»Wir kommen so nicht weiter.« Paul Konter umarmte Toni ungewöhnlich lange. Es tat gut, die Wärme eines Menschen zu spüren. »Zu viele Gefühle, zu wenig Verstand und Wissen. Ich war noch kurz auf dem Präsidium. Mutter und Tochter wurden aus dem Krankenhaus entlassen. Baldur Rosenbaum laboriert noch an seiner Herzschwäche. Er bleibt wohl ein paar Tage zur Beobachtung dort. Mein Assistent hat mich bei seiner Frau angekündigt. Ich gehe noch heute hin.«
Konter war entschlossen, einen längeren Spaziergang zu machen, um den Kopf frei zu bekommen. Und Tonis Haus in Charlottenburg lag nicht allzu weit von der Villengegend Schmargendorf entfernt.
»Meinst du nicht, dass eine Frau dieses Gespräch führen sollte?«, fragte Toni. »Ich meine, eine Mutter hat ihren Sohn verloren. Jetzt willst du zu ihr und der Tochter, um sie zu vernehmen. So etwas erfordert Fingerspitzengefühl.«
»Eine Befragung, nichts weiter.«
»Ja, in der typischen Art und Weise. Ich erinnere mich noch gut daran, wie verständnisvoll deine Kollegen waren, als mein Bruder im Gefängnis saß und ich bei euch aufgetaucht bin. Ihr Männer seid in manchen Dingen einfühlsam wie Zaunpfähle.«
Konter kannte das Thema und schwieg lieber.
»Ihr solltet wirklich überlegen, ob bestimmte Themen nicht durch Polizistinnen besser geregelt werden könnten.« Sie sah ihn eindringlich an. »Mit ein wenig mehr Einfühlungsvermögen und Verständnis käme man in einem solchen Fall sicherlich weiter.«
Tatsächlich gab es im Preußischen Landtag eine Initiative, eine weibliche Kriminalpolizei in Berlin aufzubauen. Konter war nicht dagegen, denn allzu oft hatte er schon erlebt, wie herablassend seine Kollegen etwa mit straffällig gewordenen Frauen, Minderjährigen oder Prostituierten umgingen. Sie sprachen immer noch abfällig von »den Weibern«, wenn es um Ehefrauen ging. Und jede nicht verheiratete Verdächtige war für sie sofort eine »Nolle« oder »Horizontale«, also eine Prostituierte.
»Vielleicht hast du recht«, erwiderte er. Einerseits fühlte er sich gegenüber weiblichen Zeugen manchmal hilflos. Fast schien es, als spräche er mitunter gar nicht ihre Sprache. Anderseits hatte ihn auch manche Frau schon um den Finger gewickelt und mit ihrem Charme über den berühmten Löffel balbiert.
»Ich komme mit«, entschied Toni kurzerhand und in einer Weise, die keinen Widerspruch zuließ. »Wir gehen in letzter Zeit so selten aus, dass ich schon mit einer Zeugenbefragung zufrieden bin.«
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Als sie nach einer Stunde in der Nähe des Elster-Platzes ankamen, war Toni beeindruckt vom Anwesen der Familie Rosenbaum. Nichts wirkte protzig und aufdringlich, sondern erlesener Geschmack fand hier durch zurückhaltenden Auftritt seine Vollendung. Die kurze Zufahrt war mit Katzenköpfen gepflastert, die ungewöhnlich hell waren und eine angenehme Abwechslung zu den sonst üblichen Wegen aus weißem Kiesel darstellten. Der Garten beschied sich mit Pflanzen aus der Region und verzichtete auf das Gehabe mit Lorbeersträuchern, Zitrusbäumen und Palmen. Das Haus selbst war von außen modern und schien aus zwei Bungalows zu bestehen, die der Architekt verschachtelt übereinander gestapelt hatte. Große, oft bodentiefe Fensterflächen dominierten den Bau. Selbst Konter musste zugeben, dass der Bankier eine angenehme Art gewählt hatte, zu zeigen, wer er war. Viele Details des Gebäudes und der Einrichtung waren ihm am frühen Morgen nach der Tat, als er die ersten Ermittlungen geleitet hatte, schlicht entgangen. Fast kamen sich er und seine Begleiterin nun ohne Automobil etwas schäbig vor, als sie zum breiten Portal gingen und läuteten.
»Frau Direktor Rosenbaum erwartet Sie bereits im Salon.« Eine zierliche Hausangestellte begleitete Toni und Paul in den seitlich rechts gelegenen Flügel, den der Polizist noch nicht kannte. Das Innere des Hauses entsprach in seiner Schlichtheit dem Äußeren. Die Eleganz feiner, französischer Möbel entging Antonia nicht und nahm sie sofort für sich ein. Die Angestellte kündigte den Kommissar an, bemerkte dann jedoch, dass sie dessen Begleitung nicht nach dem Namen gefragt hatte. Selbstbewusst wie immer stellte sich Toni daraufhin selbst vor.
