Jenseits von Tiergarten und Brandenburger Tor und südlich der Gedächtniskirche trieb das Nachtleben seltsame Blüten. Hier wechselten die Welten Berlins im Hundertmeter-Takt. Am Romanischen Forum redeten sich Künstler die Köpfe heiß. In der Motzstraße küssten sich schwule Paare auf der Straße, am Nollendorfplatz öffneten sich schmutzige Schenkel für fünf Mark. Und die Gegend um Tauentzien war das Paradies jener sauberen, weltoffenen Bürger, die ihr inneres Verlangen nach Unanständigkeit zum Selbstbild prägenden Credo gemacht hatten. Liberalität schien hier Pflicht. Unaufgeregt hatte sich dazwischen eine jüdische Oberschicht im Bayerischen Viertel eine Synagoge und Schule errichtet.
Kaum einen Kilometer weiter, zwischen Nolle und Bahnhof, hatte sich jedoch an der Potsdamer Straße ganz anderes Volk eingenistet. Von der Steglitzer Straße bis zum Landwehrkanal gab es Gesellschafts- und Versammlungsräume für die ewig gestrigen Spukgestalten, die lauthals nach einem neuen alten Deutschland riefen. Hier wurde jedoch nicht nur völkisches Liedgut bewahrt und hitzig-trunken über den Verrat der »Novemberverbrecher« sowie deren Bestrafung schwadroniert. Seit einiger Zeit trafen sich in den Kneipen auch rechte politische Zirkel, die ihre Parolen mit Gewalt auf die Straße und unter die Leute bringen wollten. Anfangs hatte Paul Röhrbein einen Wehrverband zusammengetrommelt, der kaum mehr als eine Truppe brutaler, unzufriedener Veteranen des Weltkrieges gewesen war. Seit geraumer Zeit war er jedoch Leiter des Frontbann Nord, dem bereits einige hundert Männer angehörten. Und es trafen immer öfter Funktionäre kleiner Parteien in der Hauptstadt ein, um für ihre Ideen zu werben. »Wer Berlin hat, besitzt die Macht«, hatte der ehemalige Gefreite Hitler während einer Haftzeit entschieden. Es waren jetzt Leute wie Joseph Goebbels, die durch das Reich tingelten wie Schausteller und hofften, dass ihre Bewegung im Moloch Berlin endlich Fuß fassen könnte.
»Der Parlamentarier, der unser Land aussaugt, ist entweder ein Blutjude«, rief der dicke, schwitzende Mann am Rednerpult, der zu einer Veranstaltung in dem Kellerlokal an der Lützowstraße geladen hatte. »Und dann ist völlig klar, was mit ihm geschehen muss! Hinausjagen werden wir ihn in Schimpf und Schande!« Er legte eine Pause ein, um Luft zu holen. Nur einzelne Rufe der Bestätigung waren zu hören. »Weitaus gefährlicher jedoch sind noch die anderen, die im Verborgenen agierenden Gesinnungsjuden …«
Erich hörte nur mit halbem Ohr zu. Diese Bude und noch mehr die Leute, die sich hier versammelt hatten, stießen ihn ab.
»Die Helfer, Nutznießer und Zuträger tragen das Gift der Verderber weiter. Unerkannt und voller Hinterlist …«
Er war zu früh dran und überlegte, ob es ein Fehler gewesen war, der Einladung zu folgen. Der Dicke geiferte noch ein paar Minuten weiter. Schließlich erklang verhaltener Applaus. Der Redner wirkte konsterniert, hatte offenbar mit deutlich mehr Begeisterung gerechnet.
»Das Kapital presst uns Arbeiter aus!«, rief ein Mann, dem der rechte Arm fehlte. Plötzlich wurde es ganz still im kleinen Saal. Der Kerl sah sich um und erkannte offenbar seinen Fehler. Kapital und Arbeiter klangen verdächtig nach der anderen, der roten Seite.
