»Weshalb verhaften wir sie nicht einfach?«, fragte Jens Druwe seinen Vorgesetzten. »Sie hat sich damals gewaltsam einer Befragung entzogen. Und nun der Mord an ihrem Bruder. Zumindest Gewahrsam wäre zu rechtfertigen. Die Ausstellung eines Haftbefehls könnten Sie wahrscheinlich ebenfalls begründen.«
Konter hatte Marie-Yini Dollberg von seinem Assistenten, da Silva und zwei Kollegen der Sitte abholen lassen. Er war sich unschlüssig, was eine Verhaftung anging. Zunächst wollte er den Vorteil nutzen, der sich meist ergab, wenn man die Zeugen im Unklaren ließ, ob sie auch Verdächtige waren. Zudem konnte die Frau unmöglich von seiner Verbindung zum Syndicat wissen.
»Wir sprechen erst mit ihr«, sagte er und wies Druwe an, die Zeugin, die auf dem Flur von einem Schutzpolizisten bewacht wurde, ins Zimmer zu holen.
»Sie sind nur einen winzigen Schritt davon entfernt, als Verdächtige im Mordfall Ihres Bruders verhaftet zu werden. Ist Ihnen das bewusst, Fräulein Dollberg?«
»Mit welcher Begründung?«, fragte sie, wirkte jedoch weder erregt noch nervös.
»Ihr Bruder wurde vergiftet. Und Sie sind Chemikerin. Aaron Rosenbaum wurde erschossen. Und Sie hatten vorher offenbar mehrmals Kontakt mit ihm. Der junge Mann wollte Ihren Bruder wegen etwas zur Rede stellen, das ihn, wie wir annehmen, sehr zu belasten schien.«
»So? Ich sehe die Zusammenhänge nicht. Welches Motiv sollte ich haben, meinen Bruder zu töten? Und ich weiß nicht, was Aaron derartig belastete.«
Das Motiv, dachte Konter. Es war die Schwachstelle bei einer möglichen Verhaftung dieser Frau. Und zu einer Anklage würde es bei derart dünnen Fäden nicht kommen. Insgeheim war er froh, sich zunächst für eine Befragung der Dame entschieden zu haben. Er musste die Angaben später mit Franz abgleichen, aber im Fall einer Verhaftung würde die Frau wahrscheinlich dichtmachen.
In der folgenden halben Stunde gab die Chinesin auf jede Frage eine aalglatte Antwort. Sie verwickelte sich nicht in Widersprüche, zeigte allerdings auch nicht den typischen Drang nach Rechtfertigung, den Konter so oft bei Tätern beobachtet hatte. Sie wollten es immer besonders gut machen, lückenlose Begründungen für ihr Handeln vorlegen. So ertappte man sie oft dabei, dass sie versuchten, Zweifel aus dem Weg zu räumen, die gar nicht geäußert worden waren.
»Wie genau sieht Ihre Arbeit aus?«
»Ich arbeite für ein chinesisches Unternehmen, das Tuche und Färbemittel für Wolle nach Europa exportieren möchte«, erklärte sie.
»Nach unseren Erkenntnissen ist es eine Firma, die einem gewissen Shen Li gehört. Haben Sie näheren Kontakt zu ihm?«
»Ja, ich kenne Herrn Shen. Er leitet die Firma. Wir haben ein paar Vorgaben abgesprochen, mehr nicht.«
»Mit welchen Substanzen arbeiten Sie in Ihrem Labor?«
»Meine Aufgaben als Chemikerin sind vielfältig. Ein Laie denkt, dass man die Vorgänge in einem Labor wie in einem Archiv oder der Verwaltung sauber voneinander trennen kann. Hier das Grundbuchamt, dort die Steuer. Chemiker brauchen immer eine große Menge von Substanzen. Sie leben im geordneten Chaos zwischen ihren Reaktionen. Und ich prüfe vor allem die Stabilität von Färbungen an Leinen, Jute und Baumwolle. Ich kann Ihnen gern eine Aufstellung der von mir verwendeten Chemikalien anfertigen lassen.«
»Wie sah der Kontakt zu Ihrem Vater aus?«
»Ich hatte gehofft, eine nähere Beziehung zu ihm aufbauen zu können. Aber er ist ein ehemaliger Beamter alter Schule. Für ihn bin ich ein unglückliches Versehen in seinem Leben.«
»Und was haben Sie mit Aaron Rosenbaum besprochen?«
»Ich bat Aaron, für mich zu vermitteln. Ich hatte ihn über Hans Heinrich kennengelernt und gehofft, er würde meinen Bruder dazu bewegen, bei unserem Vater zu vermitteln.«
Paul Konter und sein Assistent baten die Zeugin, kurz vor der Tür zu warten. Dort nahm sie erneut ein drahtiger Schutzpolizist in Empfang.