Esther Rosenbaum war ihrem Bruder Josef wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie musste jedoch etwa zehn Jahre jünger sein, schätzte Konter. Eine Frau, deren Schönheit durch reizvolle Unvollkommenheit – ihre Züge wirkten ein wenig zu grob und die Nase zu mächtig – erst richtig zur Geltung kam. Er mochte das, gab sich jedoch wohl einen Moment zu lange der stillen Bewunderung hin. Prompt spürte er Tonis spitzen Ellbogen in der Flanke, der ihn aus seiner kleinen Träumerei riss. Er räusperte sich verlegen, suchte nach den ersten passenden Worten.
»Zunächst möchten wir Ihnen unser tief empfundenes Beileid aussprechen, Frau Rosenbaum«, kam ihm Toni zuvor. »Ich bin selbst Mutter und hätte vor zwei Jahren beinahe mein Kind verloren. Sicher kann ich die Tiefe Ihrer Trauer nicht ermessen, aber ich verstehe sie.«
Antonia Sass trat näher an die Dame des Hauses heran und nahm deren Hand. Ein inniger Moment des Schweigens folgte. Konter gestand sich ein, dass er das Gespräch vermutlich anders begonnen hätte. Und wieder einmal war er beeindruckt von seiner Lebensgefährtin. Toni konnte rau und knallhart sein, aber auch einfühlsam und zärtlich. Immer wohldosiert und im passenden Moment. Daran musste er bei sich selbst noch arbeiten, gestand er sich ein.
»Wir Frauen haben auf unserem Klavier einfach mehr Tasten als Männer«, hatte Toni vor einiger Zeit gesagt. »Mehr Töne ergeben natürlich harmonischere Klänge. Und deshalb können wir eben auch kompliziertere Melodien spielen.«
»Ich danke Ihnen, Frau Sass.« Esther Rosenbaum nickte Paul zu, der erleichtert war. Der Panzer, den Verlust und Trauer oft bei den Angehörigen hinterließen, schien durchbrochen. »Wie kann ich Ihnen helfen, die Hintergründe dieser Untat aufzuklären?«
»Gab es Drohungen gegenüber Ihrer Familie? Oder hatte Ihr Mann Feinde?«, fragte Konter.
»Wir leben eher zurückgezogen«, erwiderte die Frau. »Sie werden uns auf den meisten Bällen, Empfängen und Festen vergeblich suchen. Und meines Wissens hat es nie Drohungen gegeben. Baldur hätte es mir gewiss gesagt. Nicht einmal die üblichen Schmierereien oder Schmähungen, die viele Bürger mit jüdischen Wurzeln erdulden müssen.«
Natürlich wusste Konter von den typischen Anfeindungen, denen insbesondere vermögende, jüdische Bürger ausgesetzt waren. Häuser wurden nachts mit dem Davidstern bemalt oder Hetzparolen und Todesdrohungen an die Wände gepinselt. Der Name Rosenbaum und das florierende Bankgeschäft passten nur allzu gut zu den antisemitischen Vorurteilen mancher Deutscher.
»Mein Mann und ich unterstützen Kriegsversehrte und deren Familien. Er fordert von der Stadt seit Jahren mehr Geld für die Jugendfürsorge. Sogar für die Renovierung unserer Kirche haben wir großzügig Mittel bereitgestellt.« Sie zeigte den Hauch eines Lächelns. »Wohlgemerkt, es ist das Gotteshaus der hiesigen, evangelischen Gemeinde.«
»Hat er Ihnen gegenüber vielleicht ungewöhnliche Geschäfte erwähnt? Kredite, die nicht gewährt wurden? Ärger mit Partnern? Säumige Gläubiger? Irgendetwas, das uns auf eine Spur bringen könnte?«
»Wie kommen Sie überhaupt darauf, dass der Anschlag meinem Mann galt? Oder im Zusammenhang mit dem Bankhaus steht?« Esther Rosenbaum gab sich alle Mühe, bei den nächsten Worten gefasst zu wirken, und dennoch zitterte ihre Stimme. »Schließlich wurde ja mein Sohn erschossen.«
Konter deutete knapp die Ungereimtheiten an, die sich für die Polizei aus dem Ablauf der Tat ergaben. Sie nickte und blickte aus dem Fenster. Toni griff nach seinem Arm und hielt ihn zurück, als er Aarons Mutter bedrängen wollte.
»Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Esther Rosenbaum nach einer Weile. »Aber Sie sollten mit meiner Tochter sprechen. Ich habe mich nicht in die beruflichen Belange meines Mannes eingemischt, kann Ihnen also nicht weiterhelfen.«
»Die Beziehung zwischen Vater und Sohn war nicht die beste?«, fragte Konter.