»Und das Kapital ist jüdisch«, fügte er schnell hinzu, bevor jemand auf die Idee kam, ihm einen Bierkrug über den kahlen Schädel zu ziehen. Sein Nebenmann hatte bereits bedrohlich geknurrt.
Vor solchen Schwachköpfen muss sich niemand fürchten, dachte Erich. Die broochn keene Koffer zum Verreisen, die ham viel Platz inne Birne. Passt allet rin.
»Es ist wichtig, dass mal jemand für uns kleine Leute spricht«, raunte ein Geselle im Blaumann ihm zu. Der Kerl hatte mehr Pickel als gesunde Haut im Gesicht und roch nach flüssigem Stahl.
Der Duft der Borsig-Werke. Erich war zu einem Treffen der Deutschvölkischen Freiheitspartei gekommen, das in einer Kneipe stattfand, die nur fünfhundert Meter vom Club 21 des Syndicats am Wittenbergplatz entfernt lag. Im Moment sprossen Parteien wie die sprichwörtlichen Pilze aus dem Boden. DVFP. Wer sollte sich so etwas merken? Kommen Sie!, stand auf der Karte, die Erich von Joseph Goebbels persönlich erhalten hatte. Er spendierte dem Furunkel-Nachbarn sein drittes Bier, damit er die Klappe hielt. Zwei Molle für jeden Gast, war auf den Plakaten versprochen worden. Das Zeug schmeckte wie Waschwasser.
»Ist doch wahr!«, fuhr der Picklige jedoch unbeirrt fort. »Die Schweine haben uns alle betrogen! Amerikaner. Die Engländer und Froschfresser sowieso. Die Ostjuden haben die Revolution in Russland angezettelt. Und die Bankjuden im Westen wollen Deutschland für immer am Boden sehen. Und weißt du, weshalb?«
Erich antwortete nicht, aber davon ließ sich der Mann nicht beirren. Den Parolen nach war er bereits auf mehreren dieser Veranstaltungen gewesen, denn die Worte, die folgten, klangen abgedroschen. Die Argumente waren fadenscheinig wie zu oft gewaschene und gemangelte Wäsche. Zudem schienen sie in auffälliger Weise jeglicher Logik zu entbehren. Im Verstand der meisten Kerle hier war offenbar eine Art Resteessen angesagt. Man nahm, was gerade da war, mischte alles, schlang es hinunter. Und schiss es schließlich wieder aus.
»Der deutsche Mensch ist der einzig saubere Mensch«, schwafelte ein anderer Borsig-Geselle. »Ist bewiesen. Liegt am Erbgut. Deshalb bin ich nicht bei den Kommunisten. Die wollen, dass wir uns mit allen verbrüdern. Die Bolschewisten teilen sogar die Frauen untereinander, wusstest du das? Nee, mein Lieber, nicht mit mir! Mich küsst nur eine deutsche Maid, und die hat treu zu sein.«
Erich mochte sich kaum vorstellen, dass überhaupt schon einmal eine Maid diesen schrägen Vogel mit Hakennase und Glubschaugen geküsst hatte. Er verkniff sich mühsam ein Lachen. Er blickte ein weiteres Mal auf die Karte. Sie haben das Herz am rechten Fleck, mein Freund. Männer wie Sie braucht das neue Deutschland! Kommen Sie! Und hören Sie meine Rede. Dr. J. G.
»Unsere Bewegung muss in Zukunft geeint auftreten«, sagte der DVFP-Mann am Pult. Er schwitzte und trank ebenfalls schon sein drittes Bier. »Männer wie Strasser, Röhrbein, Ernst und Roßbach sind Vorreiter der Revolution im Norden des Reichs. Im Süden formiert sich bereits seit den Tagen der Schande im November 1918 eine neue Kraft. Man ist uns dort also voraus. Noch, Kameraden. Denn auch Preußen wird dem deutschen Ruf folgen!«
Erich war zunehmend gelangweilt. Es war wie bei den Nackttänzen von Anita Berber. Erstens hatte man alles schon gesehen. In diesem Fall gehört. Und zweitens wusste man bei solchen Veranstaltungen nie, wann es soweit war. Wann er, sie oder es zum Höhepunkt kam. Zwar ließ hier heute niemand die Hüllen fallen. Aber er war nur wegen Goebbels gekommen. Der Redner schwafelte noch eine Zeit weiter, bevor er endlich zum Punkt kam.
