Kapitel 2

J etzt, da Midas vor mir steht, ist meine Müdigkeit vergessen.

Ich sehe nur ihn. Jeder Nerv in meinem Körper ist sich seiner Aufmerksamkeit bewusst. Während Midas mich mustert, betrachte ich sein attraktives Gesicht, nehme die Entschlossenheit in seinem Blick in mich auf.

Je länger ich ihn ansehe, desto mehr vergebe ich ihm, dass er mich heute Abend hierher nach oben geholt hat. Mich zur Zuschauerin seines Vergnügens gemacht hat, an dem ich nicht teilhaben durfte, während er die Schenkel seiner Sättel spreizte.

Er hebt eine Hand und schiebt sie durch das Gitter. «Du bist mir so wichtig, Auren», murmelt er leise und zärtlich.

Ich erstarre. Mein Atem scheint sich in meiner Brust zu einer Feile zu formen, die über meine Nerven kratzt und ihre Empfindlichkeit schärft. Vorsichtig schiebt er die Hand vorwärts, bis ein Finger über meine Wange gleitet. Meine Haut kribbelt unter der Berührung, doch ich verharre weiterhin vollkommen still, zu nervös, um auch nur zu blinzeln. Diese winzige Bewegung könnte ihn dazu bringen, seine Hand zurückzuziehen.

Bitte, hör nicht auf, mich zu berühren.

Ich will mich nach vorne lehnen und seinen Geruch aufnehmen, durch die Gitterstäbe greifen und ihn ebenfalls berühren. Aber ich weiß, dass ich das nicht tun sollte. Also bleibe ich unbeweglich stehen, nur meine goldenen Augen leuchten begierig.

«Hast du es genossen, heute Abend zuzusehen?», fragt er. Seine Finger gleiten tiefer, bis sein Daumen meine üppige Unterlippe erreicht. Ich öffne leicht den Mund und keuche, als meine Lippen sich kurz um die Kuppe seines Daumens schließen, Hitze um Hitze.

«Mitzumachen würde mir mehr Freude bereiten», antworte ich, ganz darauf fokussiert, wie seine Finger den Bewegungen meiner Lippen folgen.

Midas hebt die Hand, um mein Haar zu berühren. Er reibt eine Strähne zwischen den Fingern, beobachtet, wie sie im Kerzenlicht glitzert. «Du weißt, dass du zu kostbar dafür bist, dich mit den anderen Sätteln zu mischen.»

Ich schenke ihm ein knappes Lächeln. «Ja, mein König.»

Midas gibt die Strähne frei und tippt mir kurz auf die Nase, bevor er die Hand aus dem Käfig zieht. Es kostet mich unendlich viel Selbstkontrolle, ihm nicht meinen Körper entgegenzudrängen, wie ein Zweig, der sich unter einem Windstoß bewegt. Er weht an mir vorbei und ich verforme mich willig.

«Du bist nicht wie die anderen Sättel dafür gemacht, täglich geritten zu werden, Auren. Du bist viel mehr wert als sie. Außerdem mag ich es, dass du immer dabei bist und mich beobachtest. Das macht mich hart», sagt Midas mit glühendem Blick.

Seltsam, wie er zugleich allumfassendes Verlangen und tiefe Enttäuschung in mir hervorruft.

Obwohl ich es nicht tun sollte, gebe ich Widerworte. Das liegt nur an diesem einsamen Verlangen in mir. «Aber die anderen Sättel verabscheuen mich. Und die Diener reden. Glaubst du nicht, es wäre besser, mich einen Abend teilnehmen zu lassen, selbst wenn ich dabei niemand anderen berühre als dich?», frage ich. Ich weiß, dass ich jämmerlich klinge, aber ich verzehre mich nach ihm.

Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen. Sofort wird mir klar, dass ich den Bogen überspannt habe. Mein Magen verkrampft sich aus einem ganz anderen Grund als bisher. Ich habe ihn verloren, habe seine Unbeschwertheit zerrissen wie ein Stück Pergament.