»Was halten Sie davon, Herr Kommissar?«, fragte Druwe. Er spielte nervös mit einem Bleistift.
»Ein geschicktes Geflecht von Wahrheit und Lüge vermute ich«, erwiderte Konter. Er hatte noch nicht mit Franz über die Frau sprechen können, da dieser erst gestern bei ihr in die Wohnung eingestiegen war. Plötzlich kam ihm eine Idee.
»Jens, versuchen Sie noch mal Ihr Glück!«
Druwe blickte ihn erstaunt an und schien sich zu fragen, ob dieser Vorschlag ein Vertrauensbeweis oder eine Nebelkerzen-Taktik war.
»Machen Sie ihr klar, dass ich der Böse bin«, schlug Konter vor. »Dass ich kurz davor stehe, sie einzubuchten. Geben Sie ihr etwas Leine und gewinnen Sie ihr Vertrauen. Spielen Sie den Guten, Jens.«
Ein Kreuzverhör der ungewöhnlichen Art, dachte er.
˚˚˚
»Sie sollten sich mit meinem Schwager unterhalten«, meinte Druwe. »Er ist Chirurg, aber an allem interessiert, das geeignet ist, einen Menschen unter die Erde zu bringen. Kugeln und Schrapnelle hat er im Krieg bereits genug gesehen. Aber ich denke, dass Ihr besonderes Wissen ihn faszinieren könnte.«
Marie-Yini Dollberg lächelte. Der Mann gefiel ihr. Nicht mehr ganz jung, aber noch mit diesem Rest Unschuld im Blick, den sie mochte. Dabei auf besondere Weise melancholisch. Sie nahm an, dass er im Krieg gewesen war. Sie kannte viele Männer, deren Augen leer und kalt schienen. Die das Grauen, das sie nachts immer noch heimsuchte, im Suff ertränkten. Die mit Ende zwanzig aufgedunsen und verbraucht aussahen. Nicht so Druwe. Von ihm ging eine Kraft aus, die nicht einfach richtungslos umherirrte, sondern gerichtet war. Er schien ein Mann mit Zielen zu sein, vielleicht sogar mit Idealen. Und dennoch war da etwas Dunkles an ihm, dass sie anzog. Sie spürte, sie waren Seelenverwandte.
»Mein besonderes Wissen?«
»Sie sind Chemikerin. Da kennen Sie sich doch mit Giften aus, nicht wahr?«
»Ich sagte bereits, dass ich Spezialistin für Farbstoffe bin. Nicht jeder Gendarm kennt sich mit Mordfällen aus, obwohl er doch auch Polizist ist.«
»Jedenfalls möchte der Gerichtsmediziner Ihnen ein paar Dinge zeigen und erklären.«
»Vielleicht möchte ich mich lieber mit Ihnen unterhalten als mit Ihrem Schwager«, erwiderte sie kokett.