»Ach, wissen Sie, es wird viel getratscht. Aaron wollte seinen eigenen Weg gehen. Und Baldur hatte Probleme, dies zu akzeptieren. Ist das nicht ein klassisches Thema seit der Antike? Mein Mann hat unseren Sohn geliebt. Auf väterliche Weise. Ja, beide sind stur. Es gab einigen Ärger. Und nein, mein Mann war dabei, sich mit den Gegebenheiten abzufinden. Schließlich stehen wir am Anfang einer neuen Zeit. Männer wie Baldur möchten nur, dass ein Hauch ihrer alten Autorität und des Respekts erhalten bleiben. Er möchte, dass man ihn fragt, wenn es um wichtige Dinge geht. Und sei es auch nur, um den Anschein zu wahren. Man tut gut daran, alten Männern diese Illusion zu lassen. Sonst kommt Unfrieden ins Haus.«
»Verzeihen Sie, Frau Rosenbaum«, mischte sich Toni ein. »Herr Konter wollte nichts unterstellen. Nur kann bei der Polizeiarbeit jeder noch so kleine Hinweis wichtig sein.«
Paul Konter sah die beiden Frauen ratlos an und fragte sich, was er vorher anderes gesagt hatte. Aber offenbar kam es auch darauf an, wie man es sagte, denn die unterschwellige Spannung im Raum ließ nach Tonis Erläuterung spürbar nach.
»Kommen wir zu Ihrem Sohn, Frau Rosenbaum«, meinte er. »Er wollte sein Studium hier abbrechen und nach Weimar gehen. Und offenbar hatte er eine Frau kennengelernt, die nicht ganz den …« Er suchte nach Worten. »Die offenbar nicht den Vorstellungen der Familie entsprach.«
Aarons Mutter stöhnte und wirkte ungehalten. »Sie sollten an Ihren Vorstellungen über das deutsche Judentum arbeiten, Herr Kommissar. Wir tun das, was Juden seit zweitausend Jahren tun. Wir passen uns an. Manche nennen es liberal, und Strenggläubige verurteilen uns sogar dafür. Aber es ist die Voraussetzung dafür, dass wir überleben, ohne auf Tradition und Glaube vollkommen zu verzichten. Mein Mann und ich haben Aaron keine großen Steine in den Weg gelegt. Und dennoch tragen wir als Eltern auch Verantwortung. Dass sich junge Menschen daran stören, ist normal und gesund. Und wegen der jungen Liebe, die da offenbar in meinem Sohn entbrannt war, hätten wir ganz sicher nicht ein Zerwürfnis unserer Familie in Kauf genommen. Wir sind Deutsche, auch wenn manche dummen Menschen in diesem Land zunehmend daran zu zweifeln scheinen. Lassen Sie nicht ein billiges Klischee zur Maxime Ihres Handelns und Denkens werden.«
Während Konter noch überlegte, ob er auf die verbale Spitze antworten sollte, trat eine junge Frau ins Zimmer.
»Livana! Schön, dass du kommst«, rief Esther Rosenbaum und stellte den beiden Gäste ihre Tochter vor. »Der Herr Kommissar vermutet, dass die Tat eher mit Vaters Geschäften als mit Aaron selbst zu tun hat. Wie furchtbar! Das hieße, er wäre für die Mörder nur eine Art Bauernopfer gewesen. Ein unerträglicher Gedanke.«
Sie wandte sich an Toni. »Ich muss mich ausruhen. Aarons Tod ist schon schlimm genug. Aber ich hätte nicht gedacht, dass die Fragen mich derart belasten. Begleiten Sie mich doch auf eine Tasse Tee in die Küche, meine Liebe. Barbara wird sie holen, wenn Ihr Verlobter gehen möchte.«
Toni und Paul sahen sich wissend an und mussten ein Lächeln unterdrücken. Verliebt und liiert waren sie, aber sicher nicht verlobt. Alte Sitten, neue Zeiten. Er nickte, und die zwei Frauen verließen den Salon.
»Ich muss gestehen, dass ich so etwas bereits selbst vermutet hatte«, meinte Livana, als sie mit dem Kripobeamten allein war. »Es war sicher ein sorgfältig geplanter Überfall. Meine gesamte Familie wurde mit Waffen bedroht, und die Täter haben auf uns alle geschossen. Aber nur Aaron wurde getötet.«
Konter sagte nichts und musterte die junge Frau. Livana Rosenbaum war von anderem Kaliber als ihre Mutter, im Erscheinungsbild und offenbar auch charakterlich. Direkter, aber auch berechnender. Er kannte die Tricks, die bei Vernehmungen eingesetzt wurden: Brocken hinwerfen; etwas in den Raum stellen und dann auf das natürliche Bedürfnis des Menschen vertrauen, sich mitzuteilen. Offenbar unterschied sich die Gesprächstaktik in geschäftlichen Dingen gar nicht so sehr von einer guten Polizeiarbeit. Nach einer Minute des Schweigens beendete Konter das Kräftemessen.