»Liebe Kampfgefährten! Deutsche Arbeiter! Ich begrüße jetzt einen Kameraden, der ein Grußwort von General Ludendorff überbringt …« Er legte eine theatralische Pause ein, als erwartete er aufbrandenden Jubel. Aber die bloße Erwähnung des alten Weltkriegsoffiziers riss mittlerweile niemanden mehr vom Stuhl. Viele junge Männer kannten den Knacker gar nicht mehr. »Begrüßen wir einen führenden Mann der neuen Bewegung, den Geschäftsführer des NSDAP-Gaus Rheinland-Nord, den Leitenden Redakteur der Nationalsozialistischen Briefe. Herzlich willkommen, Herr Dr. Joseph Goebbels!«
Wieder war der Applaus nur verhalten. Aber was war von siebzig müden Arbeitern zu erwarten? Es wäre klüger gewesen, Goebbels zusammen mit einem dritten oder vierten Freibier anzukündigen. Trotz seines verkrüppelten Beins sprang der Mann erstaunlich behände auf das Podium, winkte ins Publikum und begann ohne Umschweife seine Rede. Dabei las er nicht vom Blatt ab, sondern schien genau zu wissen, was er sagen wollte.
»Deutschlands Schmach ist unsere Schmach! Aber das Rückgrat unserer Gemeinschaft ist der deutsche Arbeiter. Und ich sage euch, dieses Rückgrat wird kein amerikanisches, kein bolschewistisches, kein jüdisches Komplott jemals brechen!«
War es die leicht hysterisch anmutende, zu hohe, sich leicht überschlagende Stimme? Oder waren es wirklich die Worte, die eigentlich ähnlich inhaltsleer klangen wie alle Parolen der radikalen Parteien? Aber die Wirkung dieses Mannes auf die Anwesenden war eine gänzlich andere als bei seinen Vorrednern. Im Raum wurde es plötzlich gespenstisch still. Niemand wagte es, ein Streichholz zu entzünden oder auch nur ein Bierglas auf den Tisch zu stellen. Erich konnte sich der Stimmung nicht entziehen. Fasziniert beobachtete er, wie nach einer Weile sogar das Atmen der Leute in einen Rhythmus überzugehen schien. Das Nicken der Kopfe, leise geraunte Zustimmung. Jede Regung im Saal passte sich dem Auf und Ab im Timbre des Sprechers an.
»Sogar der amerikanische Präsident Woodrow Wilson hat es während der Verhandlungen zum Schmachfrieden von Versailles erkannt und ausgesprochen, liebe Volksgenossen! Er sagte, es ginge um nichts Geringeres als die Vorherrschaft des weißen Mannes in der Welt. Ausnahmsweise gebe ich diesem presbyterianischen Kapitalknecht sogar Recht. Die Welt braucht den weißen Mann. Und allen überlegen ist der deutsche Mensch!«
Plötzlich erhob sich Jubel und Beifall, der erst nach einer Minute abebbte. Erich sah dem Spektakel gebannt zu. Immer wieder gab es frenetischen Applaus für diesen seltsamen Mann, der unnahbar und umgänglich zugleich erschien. Manchmal drohte er, gefolgt von einem unheilvollen Flüstern. Dann wieder beschwor er die Vorhersehung und prophezeite seinen Zuhörern eine strahlende Zukunft.