Seine attraktiven Züge werden hart, sein Charme vergeht wie Schnee auf glühenden Kohlen. «Du bist mein königlicher Sattel. Meine Favoritin. Mein Schatz», belehrt er mich, und ich senke den Blick auf meine Füße. «Ich gebe einen Scheiß darauf, was die Diener und Sättel sagen. Du gehörst mir, ich kann über dich verfügen, wie es mir gefällt. Und wenn es mir gefällt, dich in deinem Käfig zu halten, wo niemand dich erreichen kann außer mir, dann ist das mein Recht.»

Ich schüttele den Kopf über mich selbst. Dumm. So dumm . «Natürlich. Ich dachte nur …»

«Du bist nicht hier, um zu denken», blafft Midas dazwischen – eine selten harsche Zurechtweisung. Mein Atem stockt. Er war so guter Stimmung, und ich habe das zerstört. «Behandele ich dich nicht gut?», verlangt er zu wissen und reißt die Arme in die Luft. Seine Stimme hallt durch den riesigen Raum. «Gewähre ich dir nicht jede Art von Bequemlichkeit?»

«Das tust du …»

«In der Stadt leben in diesem Moment Huren im Elend, sie pissen in Eimer und bumsen auf der Straße, um mit ihrer Fotze ein paar Münzen zu verdienen. Und trotzdem beschwerst du dich?»

Ich presse die Lippen aufeinander. Er hat recht. Meine Situation könnte so viel schlimmer sein. Sie war schon schlimmer. Und Midas hat mich aus diesem Leben errettet.

Der Silberstreif daran: Dass ich die Favoritin des Königs bin, verschafft mir eine Menge Vorteile und einen besonderen Schutz, den andere nicht genießen. Wer weiß, was geschehen wäre, hätte der König mich nicht gerettet? Ich könnte mich in diesem Moment im Besitz von schrecklichen Leuten befinden. Ich könnte dort leben, wo Krankheiten und Grausamkeit regieren. Vielleicht müsste ich um mein Leben fürchten.

Schließlich sah mein Dasein genau so aus, bevor er aufgetaucht ist. Als ein Opfer von Kinderhandel war ich viel zu lange den Launen böser Menschen ausgeliefert. Habe zu viele schreckliche Dinge gesehen.

Einmal bin ich weggelaufen, habe bei den einzigen netten Leuten gewohnt, die ich seit meinen Eltern getroffen hatte. Ich dachte, ich wäre der Brutalität des Lebens entkommen. Bis Plünderer auftauchten und auch das zerstörten. Mein Leben war drauf und dran, wieder ins Elend zu stürzen, aber dann ist Midas erschienen und hat mich gerettet.

Er wurde zu meiner Zuflucht vor der grausamen Gewalt, die stets auf meine geschundene Seele eingeprasselt war. Und dann hat er mich zu seinem berühmten Ausstellungsstück gemacht.

Ich habe keinerlei Recht, mich zu beschweren oder etwas zu verlangen. Wenn ich daran denke, unter welchen Bedingungen ich immer noch leben könnte … Nun, das wird eine lange Liste, auf der unzählige unangenehme Dinge stehen. Ich grüble nicht gerne darüber nach. Ich bekomme Magenverstimmungen, wenn ich an die Vergangenheit denke, also tue ich es lieber nicht. Schließlich sind Magenverstimmungen nicht unbedingt hilfreich bei dem vielen Wein, den ich jeden Abend trinke. Darum bin ich ein Mädchen, das bei allem den Silberstreif am Horizont sieht.

Sobald König Midas die Reue in meiner Miene erkennt, wirkt er zufrieden mit sich: Er hat mein Denken auf eine neue Richtung gelenkt. Sein Blick wird erneut sanft, und seine Knöchel gleiten kurz über meinen Arm. Wäre ich eine Katze, würde ich schnurren.