»Mag sein, Fräulein Dollberg. Aber bleiben wir bitte bei der Sache.« Die letzten Worte waren mehr als Mahnung an sich selbst gedacht. Er räusperte sich und wandte den Blick von ihren bestrumpften Beinen ab. Unzüchtig hätte man das Verhalten dieser Frau noch vor einem Jahrzehnt genannt. Ein nur knielanger Rock, der zudem scheinbar nachlässig einige Fingerbreit nach oben gerutscht war. Dazu die Beine übereinander geschlagen und in der Hand eine Zigarette mit Spitze. Er sah allerdings keinen Grund, verlegen zu sein. Denn diese Frau wollte, dass man sie ansah. Ein Mann musste eben nur seine Grenzen kennen. »Und ich habe tatsächlich noch einige Fragen an Sie.«
»Ich meinte eine andere Form der Unterhaltung.«
»Hatte Ihr Bruder Feinde?« Er wirkte keine Spur nervös, obwohl – oder gerade weil – die Bemerkung der jungen Frau kaum misszuverstehen war.
»Er hatte seine Arbeit.« Es war eine Bemerkung, mit der sie die ganze Trostlosigkeit im Leben ihres Halbbruder zusammenzufassen schien. »Und Aaron, seinen einzigen guten Freund.«
»Finden Sie das nicht seltsam?«, fragte Druwe. »Ich meine, zwei befreundete, junge Männer sterben innerhalb so kurzer Zeit?«
»Sie sind der Polizist.« Die Chinesin zog an ihrer Zigarette und ließ den Rauch langsam über ihre Lippen nach oben steigen. »Finden Sie es seltsam, Herr Kommissar?«
»Ich bin Kriminalassistent.« Natürlich wusste er, dass sie es wusste. »Es ist meine Aufgabe, die Hinweise, Indizien und Beweise in einem Fall aufzuspüren.« Druwe hielt kurz inne. »Nicht, etwas dabei zu empfinden. Gefühle leiten einen Ermittler meistens in die Irre.«
»Dann sind Sie also ein gefühlloser Mensch?«, fragte sie.
»Sie versuchen, mich abzulenken? Warum?«
»Weil ich Sie interessant finde.«
»Ich bin verlobt.« Druwe wusste, dass es ein Fehler war, sich von Zeugen oder Verdächtigen auf die private Ebene ziehen zu lassen. Natürlich hatte er Ernst Gennats Handbuch für die Mordermittlung gelesen: Der Kriminalbeamte hat inneren Abstand zu den privaten Belangen des Verdächtigen unbedingt zu wahren. Keinesfalls darf er Privates von sich preisgeben, außer es dient, die Befragung voranzubringen. Letztere Methode ist eine Gratwanderung, die nur erfahrenen Ermittlern zu empfehlen ist.
Diese Frau war attraktiv und gefährlich. Druwe fühlte sich, als hielte er einen seltenen Dolch an der Klinge statt am Griff. Durch jede kleine Unachtsamkeit konnte Blut fließen. Aber genau dies reizte ihn. Inge, seine Verlobte, hatte mit dieser Frau nichts gemeinsam. Marie-Yini war klein, hatte einen beinahe knabenhaften Körper, dunkles glattes Haar. Und das Gesicht war eine Mischung aus puppenhafter Perfektion und frecher Kindlichkeit. Druwe tat, als müsste er in seinem Notizbuch nach bestimmten Einträgen suchen. Seine bevorzugte Methode, wenn er Zeit gewinnen wollte. Und schließlich gelang es ihm tatsächlich, die Blutzirkulation wieder in Richtung Verstand umzuleiten.