»Dieses Land braucht jeden von euch!«, beendete Goebbels nach über einer halben Stunde seine Rede. »Denn das letzte Bollwerk gegen Dummheit, Ausbeutung und Lüge seid ihr. Das Herz Deutschlands schlägt in eurer Brust! Und es ist an der Zeit, dass deutsche Kraft, deutscher Geist und deutscher Wille wieder zusammenfinden. Man hat uns zu Sklaven gemacht, aber wir werden uns erheben. Und der Sturm, der dann losbricht, wird fürchterlich sein!«
Tosender Applaus brandete im Saal auf. Es war, als hätte Goebbels die Männer mit einem Bann belegt, den er am Schluss aufgehoben hatte. Und endlich konnten die Männer jetzt wieder grölen und toben. Auch Erich war fasziniert. Er verabscheute ewiges Taktieren und Speichelleckerei. Und als ebensolche empfand er die deutsche Politik gegenüber den Siegermächten. Wie viele junge Menschen war er verführbar, anfällig für einfache Antworten auf die komplizierten Fragen, die das Leben stellte. Warum einen Knoten lösen, wenn man ihn zerschlagen konnte? Warum verhandeln, wenn man nehmen konnte? Goebbels gab Hinweise, wo die Zweifelnden und Verzweifelten unter diesen Leuten ihre Erlösung suchen sollten. Der Mensch brauchte eben Ziele. Und er brauchte Feinde. An beidem orientierte er sich. Und beides bot dieser Mann seinem Publikum an.
»Herr Sass! Wie schön, dass Sie es einrichten konnten.« Ohne dass Erich es bemerkt hatte, war Joseph Goebbels an seinen Tisch getreten und nahm Platz, nachdem ein Leibwächter Stuhl und Platte mit einer Lösung, die irgendwie nach Krankenhaus roch, abgewischt hatte. Zwei Männer schirmten den Politiker von den grölenden Männern ab, die ihn bedrängen und ihm die Hand schütteln wollten. »Ich habe geahnt, dass Sie der deutschen Sache zugetan sind.«
»Politik interessiert mich nicht«, sprach der junge Mann die Worte nach, die er so oft von seinem Bruder gehört hatte.
»Mich ebenfalls nicht!«, rief Goebbels und lachte. »Sie ist für unsere Bewegung nur Mittel zum Zweck. Wir schlagen die Parlamentarier mit ihren eigenen Waffen, jagen sie zum Teufel und richten das Reich wieder auf. Am Ende der Politik liegt die Macht. Wer sie hat, braucht keine Politik mehr.«
»Aha.«
»Sie könnten unser zukünftiger Mann in Berlin sein, Sass.«
»Mann? Wofür?« Erich fühlte sich einerseits geschmeichelt, andererseits war er stark verunsichert.
Goebbels legte den Kopf leicht schief und sah ihm in die Augen. Sein beinahe schwarzes Haar war glatt nach hinten angelegt und betonte die hohe, fliehende Stirn. Der lange Nasenrücken hatte zusammen mit der Form der Oberlippe etwas Schnabelartiges und verlieh dem Mann den Ausdruck eines Raubvogels.
»Besondere Angelegenheiten«, sagte er leise. »Meine Parteigenossen und ich sind Realisten, Herr Sass. Auch das deutsche Volk hat seine dunklen Seiten. Wenn wir die Massen auf unsere Seite bringen wollen, können wir uns dieser Tatsache nicht verschließen. In Städten wie Berlin, Hamburg oder Köln wird es immer Glücksspiel, Hurerei und Rauschmittel geben. Sie und Ihr Syndicat könnten in Zukunft eine Art Vermittlerrolle einnehmen. Wir sprechen ab, was in einem neuen Deutschland toleriert wird, und bestimmen die Grenzen. Es wäre nicht zu Ihrem Schaden.«
Erich saß diesem kleinen, schmächtigen Mann gegenüber und war überwältigt. Nicht so sehr von dessen Erscheinung oder Worten selbst, sondern von den Wirkungen, die sie in ihm auslösten. Er verspürte eine seltsame Mischung aus Angst und freudiger Erwartung. Der Kerl schien gleichzeitig zu drohen und zu schmeicheln.