«Das ist mein kostbares Mädchen», sagt er, und die Sorge, die mir den Magen verkrampft hat, lässt ein wenig nach. Weil ich weiß, dass ich ihm wichtig bin und immer sein werde. Er und ich, uns verbindet etwas, das niemand sonst versteht. Niemand kann diese Verbindung nachempfinden. Ich kannte ihn, bevor er die Krone trug. Bevor seine Burg golden glänzte. Zehn Jahre bin ich jetzt schon bei ihm … und diese Dekade hat das Band zwischen uns immer fester geknüpft.

«Es tut mir leid», sage ich.

«Ist schon in Ordnung», beruhigt er mich und streicht über mein Handgelenk. «Du wirkst müde. Geh zurück in deine Gemächer. Ich werde dich morgen früh rufen lassen.»

Ich runzele die Stirn, als er sich zurückzieht. «Morgen früh?», erkundige ich mich vorsichtig. Gewöhnlich lässt er mich erst rufen, wenn die Sonne schon untergegangen ist.

Er nickt, bereits im Begriff, sich zu entfernen. «Ja. König Fulke bricht morgen auf, um nach Burg Ranhold zurückzukehren.»

Es kostet mich eine Menge Selbstkontrolle, nicht in sichtbarer Erleichterung aufzuatmen. Ich kann König Fulke vom Fünften Königreich nicht ausstehen. Er ist ein schmieriger, rüpelhafter alter Mann, mit der Macht der Verdoppelung. Mit seiner Macht kann er alles, was er berührt, genau einmal duplizieren. Bei Menschen funktioniert es nicht, der Göttlichkeit sei Dank, sonst hätte er schon vor langer Zeit versucht, mich zu kopieren.

Selbst wenn ich Fulke niemals wiedersehe, wäre das noch zu früh. Doch er und mein König sind jetzt schon seit mehreren Jahren Verbündete. Unsere Königreiche haben eine gemeinsame Grenze, darum kommt er jedes Jahr mehrfach zu Besuch, gewöhnlich mit Wagenladungen voller Dinge, die Midas in Gold verwandeln soll. Ich bin mir sicher, dass Fulke alles verdoppelt, kaum dass er in seine Burg zurückgekehrt ist. Die Allianz mit Midas hat ihn sehr reich gemacht.

Ich weiß nicht genau, was mein König im Austausch erhält, doch ich bezweifele sehr, dass er Fulke aus reiner Herzensgüte reich macht. Midas ist nicht gerade für seine Selbstlosigkeit bekannt. Aber hey, als König muss man auf sich selbst und das eigene Königreich aufpassen. Ich nehme ihm das nicht übel.

«Oh», antworte ich, weil ich weiß, was das bedeutet. König Fulke wird mich sehen wollen, bevor er aufbricht. Er ist regelrecht besessen von mir und versucht nicht einmal, das zu verbergen.

Der Silberstreif? Seine Faszination sorgt dafür, dass Midas mir mehr Aufmerksamkeit schenkt. Wie bei Kindern, die sich um ein Spielzeug streiten. Wenn Fulke da ist, hortet Midas mich für sich selbst und passt gut auf, dass Fulke nicht mit mir spielen kann.

Falls Midas mein Unbehagen bemerkt hat, kommentiert er es jedenfalls nicht. «Du wirst morgen früh, während wir speisen, in den Frühstücksraum kommen», sagte er. Ich nicke. «Und jetzt geh in dein Zimmer und ruh dich aus, damit du morgen frisch bist. Ich werde nach dir schicken, wenn es so weit ist.»

Ich beuge den Kopf. «Ja, mein König.»

Midas schenkt mir ein letztes Lächeln, bevor er mit wehender Robe den Raum verlässt. Ich bleibe allein zurück, im Atrium, das sich plötzlich anfühlt wie eine Höhle.