»Warum halten Sie es für wahrscheinlich, dass man es nur auf Ihren Bruder abgesehen hatte?«, fragte er. »Lag er mit irgendwem im Streit? Schulden? Rauschgift? Wurde er erpresst?«
»Mein Bruder hatte nur einen echten Widersacher«, erwiderte die junge Frau und verzog das Gesicht. Konter meinte, darin sogar so etwas wie Verachtung zu erkennen. »Aaron Rosenbaum. Er stand sich oft selbst im Weg, konnte keine Entscheidungen treffen. Und er litt an dieser klebrigen Herzschmerz-Melancholie, die Menschen oft dazu veranlasst, zu glauben, sie wären zu Künstlern berufen.«
»Ihre Mutter meinte, Sie könnten mir etwas mehr über das Bankhaus und die Beziehungen zu den Kunden erzählen? Vor allem interessiert mich natürlich, ob es Schwierigkeiten gab oder Streitigkeiten, die eine solche Tat rechtfertigen würden.«
»Was ich Ihnen jetzt erzähle, muss unter uns bleiben, Herr Kommissar. Meine Mutter darf nichts davon erfahren. Es würde sie zerstören.«
»Wenn es für eine mögliche Verhandlung relevant werden sollte, dann kann ich nichts versprechen«, erwiderte Konter. Er hielt nichts davon, falsche Zusagen zu geben, die er später nicht einhalten konnte. »Aber für die Ermittlungen kann ich Ihnen mein Stillschweigen zusichern.«
»Sie erinnern sich, dass mein Bruder bereits Anfang des Jahres verschwunden ist?«
»Natürlich. Fünf Wochen, aber alles stellte sich als dummer Streich und leichtsinnige Retourkutsche gegenüber Ihrem Vater heraus. Er wollte ihm eins auswischen.«
»Ja und nein.«
»Wie meinen Sie das, Fräulein Rosenbaum?«
»Ja, er ist aus freien Stücken verschwunden, wollte einige Zeit seine Ruhe haben. Und nein, ganz so harmlos war die Sache nicht für unsere Familie.«
»Bitte, spannen Sie mich nicht auf die Folter. Also, was ist damals noch geschehen?«
»Kurz bevor er wieder auftauchte, bekam mein Vater einen Briefumschlag zugestellt, in dem sich zwei Fotografien befanden. Es waren Bilder, die einen Leichnam zeigten. Wir dachten, es sei Aaron. Es sah aus, als wäre er …« Sie stockte. »In seinem Mund steckten Geldscheine.«
Die Leiche in der Kanalisation, dachte Konter entsetzt. Die Ermittlungen waren eingestellt worden, weil nicht einmal die Identität des Toten geklärt werden konnte. Natürlich, jetzt ergab das Ganze einen Sinn. Er versuchte, sich an das entstellte Gesicht zu erinnern, verglich es vor seinem geistigen Auge mit Aarons Zügen. Die Haare waren ähnlich frisiert gewesen, dazu der feine Schnurrbart. Die Nase und Wangenpartie ähnelten sich durchaus.
»Sie haben damals keine Meldung gemacht!«, sagte er irritiert. »Weshalb haben Sie der Polizei diese Angelegenheit vorenthalten? Vielleicht hätte man dann …« Er unterbrach sich und dachte an den Zaunpfahl, den Toni vorhin erwähnt hatte. Nicht jede Vermutung musste auch sofort ausgesprochen werden.
»Mein Vater und die Anwälte waren sich uneins«, erwiderte Livana Rosenbaum. »Unsere Hausjuristen wollten keinen Skandal heraufbeschwören, wollten eine Forderung oder zumindest eine weitere Nachricht abwarten. Und ein wichtiger Geschäftsabschluss stand zu der Zeit gerade bevor.«
Skandal? Geschäftsabschluss? Verdammt, dachte Konter und biss die Zähne aufeinander. Er wollte nichts Falsches sagen, war jedoch stinksauer. Es bestand damals der Verdacht, der eigene Sohn könnte tot sein, und die Herrschaften dachten an einen möglichen Eklat und ihre Moneten!
»Halten Sie uns bitte nicht für herzlos, Herr Konter. Mein Vater hat es nach ein paar Tagen nicht mehr ausgehalten und wollte mit dem Polizeipräsidenten persönlich sprechen. Aber dann war Aaron plötzlich wieder da. Niemand dachte mehr an diese geschmacklose Sache.« Konter bemerkte, dass jetzt ein leichter Glanz in ihren Augen lag. »Wir konnten doch nicht wissen, dass diese Leute zu einer solchen Tat fähig wären.«
»Immerhin waren sie fähig, ein armes Opfer in der Kanalisation an Geldscheinen ersticken zu lassen«, erwiderte Konter trocken. »Nur um Ihnen eine Fotografie zu schicken.«
»Nicht nur eine Fotografie, Herr Konter«, sagte Livana Rosenbaum. »Am selben Tag, als mein Vater sich entschied, die Polizei doch zu informieren, bekam er einen Brief mit weiteren Bildern. Unglaublich, wozu Menschen fähig sind. Ein Mensch wird ermordet, um den Tod eines anderen vorzutäuschen und Nutzen daraus zu ziehen. Ebenso widerlich wie die Tat jetzt.«
»Ein Drohbrief?«, fragte Konter interessiert. »Haben Sie ihn und die Fotografien noch?«
»Er hat sie mir nie gezeigt. Und er sagte, er hätte alles in den Kamin geworfen, nachdem Aaron wieder aufgetaucht war.« Sie hielt inne und nahm sich eine Zigarette.
»Kommen Sie, Fräulein Rosenbaum. Ihr Vater will Sie zu seiner Nachfolgerin aufbauen oder zumindest in führender Position sehen. Da müssen Sie doch etwas über die Geschäfte und mögliche Reibereien wissen!« Konter hatte den Eindruck, dass die Frau ihn taxierte. Sie schien zu prüfen, wie weit sie gehen konnte.