»Sie sollten mit Ihrem Bruder und Ihren Partnern sprechen«, fuhr Goebbels fort. »Eine einzigartige Möglichkeit, die ich Ihnen biete. Ihr Bruder scheint sie nicht zu erkennen, aber Sie, mein Lieber, sind aus anderem Holz.« Er erhob sich und reichte Erich die Hand zum Abschied. Auf einen Fingerzeig hin nahm ein Leibwächter eine kleine Karte aus der Jacke und legte sie auf den Tisch. »Wir hören noch voneinander, hoffe ich. Sie sollten in Ihrem Unternehmen in Zukunft eine größere Rolle einfordern. Mir scheint, ihre Brüder erkennen ihren Wert nicht.«
Erich saß lange da und starrte auf die Visitenkarte. Dr. Paul Joseph Goebbels. Was hatte ein gebildeter, studierter Mann mit diesem Haufen zu tun, der sich jetzt in wüsten, bierseligen Tiraden erging? Erich wusste, dass die Herren Studenten ebenfalls gern rechts dachten, aber sie blieben immer unter ihresgleichen. Was hatte Goebbels in seiner Rede gesagt? Er versuchte, sich an die Worte zu erinnern.
»Deutschsein heißt das neue Klassenbewusstsein. Denn der deutsche Mensch ist rassisch rein. Und aus diesem Grund sind wir alle Brüder und Schwestern, sind uns gleich, geeint im Blut. Geeint im Ziel. Ob Arbeiter, Fabrikant oder Professor, es wird in Zukunft nur noch einen Stand geben. Den Stand der Ehre, einem neuen, starken Deutschland zu dienen!«
Der Mann hatte sich mit den einfachen Leuten verbündet. Und sie hatten ihn sogar – dem Beifall nach – verstanden, waren bereit, ihm zu folgen. Siebzig Säufer zwar, aber immerhin. Erich spürte, dass Goebbels zu mehr fähig war. Er hatte an einem Nebentisch gehört, dass der Politiker angeblich hundert Reden in einem halben Jahr gehalten hatte. Da konnten aus siebzig schnell auch siebentausend werden.
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»Mensch Erich! Du hier?«, riss ihn eine Stimme aus seinen Gedanken. Er musste die Augen zusammenkneifen, um im grellen Gegenlicht einer Deckenlampe und durch die dicken, blauen Rauchschwaden ein Gesicht zu erkennen.
»Rosenthal. Setz dich!« Erich erkannte einen Kumpel aus der Zeit bei der Clique. Damals war der Kerl ein immer hungriger, sehr schüchterner Bursche gewesen, der bei jeder Gelegenheit rot wurde.
»Lass den Spitznamen. Nenn mich Baldur.«
Klar, dachte Erich. Balduin Maczeck war als junger Bursche weder mit seinem Vornamen noch mit dem Familiennamen zufrieden gewesen. Da er am Rosenthaler Platz wohnte, hatten ihn die anderen Jungs der Clique kurzerhand Rosenthal getauft. Der jüdisch anmutende Name war ihm hier natürlich unangenehm. Die beiden Männer tranken zusammen ein Bier und plauschten über die Vergangenheit. Es schien, als sprächen sie über eine Zeit, die Jahrzehnte zurücklag, dabei ging es gerade einmal um fünf Jahre.
»Bin jetzt im Frontbann unter Röhrbein«, sagte Maczeck nach einer Weile mit Stolz in der Stimme. Er tippte an seinen Hemdkragen, und Erich erkannte ein Abzeichen, das entfernt an das Eiserne Kreuz der Soldaten erinnerte. Allerdings zeigte es in der Mitte einen Stahlhelm und außen vier Haken.
»Wir wollen frei werden«, las Maczeck von dem Blechteil ab und tippte immer noch darauf.
»Aha. Wer hält dich denn gefangen?«, witzelte Erich.