Seufzend mustere ich die endlosen goldenen Gitterstäbe, die sich vor mir durch den Raum ziehen. Im Stillen hasse ich sie. Wäre ich doch nur stark genug, die Stäbe auseinanderzubiegen und zwischen ihnen hindurchzuschlüpfen! Es geht nicht mal darum, dass ich weglaufen will, denn das habe ich nicht vor. Ich weiß, wie gut ich es hier habe. Aber allein die Vorstellung, mich frei durch die Burg bewegen zu können, Midas in sein Schlafzimmer zu folgen … Das ist die Freiheit, nach der ich mich sehne.

Nur zum Spaß packe ich zwei der Stäbe und zerre mit aller Kraft daran. «Kommt schon, ihr kleinen goldenen Mistdinger», murmele ich, meine Arme angespannt.

Zugegeben, ich habe in Sachen Muskeln nicht viel zu bieten. Wahrscheinlich sollte ich anfangen, in meiner Freizeit zu trainieren. Es ist ja nicht so, als wäre ich zu beschäftigt dafür. Ich könnte von einem Ende des Raums zum anderen laufen oder an den Sprossen des Käfigs nach oben klettern und Klimmzüge machen, oder ich könnte …

Mit einem schnaubenden Lachen lasse ich die Hände wieder sinken. Ich langweile mich, aber so sehr dann auch wieder nicht. Dieser männliche Sattel mit den Bauchmuskeln bringt offenbar viel mehr Motivation auf als ich.

Ich sehe durch die Gitterstäbe hinüber zu dem Vogelkäfig, der ein paar Schritte entfernt an einem Ständer hängt. Darin hockt ein Vogel aus massivem Gold, erstarrt auf seiner Stange. Dieses Vogelweibchen war einmal ein Schneefink, glaube ich. Ihr Bauch hatte die Farbe des weißen Schnees, über den sie einst auf dem eisigen Wind hinweggeglitten ist, die Flügel weit ausgebreitet. Jetzt sind ihre weichen Federn harte, metallische Linien, ihre Flügel sind für immer an den kleinen Körper gepresst und ihre Kehle ist verstummt.

«Schau mich nicht so an, Goldstück», sage ich zu ihr. Sie starrt weiter zurück.

«Ich weiß», seufze ich. «Ich weiß, wie wichtig es für Midas ist, dass ich sicher in meinem Käfig verwahrt bin, genau wie du.» Mit leicht geneigtem Kopf lasse ich meinen Blick über all den Luxus in meiner unmittelbaren Reichweite schweifen.

Das Essen, die Kissen, die kostbare Kleidung. Manche Leute würden für diese Dinge töten … und das meine ich nicht nur metaphorisch. Sie würden tatsächlich dafür töten. Armut ist ein grausamer Anreiz. Das weiß ich nur zu gut.

«Schließlich hat er versucht, es mir so bequem wie möglich zu machen. Ich sollte nicht so maßlos und undankbar sein. Alles könnte viel schlimmer sein, nicht wahr?»

Der Vogel starrt mich nur weiter an. Ich ermahne mich selbst, nicht länger mit diesem Ding zu reden. Goldstück hat ihren letzten Atemzug vor langer Zeit getan. Ich kann mich nicht mal mehr erinnern, wie ihr Gesang geklungen hat. Ich stelle mir allerdings vor, dass er schön war – bevor der Vogel zu einem glänzenden, schweigenden Schemen erstarrt ist.

Werde ich auch so enden?

Wird mein Körper in fünfzig Jahren zu massivem Gold werden, wie der des Vogels? Werden meine Organe verschmelzen, meine Stimme verklingen, meine Zunge schwer werden? Wird das Weiß meiner Augen verschwinden und meine Lider für immer blicklos geöffnet bleiben? Vielleicht werde ich hier drin sitzen, für immer unbeweglich, während Leute in den Käfig spähen und durch das Gitter mit mir reden, ohne dass ich antworten kann.