»Schluss mit den Spielchen, Fräulein Dollberg. Sie sind eine wichtige Zeugin in zwei Mordfällen. Mein Vorgesetzter möchte Sie sogar als Verdächtige festsetzen lassen«, log er. »Ich konnte ihn davon abhalten. Wenn wir zusammenarbeiten, ersparen Sie sich eine Menge Unannehmlichkeiten. Ihre Entscheidung. Werden Sie jetzt also meine Fragen beantworten?«
»Natürlich, Herr Kriminalassistent.«
»Seit wann sind Sie in Berlin?«
»Seit September vorletzten Jahres.«
»Sie hatten von Anfang an eine feste Anstellung? Kamen Sie auf Einladung Ihres Vaters nach Deutschland?«
»Ja und nein. Ich arbeite für die Tuchwaren-Productions-und-Handelsbetriebe. Deren Geschäftspartner in Tsingtao haben mich für die Anstellung empfohlen. Mein Vater hat damit nichts zu tun. Allerdings habe ich ihm und meinem Bruder geschrieben, und ich bat sie um ein Treffen.«
»Wie oft haben Sie Ihren Bruder gesehen? Und worüber haben Sie gesprochen?«
»Nur ein paar Mal. Letztlich blieben wir jedoch Fremde füreinander. Und für meinen Vater bin ich das Ergebnis einer Verfehlung, also selbst ein Fehler. Solche Herren pflegen ihre Beziehungen zu einheimischen Frauen in den Kolonien ja als lässliche Sünden zu sehen. Ich dachte, dass ich zu meinem Bruder vielleicht einen näheren Kontakt herstellen kann.«
»Und? Ist Ihnen dies gelungen?«
»Er ist zwar nicht so borniert wie unser Vater. Aber ich sagte bereits, er scheint mit seinem Beruf verheiratet zu sein. Hölzern und langweilig. Wir haben uns mehrfach getroffen. Und jetzt ist er tot. Er bleibt also leider für immer ein Fremder für mich.«
»Kam Ihnen bei den Gesprächen irgendetwas seltsam vor? Wirkte er nervös? Hat er vielleicht etwas erwähnt, das wichtig sein könnte? Fühlte er sich bedroht?«
»Nein, aber ich habe mit Besorgnis die Ereignisse um Stinnes und Ebert verfolgt. Ich wusste, dass er in derselben Klinik arbeitete, in der die beiden operiert wurden. Ich habe ihn dazu befragt, aber er hat die Fälle als Verkettung unglücklicher Umstände abgetan.«
»Sie haben in China Chemie studiert? Wo?«
»Ja, in Shanghai und Hongkong.«
»Ist das üblich in Ihrem Land? Als Frau? Wie haben Sie die Ausbildung finanziert?«
»Indem ich mit jedem Mann ins Bett gegangen bin, der bereit war, einen Dollar dafür zu bezahlen«, entgegnete sie mit eiskalter Stimme. »Dreitausend Dollar kostete das Studium. Rechnen können Sie ja sicherlich?«
Druwe blickte von seinen Notizen auf. In ihm mischten sich Gefühle von Verunsicherung und Wut. Die Frau führte ihn vor. Sie log ihn teilweise an, da war er sicher. Oder zumindest verschwieg sie Wichtiges. Ihre Fassade war makellos. Es gab nichts, an dem er ansetzen, nachhaken, zupacken konnte. Dazu kam diese ungewohnte Selbstsicherheit.
»Ich möchte Sie nicht um Ihren Schlaf bringen, Herr Kriminalassistent. Die Familie meiner Mutter ist nicht arm. Und ich hatte selbstlose Gönner«, fuhr Marie-Yini Dollberg in versöhnlichem Tonfall fort. »Gönner, die weitaus mehr als einen Dollar zu zahlen bereit wären. Aber wie gesagt, ich möchte Ihre moralische Entrüstung dämpfen und Sie beruhigen. Ich bin nämlich keine Hure.«
»Mir lag es fern …« Druwe mahnte sich zur Zurückhaltung. Es gelang dieser Frau, ihn in ihre private Welt hineinzuziehen. Dadurch würde er – so hatte Gennat immer wieder gemahnt – zu einem Vertrauten, einem Komplizen.
»Wie ich anfangs sagte, wäre es schön, wenn Sie mit meinem Schwager sprechen würden«, sagte er in nüchternem Tonfall. »Dr. Schmid ist in der Sache Ihres Bruders der zuständige Gerichtsmediziner. Ich habe ein Treffen mit ihm vereinbart. Fachliche Fragen könnten unter Fachleuten einfacher erörtert werden.«
Offenbar fühlte sich die Chinesin durch die Bemerkung geschmeichelt, denn ihr Lächeln wirkte nun echt.