Livana Rosenbaum nickte. »Ich kenne die meisten Kontrakte und Absprachen. Aber ich bin in diesen Dingen zur Diskretion verpflichtet, Herr Kommissar.«
»Es geht um den Mord an Ihrem Bruder!« Konter wurde etwas ungehalten, dachte aber sofort an Toni, die ihm sicher in diesem Moment zu einer gewissen Zurückhaltung geraten hätte. Aber Händchenhalten und das Reichen von Taschentüchern gehörte einfach nicht zu seinem Repertoire.
Dieses abgebrühte Luder spricht von Diskretion gegenüber den Kunden, während ihre Eltern um den Sohn trauern, dachte er wütend. Vielleicht ist es Zeit, etwas deutlicher zu werden.
»Noch einmal, halten Sie mich nicht für herzlos«, meinte Livana, als hätte sie seine Gedanken erraten. »Aber eine falsche Bemerkung zur falschen Zeit kann im Kredit- und Anleihewesen erhebliche Folgen haben.«
»Die da wären?« Konter wurde hellhörig. Wollte ihm die Frau etwas sagen, ohne es direkt auszusprechen?
»Man könnte uns das Vertrauen entziehen, Konkurrenten würden in die Bresche springen, Provisionen entfielen. Unsere Partner büßen an Bonität ein. Ein halbes Prozent höherer Zins kann Großprojekte zum Scheitern bringen. Und vergessen wir die Reporter nicht. Rechte und linke Schmierfinken versuchen gleichermaßen, uns als schachernde Juden zu diffamieren, die an jeder Misere der letzten tausend Jahre schuld sind.«
»Bereits anhand Ihrer kurzen Beschreibung erkenne ich eine Menge Motive für mögliche Täter. Wir haben jetzt nur zwei Möglichkeiten, Fräulein Rosenbaum.« Paul Konter hatte den höflichen Plauderton abgelegt. Diese Frau brauchte etwas Gegenwind, um zu erkennen, dass sie hier nicht mit einem Buchhalter oder Lakaien sprach. »Wir können hier unter vier Augen darüber reden. Dann verspreche ich Ihnen, dass es keine Indiskretion von meiner Seite geben wird. Oder wir gehen den offiziellen Weg. Eine Anfrage beim Reichsanwalt und Richter. Die Vorladung. Anwesenheit meines Vorgesetzten Gennat oder wenigstens meines Assistenten. Polizeiliches Protokoll. Da kann ich nicht versprechen, ob alles unter dem berühmten Teppich bleibt. Also, wie sehen Sie das?«
Sie lächelte. »Und ich könnte nun die Anwälte unserer Bank anrufen, auf die Ungeheuerlichkeit hinweisen, dass Sie so kurz nach dem scheußlichen Verbrechen hier auftauchen. Dass Sie meine Familie aufs Präsidium und ins Rampenlicht zerren wollen. Dass Sie mich und meine Mutter unter Druck gesetzt haben. Dann würde jede der Aussagen für unzulässig erklärt werden. Sie erhielten sogar eine Rüge vom Präsidenten. Und Sie würden wohl erst in einigen Wochen eine schriftliche Stellungnahme zu Ihren Fragen erhalten.«
»Mein Vorgesetzter wäre wenig begeistert, wenn Sie dadurch die Ermittlungen in einer Mordsache behindern würden. Herr Gennat verfügt über sehr gute Beziehungen zu Politik und Verlagen. Es ist nie ratsam, ihn zu verärgern.« Konter hielt kurz inne. »Lassen wir diese Spielchen, Fräulein Rosenbaum. Einverstanden? Ich war schon immer für das offene Visier. Zumal wir beide doch dasselbe Ziel haben.«
»Sie geben mir Ihr Wort, dass nichts nach außen dringt, sofern es nicht zur Aufklärung beiträgt? Und ich verschaffe Ihnen einen Überblick über momentan anstehende Verhandlungen und – sagen wir – heikle, strittige Pläne.«
»Sie haben mein Wort. Und ich bin ganz Ohr.«
˚˚˚
»Ich bin gespannt«, sagte Toni, als sie mit Paul eine Stunde später im Taxi saß. Der Nachmittag ging bereits in den Vorabend über, und beide wollten noch einen späten Kaffee am Kurfürstendamm genießen.
»Ich darf nichts sagen«, erwiderte Konter knapp.
»Na, hör mal, ich bin doch nicht irgendeine neugierige und plappernde Tippse vom Präsidium! Indem du mir ein paar Dinge anvertraust, erweiterst du nur deinen Denkhorizont um die weibliche Sichtweise.« Sie blickte aus dem Fenster, als wäre sie gelangweilt, und senkte die Stimme. »Natürlich würde ich dir dann auch verraten, was mir Esther im Vertrauen erzählt hat. Aber bitte, dann eben nicht.«
»Esther? Sag nicht, du bist mit der Dame per du.«
»Warum nicht? Wir haben über eine Stunde Tee miteinander getrunken«, sagte Toni und tat, als wäre dies bereits Grund genug, intim miteinander zu werden. »Mütterliche Sorge und Schmerz einen die Frauen. Ebenso wie die Verwunderung über männliche Inkompetenz.«
»Was hat sie dir erzählt?«, fragte Konter, den diese Spielchen durchaus reizten. Er fühlte eine Unsicherheit, die sich immer dann einstellte, wenn er mit Frauen auf Augenhöhe sprach. Wenn er sich nicht hinter seine berufliche Position zurückziehen konnte. Wenn er nicht den starken, erfahrenen Mann markieren konnte. Seltsamerweise erregte ihn dies aber auch.
