Kapitel 9

I ch nehme mir Zeit für die Frisur, gehe mit sorgfältiger Langsamkeit vor, als könnte ich damit mein Schicksal irgendwie hinauszögern. Ich tue so, als würde meine Zeit nicht ablaufen.

Man kann im Leben eine Menge Dinge vortäuschen. Man kann sich etwas so sehr einreden, dass man anfängt, die eigenen Lügen zu glauben. Wir sind alle Schauspieler; wir stehen auf ausgeleuchteten Podesten und spielen die Rolle, die nötig ist, um den Tag durchzustehen – und um nachts besser schlafen zu können.

Gerade funktioniere ich rein mechanisch; weigere mich, über das nachzudenken, was heute Abend geschehen wird. Aber mein Körper weiß es. Das spüre ich an der Enge in meiner Brust, die mir das Atmen schwer macht.

Ich versuche, mich irgendwie zu beschäftigen; aber eine Frau kann nicht unbegrenzt lang Harfe spielen oder nähen, ehe sie vor Langeweile eingeht.

Irgendwann bin ich so nervös, dass ich anfange, im Kreis durch meinen Käfig zu streifen. Von außen durch das Gitter betrachtet sehe ich wahrscheinlich aus wie ein gereizter Tiger in seinem Gehege.

Der Silberstreif? Die Verbrennung an meiner Hand schmerzt kaum noch. Sie ist nicht mehr als ein schmaler Streifen quer über die Handfläche, wo die Haut etwas heller ist als das normale Gold. Mein Magen tut noch immer weh, aber meiner Kopfhaut geht es gut … solange ich sie nicht berühre.

Ein Blick durch mein einziges Fenster zeigt nichts als einen tosenden Schneesturm, der weiße Flocken gegen die Scheibe treibt. Die Nacht bricht bald an. Ich wünschte, ich könnte die Sonne am Himmel festbinden. Aber Wünsche werden an die Sterne gerichtet, und die kriege ich sowieso kaum je zu sehen.

Fulkes und Midas’ Armeen sollten inzwischen die Grenzen des Vierten Königreichs erreicht haben. Ich könnte in die Bibliothek gehen, um meine Vermutung zu bestätigen … aber das ist wirklich der letzte Ort, an dem ich heute sein will.

Ich halte Midas und Fulke immer noch für verrückt, ausgerechnet in König Ravingers Land einzufallen. Midas bricht damit nicht nur einen jahrhundertealten Friedensvertrag – Ravinger ist auch nicht gerade für seine Freundlichkeit bekannt. Er wird aus gutem Grund König Fäule genannt; und das nicht nur, weil seine Macht die Verwesung und der Tod ist. Man sagt, dass seine Bösartigkeit jeden in seiner Nähe erschaudern lässt.

Sein Land ist eine Heimstätte des Verfalls. Ein Ort, an dem Verruchtheit unter seiner Herrschaft gedeiht. Seine Macht erlaubt es ihm, alles verrotten zu lassen, was er will: Feldfrüchte, Tiere, Ländereien, Menschen … Aber ich glaube, das größte Übel ist seine Grausamkeit.

Ich hoffe, Midas weiß, was er tut. Es ist gefährlich, sich jemanden wie Ravinger zum Feind zu machen. Wenn Midas mit seinem Angriffsplan versagt, wird womöglich all sein Reichtum ihn nicht vor den Konsequenzen schützen können. Und dieser Gedanke macht mir Angst. Manchmal wünschte ich, mein König wäre nicht der tiefen Überzeugung, dass all seine Probleme sich mit Gold lösen lassen.

Für Midas ist Reichtum etwas Selbstverständliches – und wieso sollte er auch nicht so denken? Man muss sich hier nur einmal umsehen: Jede Oberfläche, jeder Gegenstand, alles besteht aus Gold. Er weiß, dass er auf ewig unendlich reich sein wird.

Königin Malina hat mich als prunkvoll und protzig bezeichnet, aber was ist mit dieser gesamten Burg und allem, was sich darin befindet? Die Sohlen ihrer Schuhe bestehen aus goldener Seide – nur für ihre Schweißfüße bestimmt. Die Wände des Kerkers unter der Burg: reines Gold, in dessen Umarmung die Gefangenen sterben. Selbst die Toiletten, in die wir pissen, sind mit Gold überzogen.

Wenn ich eines gelernt habe, dann, dass dieses Übermaß an Reichtum nach einer Weile bedeutungslos wird. Sich leer anfühlt. Man kann alles Gold der Welt haben und trotzdem nichts von echtem Wert besitzen.