»Es ist Zeit, dass wir es den Roten und den Juden zeigen.«
»Was?«
»Wer Herr im Hause ist. Wir fahren gleich zu einem Treffen, um den Galiziern mal wieder ein bisschen einzuheizen. Wir reden nicht nur, Erich. Komm doch mit.«
Galizier. So nannten viele Berliner die Ostjuden, die in den letzten Jahrzehnten in die Stadt gekommen waren und sich vor allem im Scheunenviertel niedergelassen hatten. Erst vor zwei Jahren war es dort zu Ausschreitungen gekommen, als das Gerücht die Runde gemacht hatte, die Juden wären durch ihre Spekulationen an der Inflation schuld. Dabei hatten gerade die Bewohner dieses Viertels oft kaum mehr als ein paar Lumpen, Alteisen oder erbettelte, verdorbene Lebensmittel. Mittlerweile waren zwei weitere Frontbann-Leute an den Tisch gekommen und bedrängten Erich, der schließlich nachgab.
Unser zukünftiger Mann in Berlin. Die Worte hallten in ihm noch nach. Er würde ganz gewiss nicht in diese Saalschutz-Verbände eintreten, die sich mittlerweile für jede noch so kleine Partei irgendwo prügelten. Aber es konnte nicht schaden, einmal vor Ort zu erleben, wie diese Burschen dachten und wie die Aktionen bei ihnen abliefen.
»Ich bin dabei«, sagte er schließlich, und sofort klopften ihm mehrere Männer auf die Schulter. »Will nur sehen, was Sache ist. Ick nehm keene Knüppel und keene Wumme. Nur luschern.«
»So haben wir alle angefangen«, grölte einer. »Und dann gleich feste druff, wa?«
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Die Sache war ein Fehler. Schon als er den klapprigen Benz-Laster bestieg, dessen Ladefläche mit jungen Männern belegt war und der vor dem Bierlokal an der Ecke Körnerstraße bereitgestanden hatte, wurde Erich klar, dass dies die falsche Filmvorführung für ihn war. Der Kasernenhofton älterer Unteroffiziere aus dem Weltkrieg und billiger Weinbrand schienen die übliche Vorbereitung für diese Unternehmungen zu sein. Die jungen Männer stachelten sich an, indem sie im Wechsel Parolen riefen, Lieder anstimmten und die Flaschen ansetzten. Die Befehlshaber trugen Pistolen am Koppel, der Schlägertrupp selbst war mit Stöcken, kleinen Lederknüppeln, Messern und Metallringen ausgerüstet. Nach dem Durchzählen schlug ein Uniformierter, der bisher geschwiegen hatte und dessen rechte Gesichtshälfte aussah, als wäre sie auf einen Boulettengrill gedrückt worden, gegen die Fahrkabine. Als sich der LKW in Bewegung setzte, spürte Erich, dass sich eine seltsame Spannung unter den Männern ausbreitete. Einige grölten noch lauter, andere schwiegen. Die Fahrt war kurz, denn es ging über den Potsdamer Platz und die Leipziger Straße Richtung Alex, dann hoch zum Schönhauser Tor.
Rote Gegend, dachte Erich, als der Wagen langsamer wurde. Er blickte über die hintere Ladeklappe nach draußen. Arbeiter und armes Judenvolk. Oranienburger und Rosenthaler Vorstadt waren proletarisch, die Borsig-Werke hatten hier in den letzten dreißig Jahren die Gesundheit zehntausender Arbeiter ruiniert und ihr Bewusstsein, ganz unten zu sein, nachhaltig geprägt. Hier standen die Mietskasernen Berlins, so auch der berüchtigte Meyer-Hof in der Ackerstraße. In den engen, überfüllten Behausungen verreckte man als tuberkulöser Schlafgänger, während zwei Meter weiter im selben Raum neues Leben gezeugt wurde.
»Absitzen! Los, los. Raus mit euch!«
Erich wurde herumgestoßen und fühlte sich wie das berühmte fünfte Rad. Endlich, nachdem alle anderen Männer an ihm vorbei waren, stieg auch er von der Ladefläche.
