Kapitel 13

F ür einen Atemzug sind alle wie erstarrt. Schockiertes Schweigen erfüllt nach den Worten des Boten den Raum.

Dann schließen beide Kontingente von Wachen die Reihen um ihren jeweiligen König.

König Fulke runzelt verwirrt die Stirn. «Du irrst dich, Soldat», sagt er.

«Das tut er nicht.»

Die tolldreiste Erklärung stammt von Midas selbst. Mein Blick wandert sofort zu ihm, doch er fixiert Fulke, erfüllt von selbstzufriedener Arroganz. Fulkes Miene wechselt von Verwirrung zu Entsetzen und schließlich zu Zorn, als die Welt sich mit einem Beben verschiebt.

«Du hast mich verraten ?», fragt Fulke, seine Stimme scharf wie ein Peitschenschlag.

Seine Wachen packen ihre Schwerter fester, purpurne Hefte mit dem königlichen Siegel aus gezackten Eiszapfen auf dem Griff. Noch vor wenigen Minuten haben diese Männer gemeinsam getrunken und gelacht. Jetzt mustern sie sich angespannt.

Aus Verbündeten sind Feinde geworden.

«Das wird deine letzte Lektion im Leben sein, Fulke», antwortet Midas ruhig. Er wirkt nicht im Mindesten beunruhigt, trotz der tödlichen Bedrohung im Raum. «Wahre Könige verschachern ihre Armeen nicht für eine Fotze.»

Ich weiß nicht, wer schockierter wirkt – Fulke oder ich selbst.

Der Herrscher des Fünften Königreichs mustert Midas eingehend, als sähe er ihn zum ersten Mal klar vor sich; als wäre er nicht länger geblendet vom Glanz des Goldes, den unermesslichen Reichtümern. «Du hattest nie vor, das Vierte Königreich einzunehmen», sagt er ausdruckslos, als ihm schließlich die Erkenntnis kommt.

Midas lacht. Er lacht den anderen König tatsächlich aus. «Natürlich nicht. Alle wissen, dass man das Vierte Königreich besser nicht angreift. König Ravinger vernichtet jeden, der das wagt.»

Blanker Hass zeigt sich auf den Gesichtern von Fulkes Wachen. Ihre Brauen ziehen sich zusammen, ihre Augen blitzen.

Als ich begreife, von wie langer Hand Midas das alles geplant hat, steigt Entsetzen in mir auf. Er hat das Verhältnis zu Fulke seit Jahren kultiviert. Hat ihn mit Reichtümern verführt und seine Schatzkammern gefüllt. Und Fulke hat sich begierig und glücklich umwerben lassen.

Eine Frage hat mich immer umgetrieben: Was hat Midas bloß davon? Aber jetzt weiß ich, dass Midas nie vorhatte, Fulke reich zu machen. Er hat das Fünfte Königreich wie eine ausgelagerte Schatzkammer behandelt. Fulke hat das Gold einfach nur für ihn umgeschichtet, während Midas auf den richtigen Zeitpunkt zum Zuschlagen gewartet hat.

Das Vorgehen ist brillant. Es ist brutal. Und es steht ohne jeden Zweifel fest, dass nur ein König diese Schreibstube lebend verlassen wird.

Fulkes Lippen werden schmal, und ein Schweißtropfen glänzt auf seiner linken Schläfe, als er nickt – vielleicht verstehend, vielleicht resigniert. Er zeigt keine Angst, starrt Midas nur kühl an, als alle Puzzlestücke ihren Platz finden. «Deine Armee ist nicht zum Vierten Königreich gezogen. Du hast gelogen und meine Soldaten ausgeschickt, um sie abschlachten zu lassen, damit du in mein Königreich einmarschieren kannst.»

Midas’ Augen leuchten zufrieden. In Fulkes Blick erkenne ich nichts als Hass.

Aus Verbündeten sind Todfeinde geworden.

Der Schweißtropfen rinnt über Fulkes Schläfe nach unten, zieht eine unsichtbare Grenze über sein Gesicht … wie die, die Midas übertreten hat.

Es gibt keine Vorwarnung. Ich weiß nicht, welcher König zuerst den Befehl zum Angriff gibt. Ich weiß nur, dass plötzlich ein Kampf ausbricht.