Aber vielleicht … vielleicht hasst mich Malina nicht, weil Midas mich bei sich behält, obwohl er mit ihr verheiratet ist. Vielleicht wünscht sich die Königin einfach, er hätte sie goldgeküsst. Wegen der Aussage dahinter. Weil er mich seinen Schatz nennt. Und plötzlich empfinde ich Mitleid für sie. Für ihre kinderlose, lieblose Ehe. Weil sie ihr Königreich verloren hat, noch ehe sie es wirklich besaß. Weil sie mit einem Waisenmädchen konkurrieren muss.

Tief in Gedanken versunken lehne ich mich an die goldenen Gitterstäbe und starre hinaus in den Schneefall. Diese Eifersucht – wenn das wirklich die Wurzel von Malinas Feindseligkeit ist – schwärt seit Jahren vor sich hin. Auf keinen Fall kann ich jetzt noch etwas dagegen tun. Was passiert ist, ist passiert. Die Königin wird mich immer voller Abscheu betrachten. So ist das einfach.

Aber wenn sie eifersüchtig ist, dass Midas nicht sie goldgeküsst hat, dann hat sie etwas grundsätzlich nicht verstanden. Ich werde nicht leugnen, dass es Vorteile hat, goldgeküsst zu sein … aber es hat eben auch Nachteile.

Wenn Menschen mich anschauen, dann sehen sie nur den goldenen Schimmer meiner Haut. Haarsträhnen aus massivem Gold. Abgesehen vom Weiß meiner Augen und Zähne bin ich für alle nur eine goldene Statue. Ein Gegenstand, den man sehen, aber nicht hören soll.

Eine Ware, die man für eine Nacht kaufen kann.

Meine Schlafzimmertür schwingt so plötzlich auf, dass ich vom Fenster zurückzucke. Ich wende mich um und sehe, wie eine Magd sich Digby nähert, der immer noch in Habachtstellung an der Wand steht. Wachsam beobachte ich, wie sie ihm etwas zuflüstert.

Sobald sie wieder verschwunden ist, gehe ich rüber zu ihm ans andere Ende meines Käfigs. «Was ist los?»

Digby deutet auf das Kleid, das immer noch am Gitter hängt. «Es wird Zeit.»

Mein Magen scheint in dünne Splitter zu zerbrechen, die bis in meine Füße sinken.

«Schon?», frage ich und erkenne fast meine eigene Stimme nicht wieder. Sie klingt ängstlich und schwach, als wäre ich ein kleines Mäuschen. Aber heute Nacht kann ich es mir nicht leisten, eine Maus zu sein. Ich muss stark sein.

Digby nickt. Ich atme tief durch und puste damit eine Haarsträhne aus meinem Gesicht, dann schlucke ich schwer, um meine Nervosität zu zügeln und tief in mir zu vergraben.

Mit klopfendem Herzen ziehe ich das durchsichtige Kleid von seinem Bügel und wandere steif hinüber ins Umkleidezimmer. Vor dem zerbrochenen Spiegel streife ich den einfachen Morgenmantel ab und schlüpfe in das Kleid. Meine Bänder erledigen die ganze Arbeit. Meine Arme dagegen bewegen sich abgehakt. Und meine Miene ist versteinert.

Als schließlich alles sitzt, wie es soll, mustere ich mich im Spiegel. Ich muss mich zwingen, nicht zusammenzuzucken. Wie ich befürchtet habe, ist der Stoff so dünn, dass jede meiner Kurven zu sehen ist, sogar eine Andeutung meiner dunklen Brustwarzen.

Das Kleid hat durchsichtige Ärmel aus wogender, goldener Spitze und wird von zwei Spangen an den Schultern zusammengehalten. Es fällt in weichen Falten über meine Brüste, der Ausschnitt so tief, dass der obere Rand der Prellung an meinem Bauch zu erkennen ist.

Und der Rock … Die Schlitze an den Seiten reichen von meinen Zehen bis zu den Hüften. Egal, aus welcher Richtung man mich auch betrachtet, man bekommt immer nacktes Fleisch zu sehen. Das gesamte Kleid fällt so locker, dass jeder eine Hand unter den Stoff schieben und mich an intimen Stellen berühren könnte.

Niemals zuvor hat Midas mich so kleiden lassen. Sicher, ich trage oft sinnliche Kleider, die meine Kurven betonen, doch sie waren noch nie so freizügig. Mein Körper ist in erster Linie Privateigentum. Nur mein König hat das Recht, ihn zu genießen. Doch zum ersten Mal in meinem Leben bin ich gekleidet wie ein echter königlicher Sattel, bereit, geritten zu werden.

