Druwe begann, die Anordnung seines Chefs umzusetzen, und verscheuchte die schaulustigen Kollegen aus dem hallenartigen Rückhalte- und Staubecken, in dem die Leiche gefunden worden war. Sogar drei Arbeitslose und einige Reporter waren sich nicht zu fein gewesen, diesen verkoteten Hades aufzusuchen.
»Jetzt ist es zu spät, Mann!« Sein Chef Paul Konter war erbost und wies auf die vielen Fußspuren, Zigarettenkippen, das Bonbonpapier und die fallengelassene Zeitung. »Wenn der Dicke davon erfährt, dann gehen wir vier Wochen auf Streife. Abgestellt zur Bahnpolizei!«
Der Dicke. Der wohlgenährte Leiter der Mordbereitschaft, Ernst Gennat. Druwe nickte unsicher. Er nahm sein Notizbuch aus der Tasche und las die Anordnungen, die neuerdings für eine ordentliche Tatortarbeit galten. Daneben schrieb er mit einem Bleistiftstummel seine eigenen Notizen.
»Ja, nun liegt Tante Luise schon im Brunnen. Lesen sollten sie vorher, Druwe.« Konter betrachtete die Spuren am Boden. Hier mussten Dutzende Leute durchmarschiert sein. Jemand hatte eine Zeitung verloren, und das Bonbonpapier lag sogar neben einer angebissenen Stulle. Zwei Haufen Erbrochenes – offenbar hatte der eifrige Esser alles wieder von sich gegeben – unterlegten den unerträglichen Gestank mit einer sauren Note. Der erfahrene Kripobeamte schloss die Augen und versuchte, sich auf die nicht fassbaren Eindrücke zu konzentrieren.
»Trauen Sie sich, Ihre Gefühle wahrzunehmen«, hatte der Leiter der Mordinspektion zu ihm gesagt. »Dann können Sie sie später sauber von den Fakten trennen.«
An Orten wie diesen brachte Intuition tatsächlich oft einen entscheidenden Hinweis. In Räumen war manchmal noch die Todesangst des Opfers spürbar. Oder die Brutalität und Wut des Täters. Der Duft nach Seife, Rasierwasser oder Parfum konnte die Aufmerksamkeit auf übersehene Kleinigkeiten lenken. Überhaupt predigte Gennat immer wieder, auf die scheinbar unwichtigen Dinge zu achten. Aber hier war beim besten Willen nichts zu holen. Die Kumulation der Produkte großstädtischer Notdurft ließ keinen Raum für jene feinen Wahrnehmungen, nach denen Konter in sich suchte.
»Zeugen?«, fragte er seinen neuen Assistenten.
»Irgendein Bengel hat unserem Pförtner am Alex einen Zettel hingeworfen.« Jens Druwe schüttelte den Kopf. »Der Junge ist sofort stiften gegangen.«
»Was schließen Sie daraus?«
»Ich denke, jemand hat hier übernachtet.« Der jüngere Beamte wies auf eine Ecke. Dort war ein Haufen halb verbrannter Geldscheine zu erkennen. »Ein kleines Feuer. Daneben zwei ausgepolsterte Schlafstellen. Obdachlose. Ich denke, die Kerle wollten unseren Fragen aus dem Weg gehen. Dem Jungen haben sie einen Sechser und den Zettel in die Hand gedrückt. Und auf dem Präsidium ist so viel los, dass ein solcher Botenjunge nicht auffällt. Rein, raus, weg.«
»Weiter.«
»Zufallsfund. Die Männer waren nicht die Täter. Sie haben hier unten Schutz gesucht. Sie entdeckten einen Leichnam, der schon ein paar Tage hier liegt. Vielleicht haben sie ihm die Sachen weggenommen. Oder das Geld. Aber es waren sicherlich nicht die Mörder.«
»Schon mal versucht, einem Toten oder Bewusstlosen die Hose auszuziehen?«, fragte Konter. Als Druwe ihn verblüfft ansah, fuhr er fort: »Gar nicht so einfach. Fast immer schiebt sich dabei die Unterhose mit runter. Außer man berührt den Körper. Oder die Männer haben sie aus Pietät wieder nach oben gezogen. Beides halte ich bei diesem Verwesungszustand für unwahrscheinlich.«
»Könnte immer noch ein normaler Raubmord oben gewesen sein.« Druwe deutete mit dem Bleistift an die Decke. »Danach hat der Mörder die Leiche hier entsorgt.«
»Schauen Sie sich den Leichnam an. Entweder haben ihn vier kräftige Kerle ganz vorsichtig hierher getragen. Denn es finden sich keinerlei Fäkalien an ihm. Der Körper weist auch keine Schürfungen oder ähnliches auf.«
»Oder er wurde hierhergebracht, als er noch lebte«, fuhr Druwe fort. »Er musste sich entkleiden und wurde erst dann getötet.«
»Hinweise auf die Todesursache?«
»Keine Schusswunde, kein Schlag auf Kopf oder Hals«, erwiderte Druwe. »Vielleicht erstickt?« Er zeigte auf das Gesicht des Toten. Aus dem Mund ragten jede Menge Banknoten. Offenbar hatten die Täter das Geld zerknüllt und ihrem Opfer danach in den Mund gestopft. »Könnte auch nach Eintritt des Todes erfolgt sein.«
Die Haut des Toten wirkte durch die Verwesung bereits schwammig aufgedunsen. Auf der rechten Gesichtshälfte hatten sich Druckstellen gebildet, da der Leichnam auf der Seite gelegen hatte. Die linke Hälfte wies Bissspuren auf. Ratten hatten Fleischstücke aus der Wangenpartie und Nase gebissen. In den Wunden waren bereits Fadenwürmer und kleine Maden zu erkennen.