»Natürlich, gern.«
˚˚˚
Berthold Schmid besetzte an der Charité lediglich eine Art Aushilfsstelle in der Chirurgie. Ihm fehlte der klassische Bildungsweg, da er nach dem Medizinstudium vier Jahre an der West- und Ostfront seine Erfahrungen vorwiegend an den zerschossenen und zerfetzten Objekten jener blutigen Orgie erworben hatte. Die Feldchirurgen hatten sich dann nach Kriegsende einer praktischen Prüfung unterziehen müssen, um als Chirurgen anerkannt zu werden. Und natürlich waren Standesdünkel der klassisch ausgebildeten Söhne von Industriellen und Akademikern – die oftmals vom Kriegsdienst freigestellt worden waren – mehr die Regel als die Ausnahme. Ärzte wie Schmid wurden daher als Chirurgen zweiter Klasse behandelt und bezahlt.
»Einmal Feldscher, immer Feldscher.« Offenbar nahm der Mann es gelassen, allerdings litt er seit Jahren an den Folgen seiner persönlichen Tragödie. Über den Verlust seiner Frau in den Tagen der Novemberrevolution kam er nicht hinweg.
»Zwei Freunde sind mir geblieben, Jens«, pflegte er bei den Treffen mit seinem Schwager Jens Druwe oft zu sagen. »Der Kognak und die Arbeit. Aber was braucht ein Mann mehr?«
Druwe hatte sich mit ihm am Alexanderufer verabredet. Dort verbrachte das Personal der Klinik seine kurzen Pausen, was unschwer zu erkennen war an den Bergen von Zigarettenkippen, die auf dem Kopfsteinpflaster lagen.
Diese Kerle verbieten jedes Laster, weil sie selbst so gern rauchen und saufen, dachte Druwe, als er seinen Schwager mit einer Stippe im Mund erblickte. Nach einer kurzen Begrüßung führte Schmid sie zurück ins Gebäude und zu einem kleinen Raum im ersten Stock, der offenbar von den diensthabenden Assistenten genutzt wurde. Darin roch es nach Fußschweiß, Wurstbrot und kaltem Rauch.
»In unserem Land erfahren Ärzte mehr Wertschätzung«, meinte Marie-Yini. Sie hielt sich einen Finger unter die Nase und blickte sich in dem Ruheraum um, der wenig freundlich eingerichtet war.
»Der Schein trügt, meine Teure«, sagte Schmid. »Wer bereits durch Kot, Gedärme und Blut gewatet ist; wer hundemüde und vollkommen erschöpft ist, der liegt hier wie auf einem Diwan aus Tausend und einer Nacht. Manche Erfahrungen lehren einen Menschen Demut. Oder sie treiben ihn in den Wahnsinn. Ich bin selbst noch unschlüssig, wohin es mich zieht.«
»Sie haben meinen Bruder untersucht, Herr Dr. Schmid?«
»Sehr richtig. Mein aufrichtiges Beileid, Fräulein Dollberg. Ihr Bruder befand sich körperlich in bester Verfassung. Die Lunge ein wenig zu schwarz, die Leber etwas zu groß. Wie bei Ärzten und vor allem Chirurgen üblich. Aber sonst … Eine wirklich sehr tragische Geschichte.«
»Er wurde vergiftet, sagte Herr Druwe.«
»Strychnin.« Dr. Schmid nickte. »Sehr ungewöhnlich. Wie Sie vielleicht wissen, hat der Stoff einen noch in geringster Dosierung wahrnehmbaren, bitteren Geschmack. Da das Gift dem Lieblingsgetränk Ihres Bruders, dem Absinth, beigemischt wurde, konnte man ihn jedoch täuschen.« Schmid bot allen Anwesenden aus einer Blechdose Nil-Zigaretten an. Druwe wusste, dass er die schwer erhältliche Variante mit Hanfanteil bevorzugte, und lehnte dankend ab.