Ich spüre den Moment, an dem das Tageslicht komplett vergeht, denn sofort breitet sich ein Kältehauch aus. Ich sehe hinauf zum Oberlicht und erkenne, dass die Dunkelheit bereits hereinbricht. Beklommene Leere erfüllt mich. Der Anbruch der Nacht macht mir eine Gänsehaut.

Benimm dich heute Abend.

Ein Souvenir, das er zur Schau stellt.

Setz dich schön hin.

Überlass den Männern das Reden.

Ich beiße die Zähne zusammen, und wütender Trotz steigt in mir auf. Midas will, dass ich dieses Ding trage? Schön. Aber er hat nie gesagt, dass ich nicht kreativ werden darf!

Meine Bänder heben sich zusammen mit meinem Widerspruchsgeist, und ich mache mich an die Arbeit.

Ein paar Minuten lang bin ich mit Wickeln, Ziehen und Binden beschäftigt, bis ich schließlich mit dem Ergebnis zufrieden bin. Meine goldenen Bänder schmiegen sich jetzt in einem komplizierten Muster um meinen Oberkörper, bedecken meine Brüste und umschließen auch meine Taille. Die Enden der restlichen Bänder hängen über meinem Rock herab.

Ich bin immer noch entblößter, als mir lieb ist, aber so ist es viel besser. Meine Bänder raffen alles zusammen und bedecken die intimsten Stellen. Trotzdem muss ich mich vorsichtig bewegen, weil die Bänder an meiner Taille die seitlichen Schlitze nicht komplett schließen können, aber zumindest fühle ich mich nicht mehr nackt.

Mein Haar ist bereits geflochten, mit nur vereinzelten lockeren Strähnen am Hinterkopf, also lasse ich meine Kopfhaut in Ruhe. Ich höre Stimmen aus dem Schlafzimmer und weiß, dass weitere Wachen eingetroffen sind, um mich nach unten zu eskortieren.

Eigentlich müsste ich vor Hunger sterben, weil ich den ganzen Tag nichts gegessen habe. Aber selbst wenn ich etwas gewollt hätte – mein Magen hätte es nicht vertragen. Als ich höre, wie Digby meinen Namen ruft, schiebe ich die Füße in Schuhe aus Satin und straffe mich.

Sei keine Maus, Auren.

Ich gehe in mein Schlafzimmer und trete der Gruppe von Wachen entgegen, die als meine Eskorte auf der anderen Seite der Gitterstäbe bereitstehen. Seit Monaten habe ich meine Räumlichkeiten nicht mehr verlassen. Midas lässt mich nicht oft aus meinem Käfig, dafür ist er zu besitzergreifend. Wenn es doch einmal geschieht, speise ich für gewöhnlich nur mit ihm zu Abend, weil er meine Gesellschaft vermisst. Oder ich stehe im Thronsaal hinter ihm, um Würdenträger aus anderen Königreichen zu beeindrucken.

Jemand reicht Digby einen Schlüssel – massives Eisen, schwarz wie Kohle. Er wird ins Schloss geschoben. Irgendwie ironisch, dass der Schlüssel die einzige Sache ist, die nicht aus Gold besteht.

Das metallische Knirschen des Schlüssels dringt schrecklich laut in meine Ohren und scheucht Hunderte von flatternden Glühwürmchen in meinem Schädel auf.

Digby zieht die Tür auf. Die anderen Soldaten treten zur Seite, achten unter dem wachsamen Blick meines treuen Beschützers darauf, mir nicht zu nahe zu kommen. Sie wissen, dass Digby bei einer falschen Bewegung den König informieren wird. Und das will keiner von ihnen.

Ich trete durch die weit geöffnete Tür – wie ein Rippenbogen an einem Scharnier, zur Seite geklappt, um das Herz herauszunehmen.

Meine Bänder gleiten nicht wie üblich hinter mir über den Boden. Es fühlt sich tröstlich an, wie sie fest um meinen Oberkörper geschlungen sind, wie ein zusätzliches Knochengerüst. Langsam bewege ich mich aus dem Schlafzimmer, auf beiden Seiten flankiert von Wachen.

Meine Schritte klingen einsam, obwohl vier Paar Füße mich begleiten. Selbst das leise Rascheln meiner Schuhe auf den polierten Böden erfüllt mich mit Grauen und raubt mir den Atem.

Du vertraust mir, oder?

Sollte ich das nicht immer tun?

Natürlich.

Diese Antwort ist alles, was ich habe. Ich muss ihm vertrauen.

Aber ich werde keine Maus sein.