»Du zuerst.«
Immer das letzte Wort und einen Schritt voraus, dachte er beeindruckt und indigniert zugleich.
»Hat nicht nach Bürgerlichem Gesetzbuch in der Fassung von 1871 der Mann das Recht, seine Frau in angemessener Weise zu züchtigen, sofern sie sich unbotmäßig und wider die natürliche Ordnung verhält?« Konter blickte Toni zunächst mit aufgesetzter, gewichtiger Miene an, konnte sich jedoch nicht lange beherrschen und lachte herzhaft auf.
»Erstens sind wir nicht verheiratet«, gab Toni ebenso ernst zurück. »Und zweitens wird heute Nacht zu klären sein, was angemessen ist, mein lieber Herr Verlobter.«
Sie saßen wenig später im Romanischen Café am Auguste-Viktoria-Platz, in dem es gegen Abend meist lauter wurde. Die literarischen Revolutionäre hatten bereits die ersten Gläser Rotwein intus und stritten mit Malern, Bildhauern und Theaterregisseuren darum, wie das Land vom bourgeoisen Geist befreit werden konnte. Viele Schlachten im Geiste waren hier bereits geschlagen worden, jedoch floss dabei eher Tinte statt Blut. Gerade die Erfolglosen, also auch Mittellosen unter ihnen schimpften besonders heftig auf die Knechtschaft des Kapitals, um – als wollten sie umgehend den Beweis führen – gleich darauf den Tischnachbarn anzupumpen.
»Die Tochter hatte ein paar interessante Details«, begann Paul Konter, als sein Kaffee Kognak gebracht wurde. »Das Bankhaus Rosenbaum war in großem Stil an der Währungsreform beteiligt.«
»Aha«, erwiderte Toni gelangweilt. »Schnee von gestern.«
»Von wegen!«. Konter wirkte zufrieden, da er endlich ein Thema hatte, über das er offenbar mehr wusste. »Die neue Mark ist eine gigantische Betrugsmasche!« Er hatte etwas zu laut gesprochen, und ein angetrunkener Gast am Nebentisch begann sofort, zu lamentieren.
»Ick sach ja. Dat allet is een jroßer Plan. Dat Jeld is wie Syphlisis.« Seine Zunge schien über das Wort zu stolpern. »Verjiftet dat Jehirn! Möpse oder Moneten. An nüscht andres kann der Michel mehr denken!« Er sah Konter aus glasigen Augen an. »Haste ne Mark fürn ollen Marxisten, Jenosse?«
Konter winkte der Bedienung zu. Er kannte die Regeln. Gab er dem Mann ein Almosen, dann war der Kerl in zehn Minuten wieder da. Gab er nichts, so würden Toni und er den Suffkopp am Nebentisch für den Rest des Abends ertragen müssen.
»Der Mann bekommt drei Rote auf meine Rechnung«, sagte er zu dem jungen Kellner. »Aber nur, solange er drüben an der Bar sitzt. Sehe ich ihn an einem anderen Tisch, gehen die Gläser auf ihn. Verstanden?«
»Een feener Mensch biste, jawoll.« Der Mann erhob sich. »De Herrjott hat den Wein janz rot jemacht, weil er die Bole …, Bolwesch …, Bloscheschwisten liebt.«
»Also, die neue Rentenmark wurde im Wert abgesichert durch Zwangshypotheken bei den Hausbesitzern«, fuhr Paul Konter fort, als sie wieder Ruhe hatten. »Um die Gebäude und den Grundbesitz zu bewerten, wurde ein Einheitswert geschaffen. Und da wurde bei einigen Leuten wohl mächtig nach unten geschummelt.«
»Damit sie nicht so viel zahlen mussten«, vermutete Toni.