»Muss immer schnell gehen«, raunte Maczeck ihm zu. »Rotfront schläft nicht. Deshalb benutzen wir Laster mit Firmenschrift und ändern ständig unsere Einsatzgebiete.«
»Schnauze! Gruppen zu fünft! Keine Plünderung. Keine Toten. In fünfzehn Minuten sammeln. Abmarsch!«
Erich schloss sich der Truppe um seinen ehemaligen Cliquen-Freund an und hielt sich hinter den Männern, die plötzlich in Richtung Mulackstraße abbogen.
»Die Ritze in Frieden lassen, verstanden?«, herrschte ihr Anführer, einer der älteren Unteroffiziere, sie an.
Plötzlich brach ein Sturm los. Die fünf Männer schwärmten aus und schlugen auf Fahrräder, Wagen und Fenster ein. Dabei schienen sie nach einem Plan vorzugehen. Müllers Eisenwaren blieben von Zerstörung verschont, während die Tür der Sattlerei Ehrenberg und die Fenster von Kallinichs Comtoir zu Bruch gingen. Vor Sodtkes Restaurant standen zwei zwielichtige Kerle in Anzügen und rauchten in Seelenruhe ihre Zigaretten, während um sie herum die Fetzen flogen. Sie rührten keinen Finger, als Maczecks Kameraden zwei in traditionelles Schwarz gekleidete Juden zusammenschlugen. Die beiden Männer hatten versucht, ihr Eigentum zu schützen, und bezahlten nun mit gebrochenen Nasen und Platzwunden. Aus den Häusern erklang eine Art Klagegeschrei, das sich mit den Stockhieben zu einem widerwärtigen Geräusch mischte. Erich, der sehr gute Ohren hatte, glaubte, immer wieder das Knirschen brechender Knochen zu hören. Kurz darauf krümmte sich ein Jüngling, der den beiden Älteren zu Hilfe geeilt war, stöhnend und seinen Bauch haltend zusammen. Erich drehte sich zu einem Hauseingang und erbrach seine Biere und Schmalzbrote. Der Mief, der aus den Wohnungen drang, die Alkoholfahnen der Frontbann-Truppe, der Angstschweiß ihrer Opfer und metallischer Blutgeruch waren zu viel für seinen Magen. Jede Münze hatte zwei Seiten, das musste er jetzt erkennen. Noch wirkten die Reden, die Hochrufe und der Bann, in den ihn dieser Goebbels mit einer Mischung aus Drohgehabe und Schmeichelei geschlagen hatte. Aber hier war die raue Wirklichkeit. Blut und Schmerz. Denn das Versprechen eines neuen, großartigen Deutschlands sollte sich erfüllen durch die Not jener, die – nach dem Willen der Scharfmacher – nicht dazu gehörten.
»Lasst euch von den Nationalen keine Flausen in den Kopf setzen«, hatte Erichs Vater, der Schneider Andreas Sass, seinen Kindern eingeschärft. »Für die ist unsereiner nur Kanonenfutter oder Lohnsklave. Je nachdem, was gerade gebraucht wird.« Was hier geschah, widersprach tatsächlich einer Art Grundhaltung, die Erich im Augenblick zwar nicht hätte benennen können, die er jedoch deutlich in sich spürte. Man konnte sich um Frauen oder Geld prügeln, auch um das beste Stück vom Kuchen. Aber Leuten den Schädel einzuschlagen, weil sie Schläfenlocken und schwarze Hüte trugen, anders sprachen? Ihre mühsam aufgebauten Geschäfte zerstören, weil sie in andere Kirchen gingen? Die Magensäure hatte ihm die Tränen in die Augen getrieben, so dass er nur verschwommen die Szene erkannte, die sich keine zwanzig Meter weiter abspielte. An der Ecke zur Alten Schönhauser Straße standen zwei Schutzpolizisten, die von mehreren Frauen umringt waren. Sie versuchten offenbar, die Beamten zum Eingreifen zu bewegen. Die beiden Uniformierten hoben jedoch nur drohend ihre Knüppel, warfen einen Blick auf die ungleiche Straßenschlacht und wandten sich in Richtung der nahe gelegenen Bahnstation ab. Unterdessen kam der bösartige Mummenschanz zu einem traurigen Höhepunkt, als ein junger Mann aus der Tür des baufälligen Hauses Mulackstraße 9 herausstürzte. In der Hand hielt er einen Karabiner aus der Zeit der 1871er Kriege. Er feuerte ohne jede Vorwarnung in Richtung der Frontbann-Truppe, traf jedoch niemanden. Dennoch ließen die Kerle von einem Krämer ab, der am Boden kauerte, lauthals schrie und aus mehreren Platzwunden blutete. Sie waren sogar einen Augenblick lang irritiert und blickten in Richtung ihres Anführers.