»Ich konnte eine kleine Menge des Gifts aus dem Magensaft isolieren. Unsere Laborraten lassen sich normalerweise nicht täuschen. Sehr schlau, diese Viecher. Aber das Zeug aus dem Mageninhalt Ihres Bruders haben sie mit etwas Zwiebelmett einfach gefressen. Wirklich seltsam. Der Alkohol oder die darin gelösten Kräuter haben den abstoßenden Geschmack des Strychnins offenbar überdeckt. Wer Ihrem Bruder das angetan hat, verfügt offenbar über einige Erfahrung.«
»Haben Sie von so etwas schon einmal gehört, Fräulein Dollberg?«, fragte Druwe.
»Ich arbeite natürlich mit vielen Chemikalien. Gifte in dem von Ihnen gemeinten Sinn gehören eher nicht dazu. Ich las allerdings davon, dass im Krieg wohl daran geforscht wurde, das Strychnin besser und vor allem unerkannt einsetzbar zu machen. Um es als Waffe zu nutzen.« Druwe schien es, als wäre die Frau einen Moment lang unsicher. »Ich weiß allerdings nicht, ob diese Entwicklung über das Stadium von Phantastereien in Spionageromanen und in den Gehirnen alter Generäle jemals hinausgekommen ist.«
Druwe hielt ihre Antwort schriftlich fest und malte hinter die entsprechende Notiz ein großes Fragezeichen. Sein Vorgesetzter hatte ihm zwar nicht viel über die chinesischen Aktivitäten in der Stadt erzählt. Jedoch hatte er sich in der Kriminalabteilung für Spurensicherung und in der Bibliothek der Universität und durch Zeitungsartikel selbst ein wenig schlau gemacht. Natürlich war er stutzig geworden. Eine Tuchfirma, die diesem Chinesen Shen gehörte. Kredite für die Berliner Stickstoff, eine Chemikerin aus Tsingtao, die Zunahme des Opiumhandels in den letzten Monaten. Man musste schon auf allen Hühneraugen blind sein, wenn man als Kripoermittler hier keine Zusammenhänge vermutete.
»Wissen Sie, was das ist?« Sein Schwager nahm eine flache Glasschale aus einem Metallschrank und hob den Deckel. Ein leicht säuerlicher Geruch stieg empor.
»Was wird das? Holen wir mein Examen nach?« Die Chinesin wirkte zwar etwas düpiert, jedoch schien auch ihr Interesse geweckt zu sein. »Eine Petrischale. Wahrscheinlich mit Agar gefüllt, auf dem ein Keim wächst. Ebenfalls nicht mein Arbeitsfeld.«
»Sehr richtig, meine Liebe«, entgegnete Schmid. »Es handelt sich um ein Bakterium, genauer gesagt Staphylococcus aureus.«
»Und was hat das mit mir oder meinem Bruder zu tun?«
»Wir haben in seinem Labor eine Mischung verschiedener Erreger gefunden«, meinte Druwe.
»Er hat auf dem Gebiet der Wundinfektionen geforscht. Also erscheint mir dieser Umstand nicht verwunderlich.«
»Sagen Ihnen die Namen Hugo Stinnes und Friedrich Ebert etwas?«, fragte der Kriminalassistent.
»Natürlich.«
»Beide Männer wurden von einem versierten Chirurgen aufgrund von relativ harmlosen Erkrankungen operiert. Stinnes wegen einer Gallenblasenentzündung, Ebert wegen eines vereiterten Blinddarms. Und beide Männer sind an Komplikationen kurze Zeit nach der OP verstorben. Wundinfektionen.«
Marie-Yini Dollberg schwieg. Druwe beobachtete ihre Reaktion genau. Aber sie schien eher verwirrt, blickte noch einmal auf die Petrischale.