Konter nickte. »Genau. Wer Beziehungen hatte, dessen Besitz wurde niedriger eingestuft. Und Baldur Rosenbaum hat wohl auch jede Menge Hypotheken umgeschrieben, damit die Leute offiziell einen Haufen Schulden hatten.«
»Verstehe, Mauscheleien wie immer«, meinte Toni. »Aber was hat die Sache mit dem Mord zu tun?«
»Es gab auch eine Menge Verlierer. Livana Rosenbaum hat mir ein paar Namen genannt. Einige Herrschaften aus der feinen Gesellschaft Berlins waren äußerst unzufrieden. Da ging es teilweise um mehrere hunderttausend Mark.«
»Klingt nicht glaubhaft, wenn du mich fragst. Ich könnte verstehen, dass man den alten Rosenbaum unter Druck setzt oder es ihm heimzahlen möchte. Aber der Mord an seinem Sohn? Derart perfide geplant und brutal ausgeführt?«
»Ich gebe dir ja recht. Dennoch werde ich dranbleiben und Befragungen veranlassen. Und es ist noch nicht alles, was die junge Rosenbaum zu berichten hatte. Ihr Vater ist seit ein paar Monaten beauftragt, zwei große Anleihen am Markt zu platzieren.«
»Schon wieder eine Geldsache?«
»Was hast du erwartet? Rosenbaums Leben ist seine Bank. Seit Generationen ist das Unternehmen in Familienhand. Jetzt hat er offenbar den Durchbruch nach ganz oben geschafft.« Konter hielt inne. Sein Kaffee war kalt geworden. Und der Kognak hatte einen Geschmack nach Spiritus. »Die Stadt ist pleite. Sie holen sich zweihundert Millionen in Form von Zinspapieren. Und Rosenbaum gehört zum Konsortium.«
»Also sind unzufriedene Kämmerer aus dem Rathaus die Täter?«, fragte Toni in gereiztem Tonfall. »Hör auf! Glaubst du doch wohl selbst nicht.«
»Warte doch ab, Toni! Warum immer so ungeduldig? Für das andere Geschäft ist Rosenbaum nämlich vollkommen allein verantwortlich.« Konter ging nicht weiter auf ihre Bemerkung ein. »Selbst seine Tochter fand das ungewöhnlich. Diese Bank ist bestenfalls mittelgroß und soll siebzig Millionen über Anleihen beschaffen. Eigentlich sind diese Schuhgrößen einer Dresdner oder Deutschen Bank vorbehalten.«
»In Ordnung, jetzt scheint es interessant zu werden. Für wen ist das Geld?«
»Livana Rosenbaum ist erst vor Kurzem von ihrem Vater in die Sache eingeweiht worden und war selbst überrascht. Der Schuldner ist eine Düngemittelfirma. Berliner Stickstoff.«
»Toll. Siebzig Millionen für Dünger, damit die Brandenburger Kartoffeln noch dicker werden?«
»Die Summe allein ist schon seltsam für eine solche Firma. Siemens oder Borsig, da würde ich mich nicht wundern.«
»Die würden aber wohl nicht Rosenbaum allein mit so etwas betrauen?«
»Richtig, aber der Betrag ist nicht das ungewöhnlichste. Wenn ich Livana Rosenbaum richtig verstanden habe, dann gab es Verzögerungen und Nachverhandlungen. Geheimklauseln und Haftungsausschlüsse. Teilhaber, die nicht genannt, aber in den Verträgen berücksichtigt werden wollen. Alles für ein bisschen Chemie und Pferdemist? Irgendetwas stimmt da nicht. Es scheint, als ob ihr Vater aus der Sache heraus wollte.«
»Wie viel Gewinn macht eine Bank, wenn sie siebzig Millionen beschafft?«
»Ein Prozent«, antwortete Konter. »Siebenhunderttausend.«
»Da muss Papa Rosenbaum aber mächtig was quer gelegen haben, wenn er eine solche Summe sausen lassen will.«
»Genau so sehe ich das auch, Toni. Es gab wegen der Vereinbarungen ein Treffen hier in Berlin. Die Stimmung war nach Livanas Angaben äußerst unterkühlt, und sie wurde von ihrem Vater vor die Tür gesetzt, bevor es interessant wurde. Sie weiß nicht viel.«
»Eine Firma bekommt ihr Geld nicht wie vorgesehen. Und beauftragt deshalb ein Gruppe, um den Sohn des Bankiers zu töten? Sehr dünnes Motiv, wenn du mich fragst. Weshalb wenden sie sich nicht einfach an die Dresdner oder Diskonto?«
Konter blickte sie an und legte den Kopf leicht schief. Er freute sich, dass er seiner Gefährtin etwas voraushatte. Und plötzlich schien Toni zu begreifen.
»Weil sie es gar nicht können«, sagte sie leise. »Es geht um Vetternwirtschaft wie bei der Rentenmark. Oder sogar um vollkommen illegale Geschäfte. Baldur Rosenbaum war offenbar anfangs bereit, eine Dienstleistung zu erbringen, die andere Banken ablehnen würden. Dann aber hat er Fracksausen bekommen.«
»Diese Leute brauchten Rosenbaums Erfahrung und Kontakte. Sie waren auf ihn angewiesen. Also traf man sich. Man wurde sich jedoch nicht einig. Und dann wollte jemand der Sache etwas Nachdruck verleihen.« Konter nickte zufrieden. »Motiv, Mittel und Möglichkeiten.«
»Mord«, flüsterte Toni. »Da haben die Kerle aber gleich das schwerste Geschütz aufgefahren.«
»Nicht ganz.« Konter hatte einen Teil von Livana Rosenbaums Enthüllungen bisher für sich behalten. »Sie bekamen vorher eine Warnung, die der alte Baldur wohl nicht ernst genug genommen hat. Du erinnerst dich an Aarons plötzliches Verschwinden vor etwa einem halben Jahr?«
»Natürlich. Er war über einen Monat wie vom Erdboden verschluckt. Der arme Josef hat schon damals gelitten wie ein Hund.« Tonis Augen weiteten sich. »Du meinst, er wurde damals doch entführt?«, fragte sie ungläubig.