»Rotfront schießt!«, brüllte dieser, zog eine Pistole und drückte in Richtung des jungen Mannes ab.
Für einen unendlich langen Moment schienen alle Anwesenden im Erstaunen und in der Angst vereint zu sein. Im Angesicht des Todes wurden aus Männern Söhne, aus Helden Fliehende. Es war, als spürten sie gemeinsam, was dem jungen Juden gerade widerfuhr. Er riss entsetzt die Augen auf und ließ seine Waffe fallen. Erst blickte er noch ungläubig über die Straße, dann neigte sich der Kopf nach vorn, während er gleichzeitig mit beiden Händen an seinen Bauch griff. Ein dunkler Fleck breitete sich schnell darunter aus und formte auf seinem Leinenhemd ein Oval. In der Ferne waren die Pfiffe der Schupos zu hören. Auf Schießeisen reagierten sie äußerst ungehalten.
»Abrücken, Männer!«, befahl der Unteroffizier.
Seine Leute rannten in Richtung Weinmeisterstraße, wo der Laster auf sie wartete und hupte, um die anderen Gruppen zu alarmieren. Balduin Maczeck zog den erstarrten Erich mit sich.
»Komm schon, Mensch! Gleich sind die Schupos hier. Und die Kommunisten rotten sich bestimmt auch schon zusammen!«
»Det arme Schwein is hin«, stammelte Erich.
»Hat zuerst geschossen. Notwehr. Jetzt weg hier.«
Als die Männer wieder auf der Ladefläche saßen, wurde durchgezählt, dann fuhr der Benz in abenteuerlicher Geschwindigkeit in Richtung Potsdamer Straße zurück. Die zunächst noch spürbare Anspannung löste sich, als wieder Weinbrand herumgereicht wurde.
»Den krummen Itzigs haben wir es gezeigt. Habt ihr gesehen? Der Alte hat geflennt wie ein Rotzlöffel vor dem Lehrer.«
»Ein Stoß gegen Juda! Hurra!«
»Mitten ins Herz der Roten! Zweihundert Meter von ihrer Zentrale. Jungs, an die Aktion erinnert man sich noch in zehn Jahren.«
Erich rang immer noch nach Luft. Der saure Geschmack im Mund und die Übelkeit ließen nicht nach.
»Unser Frischling hat sich bekotzt!«, meinte ein hagerer, verpickelter Kerl aus einem anderen Trupp lachend.
»Halt die Schnauze!«, fuhr ihn Maczeck an.
»Zusehen ist Scheiße. Hätte gleich mitmachen müssen. Weißt du, wie Jochen das erste Mal dabei war? Gleich drei Jüdlein aufs Maul gegeben.«
»Kameraden!«, rief ihr Leiter, der Offizier, der offenbar nicht selbst am Einsatz teilgenommen hatte. »Gute Arbeit. Wird jemand verhaftet, Ruhe bewahren, nichts sagen. Der Verein besorgt euch einen Anwalt. Glaubt mir, die Richter sind froh, dass wir den Dreck von der Straße räumen! Höchstens zwei Wochen und ihr seid wieder raus. Und eure Familien bekommen in der Zeit Ehrengeld.« Er nahm eine bisher ungeöffnete Flasche und prostete den Männern symbolisch zu. »Apropos Geld. Ich werde mich dafür verwenden, dass jeder von euch fünfundzwanzig Mark als Sonderzahlung bekommt. Heldentaten müssen belohnt werden!« Jubel brach aus.