»Keime gibt es mehr als Menschen«, sagte sie. »Sie sind überall. Und vor allem haben wir keine Mittel gegen sie.«
»Der Tod der beiden Männer wurde genau untersucht«, mischte sich Dr. Schmid wieder in das Gespräch ein. »Das Virchow-Institut hat die Wundsekrete analysiert. Darin fand sich ein Keimspektrum, das exakt mit der Versuchslösung aus dem Labor Ihres Bruder übereinstimmte. Neben Staphylococcus noch fünf weitere, äußerst gefährliche Bakterien. Ich muss Ihnen als Wissenschaftlerin sicherlich nicht sagen, wie gering die Wahrscheinlichkeit ist, dass es sich um Zufall handelt. Zwei tote Männer, identische Bakterienstämme. An beiden Operationen war Ihr Bruder als Assistent beteiligt, und laut Krankenakte übernahm er am ersten Tag jeweils persönlich die Wundinspektion und den Verbandswechsel.«
»Sie meinen, mein Bruder könnte die Wunden seiner Patienten absichtlich verunreinigt haben?« Die junge Frau blickte abwechselnd zu Druwe und dem Arzt. »Unfassbar! Ich sagte Ihnen bereits, Herr Druwe, Hans Heinrich war ein Nörgler und Langweiler. Ganz sicher fehlte ihm für solche Taten jegliche Phantasie.« Sie hielt kurz inne. »Vielleicht war es nur ein Zufall. Er hat an diesen Keimen geforscht. Er könnte sie unabsichtlich übertragen haben.«
»Kennen Sie Ergotoxin?«, fragte Schmid.
»Selbstverständlich. Ein Alkaloidgemisch aus dem Mutterkorn. Es verengt die Gefäße, ist aber als Arznei zu unrein und zu ungezielt wirksam.«
»Was, denken Sie, geschieht, wenn eine Wunde mit dem besagten Bakteriengemisch und Ergotoxin in Kontakt kommt?«
»Die Durchblutung des verletzten Gewebes würde über Stunden heruntergefahren und damit auch die Abwehr gestört.« Die Augen der Chinesin weiteten sich, als sie begriff. »Und die Keime könnten sich ungestört ausbreiten!«
»Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass es zu einer schweren Entzündung kommt?«
»Sie sind der Arzt, Dr. Schmid. Aber ich würde denken, dass es in nahezu allen Fällen zu einer schweren Komplikation kommen würde.«
»Und halten Sie es immer noch für möglich, dass es nur ein Versehen war?«, fragte Druwe.
»Mein Bruder … war tatsächlich ein Mörder?«
»Fräulein Dollberg, er steht zumindest unter dringendem Tatverdacht«, schloss der Kriminalpolizist die Befragung ab. »Wir denken, dass er im Auftrag unbekannter Dritter gehandelt hat. Es besteht wahrscheinlich ein Zusammenhang mit dem Rosenbaum-Anschlag. Die Spuren führen zur Berliner Stickstoff sowie anderen Unternehmen. Und zu chinesischen Geschäftsleuten wie Shen, die offenbar in Kontakt stehen zu den kriminellen Organisationen im Großraum Asien. Und Sie arbeiten für solche Leute. Ich sehe im Moment zwar keine Veranlassung, anzunehmen, dass Sie etwas mit der Sache zu tun haben. Dennoch muss ich Sie bitten, die Stadt nicht zu verlassen und jeden Wechsel Ihres Aufenthaltsorts sofort auf dem Präsidium anzuzeigen.«
Die Frau nickte. »Sie denken also, dass der Giftanschlag meinen Bruder zum Schweigen bringen sollte?«, stellte sie eher fest, als dass sie fragte.
»Davon gehen wir aus. Männer wie Ihr Bruder bedeuten für die Auftraggeber eine Gefahr, denn sie könnten ihre Meinung ändern, plötzlich ihr Gewissen entdecken oder später sogar unangenehme Forderungen stellen.«
»Der Weise bessert das undichte Dach aus, bevor es zu regnen beginnt«, murmelte sie.
»Wie bitte?«, fragte Druwe.
»Mein Bruder hatte seinen Zweck erfüllt«, erwiderte sie leise. »Warum ihn also am Leben lassen? Das ist es doch, was Sie denken, oder?«