»Nein, das nicht.« Er berichtete von dem Leichenfund in der Berliner Kanalisation, von den ekelhaften Fotografien und von der Warnung an den Bankier.
»O Gott, wie furchtbar!«, meinte Toni. »Es gab schon vorher eine Art Erpressungsversuch? Und sie haben die Sache nicht ernst genommen? Jetzt ist der Sohn wirklich tot. Wie soll man mit einem solchen Wissen leben?«
»Livana Rosenbaum erschien mir nicht so, als würde sie für den Rest ihres Lebens in Schuldgefühlen versinken. Das Bankenwesen scheint abzuhärten.« Konter wurde plötzlich still und blickte Toni an.
»Was ist?«, fragte sie.
»Geld verdirbt den Charakter, sagte meine Mutter. Ich möchte nicht, dass wir irgendwann genauso werden.«
»Du weißt nicht einmal, wie viel du überhaupt besitzt, wohnst in einer winzigen Buddeke beim Schlachthof, trägst immer noch Schuhe vom KaDeWe und schielst im Restaurant nach den Preisen.« Sie lachte, dann küsste sie ihn derart lange, dass an den Nebentischen bereits Gejohle einsetzte. »Keine Sorge, du bist der Garant dafür, dass wir bodenständig bleiben.«
Sein Magen knurrte, und er ließ sich kurzerhand vom Kellner die Karte geben. »Ich habe mein Soll erfüllt, meine Liebe«, meinte er. »Jetzt bist du dran.«
»Tja, mein Lieber, während du der kleinen Rosenbaum schöne Augen gemacht hast, bin ich nicht untätig gewesen.« Toni bestellte Lachs auf Weißbrot. Bei Paul Konter wollten gerade Krämpfe in der Gegend seiner Geldbörse einsetzen, als er sich noch rechtzeitig daran erinnerte, dass er tatsächlich mehr Geld besaß, als er in hundert Jahren ausgeben konnte.
»Aaron war offenbar ein Eigenbrötler wie sein Onkel«, fuhr Toni fort. »Hast du gemerkt, dass er viel älter ist als seine anderen Geschwister?«
»Ehrlich gesagt, ist mir das entgangen.« Konter überlegte. Aaron war achtundzwanzig, soweit er sich erinnerte.
»Livana wurde als zweites Kind geboren. Sechs Jahre nach ihrem Bruder.«
»Tatsächlich?«
»Er war ein Muttersöhnchen. Esther dachte lange Zeit, er würde das einzige Kind bleiben. Sie liebte ihn abgöttisch. Und er sie.«
»Aha. Das bringt die Ermittlungen wirklich entscheidend voran, mon amour.«
Sie verpasste ihm zwei Hiebe mit ihrem Fächer. »Einer, weil du ein hölzerner Stenz bist. Der andere ist für dein fürchterliches Französisch. Es heißt mon amour, nicht monga muhr!« Sie betrachtete ihre Zigarettenspitze, schien ihn absichtlich auf die Folter zu spannen. »Solche Feinheiten bemerken nur Mütter an Müttern. Dir wäre es entgangen.«
»Bitte! Es reicht!«
»Sie wusste fast alles von ihm. Aaron hat ihr alles erzählt. Er hat eine deutsche Geliebte. Gudrun Koller. Und Esther wollte ihrem Ehemann mit viel Liebe und Einfühlungsvermögen beibringen, dass die beiden heiraten wollten.«
»List und Heimtücke.«
»Wie bitte?«
»Nicht Liebe und Einfühlungsvermögen«, meinte Konter und grinste unverschämt. »Weibliche List und Heimtücke!« Der Fächer ging über seinem Kopf entzwei.
»Und noch etwas, du S‑t‑e-n‑z. Er hatte einen wirklich guten Freund aus frühen Studienzeiten. Der Mann ist etwas älter als Aaron und arbeitet als Arzt an der Charité. Dr. Hans Heinrich Dollberg. Ihr Sohn hatte Esther erzählt, dass die beiden sich gestritten haben. Und sie sagt, ihr Sohn sei völlig außer sich gewesen. So hatte sie ihn offenbar noch nicht erlebt. Es muss eine Sache gewesen sein, die ihm wirklich naheging.«
»Worüber haben sie gestritten?«
»Sie weiß es nicht. Das ist ja gerade das Seltsame. Sie meint, dass es etwas sehr, sehr Wichtiges sein muss. Eben weil er es ihr nicht gesagt hat.«
Konter stöhnte. Er sollte unter, über und zwischen den Zeilen lesen, wenn es nach Toni ging. Er würde die Frauen nie verstehen. Das Essen kam und erlöste ihn. Er schwieg, um weitere Blessuren zu vermeiden.
Gudrun Koller. Hans Heinrich Dollberg. Es gibt viel zu tun, dachte er zufrieden und wandte sich den Bratkartoffeln zu.