Davor habe ich Angst, auch wenn ich nie darüber gesprochen habe. Wer weiß schon, wie diese Macht mich verändern wird? Vielleicht werde ich eines Tages wirklich zur Statue erstarren.

Ich drehe mich um, gleite mit der Hand einmal über die Gitterstäbe und lasse sie sinken. Der Silberstreif, Auren. Du musst den Silberstreif daran sehen.

Wie die Tatsache, dass mein Käfig wirklich nicht klein ist. Midas hat ihn im Laufe der Jahre langsam erweitern lassen, sodass er sich inzwischen durch das gesamte obere Stockwerk des Palastes zieht. Seine Arbeiter haben zusätzliche Durchgänge in den hinteren Teilen der Räume eingefügt und vergitterte Laufwege daran angeschlossen, die sich jeweils zu großen runden Käfigen öffnen. All das hat er für mich getan.

Ich kann auf diese Weise das Atrium, den Salon, die Bibliothek und das königliche Frühstückszimmer erreichen und natürlich meine persönlichen Gemächer, die den gesamten Nordflügel einnehmen. Das ist mehr Platz, als die meisten Leute im Königreich haben.

Meine Gemächer umfassen ein großes Badezimmer, ein Umkleidezimmer und mein Schlafzimmer. Prunkvolle Räume mit riesigen eingebauten Käfigen, verbunden über vergitterte Wege, die mir erlauben, von einem Zimmer zum anderen zu wandern. Ich muss meinen Käfig nie verlassen – es sei denn, Midas kommt, um mich an einen anderen Ort zu führen. Doch selbst dann bringt er mich gewöhnlich nur in den Thronsaal.

Die arme goldene Favoritin. Ich weiß, wie undankbar ich klinge, und ich hasse das. Es ist wie eine schwärende Wunde tief unter meiner Haut. Ich kratze ständig daran herum, obwohl ich weiß, dass ich die Finger davonlassen sollte; es zulassen sollte, dass die Wunde verheilt und schließlich vernarbt.

Aber auch wenn jeder Raum prunkvoll eingerichtet ist und ich überall nichts als Eleganz erblicke, hat der Luxus für mich schon lange seinen Reiz verloren. Ich nehme an, das war nach meinem langen Aufenthalt hier unvermeidlich. Spielt es wirklich eine Rolle, ob der Käfig aus massivem Gold besteht, wenn man ihn nicht verlassen darf? Ein Käfig ist ein Käfig, egal, wie sehr er auch glänzt.

Und das ist die Krux an der Sache. Ich habe Midas angefleht, mich zu behalten und zu beschützen. Er hat sein Versprechen eingelöst. Ich bin es, die alles ruiniert. Meine eigenen Gedanken verdrehen alles, flüstern Dinge, auf die ich kein Recht habe.

Manchmal, wenn ich genug Wein trinke, vergesse ich, dass ich in einem Käfig sitze. Vergesse ich diese schwärende Wunde.

Also trinke ich eine Menge Wein.

Ich stoße die Luft aus und hebe den Blick zur Glasdecke. Bemerke, dass weitere Wolken von Norden herandrängen, ihre bauschigen Formen erhellt vom einsamen Mond.

Wahrscheinlich fallen heute gute dreißig Zentimeter Schnee über Hohenläuten. Es würde mich nicht überraschen, wären morgen alle Fenster im Atrium vollkommen von weißem Puder und dickem Eis bedeckt, der Himmel erneut vor meinen Blicken verborgen.

Der Silberstreif? Im Moment habe ich immer noch diesen einzelnen Stern, der in die Nacht hinausspäht.

Ich erinnere mich, wie mir meine Mutter als Kind erklärt hat, die Sterne wären Göttinnen, die darauf warten, aus dem Licht zu schlüpfen. Eine hübsche Geschichte für ein kleines Mädchen, das ihre Familie und ihr Zuhause auf einen grausamen Schlag verlieren sollte.