»Das Geld spielt eine Rolle«, murmelte Konter. »Vielleicht als Symbol. Wozu sonst diese Mühe?« Er zeigte auf den Papierhaufen. »Mindestens zwei Handkarren voll. Das Opfer darin eingebettet. Und zwei Handvoll Scheine ins Maul gestopft.«
»Wertlos«, meinte Druwe plötzlich. Sein Vorgesetzter sah ihn fragend an. »Ich meine, hier liegt nur Papiermark aus der Inflationszeit. Vielleicht handelt es sich ja um eine Art Botschaft. Der Tote war ebenso wertlos wie das Geld. Etwas in der Art.« Er blickte Konter an, als erwartete er jeden Moment eine weitere Zurechtweisung. »Nur so ein Gedanke, Herr Kommissar.«
»Gut, Druwe«, sagte der ältere Polizist stattdessen. »Gut! Lassen Sie ein paar Fotografien machen. Fertigen Sie eine Skizze des Tatorts an. Vergessen Sie dieses Mal nicht, die Abstände zu messen! Sie wissen, dass der Dicke Sie sonst wieder faltet.«
»Und der Leichnam? Da könnten wichtige Spuren zu finden sein. Wenn der Bestatter erst einmal dran war, können wir das vergessen.«
»Sie laufen heute zu Höchstform auf, junger Kollege. Sehr gute Idee. Rufen Sie in der Charité an. Verlangen Sie einen Dr. Schmid aus der Chirurgie. Der Kerl ist ganz versessen darauf, für uns Leichen aufzuschneiden. Bisschen gruselig, was er so treibt. Aber er scheint mir ein recht fähiger Arzt zu sein. Unsere Polizeiärzte und Leicheninspektoren taugen nichts. Und Schmid kann Ihnen sagen, in welchen Keller Sie den Toten dann zur Untersuchung bringen lassen.«
»Schmid? Berthold Schmid?« Druwe stand da, als hätte Konter ihm gerade einen Heiratsantrag gemacht.
»Was ist? Kennen Sie ihn?«
»Er ist mein Schwager.« Druwe wusste zwar, dass Schmid in der berühmten Klinik arbeitete. Aber die beiden Männer hatten sich nach dem frühen Tod von Druwes Schwester aus den Augen verloren. Dass sein Schwager nebenbei für die Kriminalpolizei Leichen untersuchte, war ihm völlig neu.
»Na bestens!«, erwiderte Konter. »Die ganze Familie beisammen. Dann ist Berlin ja bald sicher.« Er lachte. »Wenn er Ihr Schwager ist, machen Sie ihm ein bisschen Dampf. Und in Zukunft fahren Sie zu ihm und hören sich seine Berichte an. Dem Kerl macht es jedes Mal Spaß, mir den Appetit auf mein Mittagessen zu verderben.«
Der Kriminalassistent nickte fast ein wenig zu beflissen. Konter mochte keine Streber. Druwe schien wissbegierig, eifrig und korrekt zu sein. Vielleicht etwas neunmalklug. Besonders ärgerte seinen Vorgesetzten, dass er dabei auch noch gewieft und begabt war. Sein voriger Assistent war ein freundlicher, fähiger Kollege gewesen. Jens Druwe war hingegen eine Art Spürhund, der alles vergaß, wenn er Witterung aufgenommen hatte. Noch war er ein Welpe, aber bald konnte er zu einem hervorragenden Kripomann werden. Konter, der selbst spät zur Kriminalpolizei gekommen war, gestand sich ein, dass er den jungen Kollegen beneidete. Um die vielen Jahre, die er noch vor sich hatte.
»Geben Sie ihm eine Chance, Paul«, hatte Gennat vor einigen Tagen lächelnd gesagt. »Er ist wie Sie. Nur ist er beinahe dreißig Jahre jünger. Und das, mein Lieber, nagt an Ihnen.«
Paul Konter bewunderte seinen Vorgesetzten für dessen Menschenkenntnis. Er hatte auch in diesem Fall recht. Und dennoch – Konter wollte es dem jungen Mann nicht zu leicht machen.
Während sein Chef den Rückzug antrat, stellte sich Druwe auf weitere Stunden hier unten ein. Seine Nachlässigkeit bei der Tatortsicherung ärgerte ihn. Er war derart fasziniert von der Fundstelle gewesen, dass er zunächst alle Regeln außer Acht gelassen hatte. Nun jedoch war er fest entschlossen, es wiedergutzumachen. Alles sollte stimmen, wenn ihn dieses Mal der dicke Gennat ausquetschte. Er zeichnete, notierte, maß Abstände, gab dem eingetroffenen Fotografen Order.
Seltsame Sache, dachte er und sicherte die Geldscheine, die er aus dem Mund des Opfers gezogen hatte, in einer Papiertüte. Wer starb schon mit einer Billion Mark im Hals? Daran konnte man in der Tat ersticken.