Mit fünf Jahren, in einer klaren, sternenhellen Nacht, wurde ich hastig aus meinem Bett geholt. Im Gänsemarsch wurden wir weggeführt, ich und die anderen Kinder aus der Umgebung, während um uns herum Kampfgeräusche erklangen. Wir schlichen durch die warme Abendluft; versuchten, inmitten der Gefahr irgendwo Schutz zu finden. Ich habe geweint, als meine Eltern mich zum Abschied küssten. Aber sie haben gesagt, ich solle gehen. Solle tapfer sein. Dass sie mich bald wiedersehen würden.

Ein Befehl. Ein Drängen. Eine Lüge.

Jemand musste gewusst haben, dass man uns wegbringen wollte. Jemand musste uns verraten haben. Denn unsere heimliche Flucht führte uns nicht in Sicherheit. Stattdessen stürzten sich Räuber aus den Schatten auf uns, noch ehe wir auch nur die Stadt verlassen konnten; als hätten sie auf uns gewartet. Blut ergoss sich auf den Boden, als unsere Begleiter niedergestreckt wurden. Heiße Flüssigkeit spritzte auf kleine, entsetzte Gesichter. Die Erinnerung daran lässt noch immer meine Augen brennen. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich in einem Albtraum erwacht war.

Ich versuchte, um Hilfe zu rufen, nach meinen Eltern zu schreien, sie wissen zu lassen, dass hier alles falsch war … aber mir wurde ein Lederknebel in den Mund geschoben, der nach Eichenrinde schmeckte. Ich weinte, während wir geraubt wurden. Tränen flossen. Füße schlurften. Herzschlag stockte. Mein Zuhause verblasste. Es gab Schreie und metallisches Klirren und Weinen, aber auch Stille. Die Stille war das schlimmste Geräusch.

Immer wieder schaute ich zu diesen Lichtpunkten am schwarzen Himmel auf, flehte die Göttinnen an, geboren zu werden und zu unserer Rettung zu eilen. Bat sie, mich in mein Bett zurückzubringen, zu meinen Eltern, in Sicherheit.

Sie taten es nicht.

Man sollte meinen, ich würde den Sternen das übel nehmen, aber das ist nicht der Fall. Denn jedes Mal, wenn ich in den Himmel schaue, erinnere ich mich an meine Mutter. Oder zumindest an einen Teil von ihr. Einen Teil, an dem ich mich seit zwanzig Jahren verzweifelt festklammere.

Doch die Erinnerung und die Zeit sind keine Freunde. Sie verabscheuen einander, eilen in verschiedene Richtungen davon, dehnen das Band zwischen sich, bis es zu reißen droht. Sie kämpfen, und wir verlieren zwangsläufig. Erinnerung und Zeit. Man verliert das eine, während man die Richtung des anderen einschlägt.

Ich kann mich nicht entsinnen, wie das Gesicht meiner Mutter aussah. Ich erinnere mich nicht an das Rumpeln der Stimme meines Vaters. Ich kann nicht das Gefühl in mir wachrufen, ihre Arme um mich zu spüren, als sie mich das letzte Mal gehalten haben.

Die Erinnerung ist verblasst.

Dieser einzelne Stern über mir zwinkert mir zu, verschwimmt hinter der Feuchtigkeit, die sich in meinen Augen gesammelt hat. Und schon in der nächsten Sekunde wird mein Stern von wilden Wolken erstickt und vor meinen Blicken verborgen. Ein Stich der Enttäuschung durchfährt mein Herz.

Wenn diese Sterne wirklich Göttinnen sind, die auf ihre Geburt warten, dann sollte ich sie warnen, in der Sicherheit ihres funkelnden Lichtes zu bleiben. Denn hier unten? Hier unten ist das Leben dunkel und einsam, mit lärmenden Glocken und viel zu wenig Wein.