Irgendwer stößt mich zu Boden, bevor ich auch nur blinzeln kann. Ich schlage hart auf. Mein Atem stockt für einen Moment, weil nur ein Webteppich meinen Sturz abfedert.

Purpur und Gold treffen aufeinander, in einer Explosion aus metallischem Klirren.

Als Nächstes folgt Rot, in warmen Spritzern.

Ich höre abgehackte Schreie. Höre, wie Schwerter mit harten Schlägen aufeinandertreffen. Der plötzliche Gewaltausbruch schockiert mich, weckt Erinnerungen, lässt meine Vergangenheit und meine Gegenwart aufeinanderprallen.

Der Kampf tobt zu nah und zu laut. Ich liege auf den Boden gepresst, wie ich es auch an jenem anderen Tag tat, bei einem anderen Gefecht.

Ein Kampf unter einem gelblichen Mond, geformt wie ein Fingernagel, der am Himmel kratzt. Das war vor zehn Jahren, als Plünderer in das Dorf eingedrungen sind, in dem ich lebte. Plünderer, die taten, was sie eben tun – rauben. Sie raubten alles, was ihnen nicht gehörte. Geld, Vieh, Getreide – Frauen.

Das Klirren der Schwerter ergibt eine scheußliche Melodie. Sie erinnert mich an ein Kneipenlied, das ich mal auf meiner Harfe gespielt habe.

Sie plündern die Dörfer,

verbrennen das Land.

Kein Kampf für den König,

nur für Gold in der Hand.

Der alberne Text hallt in meinem Kopf wider, und ich presse mir die Hände auf die Ohren. Ich taumele zwischen damals und jetzt hin und her, zwischen hier und dort. Langsam schiebe ich mich rückwärts auf die nächste Wand zu. Wenn ich nur den Kopf unten halte und die Wand erreichen kann, dann ist die Tür nicht mehr weit. Und wenn ich die Tür erreicht habe, kann ich …

Ein Körper fällt auf mich, und mein Kinn knallt so hart auf den Boden, dass ich Sterne sehe. Stöhnend kämpfe ich darum, das drückende Gewicht von mir herunterzuwälzen – und muss feststellen, dass der gestürzte Mann sehr, sehr tot ist.

Bevor ich ganz begriffen habe, dass sein Körper keinen Kopf mehr besitzt, werde ich plötzlich auf die Beine gezerrt. Meine Ohren klingeln, und ich höre immer noch dieses dumme Lied – da presst jemand eine Klinge an meine Kehle.

«Du verdammter Bastard!», schreit König Fulke neben meinem Ohr und schüttelt mich leicht.

Ich wimmere, als seine fahrigen Bewegungen die Klinge in meine Haut treiben. Fulkes Hände zittern, und ich spüre, wie ein dünner Schnitt an meinem Hals aufklafft. «Du hältst dich ja für so klug. Du willst mich umbringen?», knurrt er. «Dann nehme ich deine vergoldete Hure mit.»

Es ist ein unwirkliches Gefühl, den Hauch des Todes im Nacken zu spüren. In diesem Fall ist Fulke der Tod, und sein heißer Atem rinnt über meine Wirbelsäule wie vergossener Wein, der meine Haut mit klammer Furcht überzieht. Er hält den Griff des Dolches mit solcher Kraft umfasst, dass die Klinge bebt und sich tiefer in meine Haut gräbt, mich bluten lässt.

Acht Männer liegen auf dem Boden verstreut oder zusammengesackt über den Tischen. Rotes Leben sammelt sich in Pfützen unter ihren Körpern, fließt aus klaffenden Wunden. Ich starre die Pfützen an. Es sieht aus, als wäre es nur rote Farbe. Alles wirkt wie ein Albtraum, unterlegt von einer makabren Melodie in meinem Kopf.

Aber es ist kein Traum.

Fulkes Männer sind allesamt tot, auch der Soldat, zusammen mit drei von Midas’ Wachen.

Zwei verbliebene Wächter flankieren Midas mit schützend erhobenen Schwertern, die scharfen, goldenen Klingen scharlachrot verfärbt. Draußen heult der Wind, schleudert Hagelkörner gegen das Fensterglas.

Midas mustert mich mit völlig ausdruckslosen Augen. Meine sind wahrscheinlich weit aufgerissen vor Entsetzen – Entsetzen und Schrecken.

Dann presse ich die Augen zu, weil ich nicht sehen will, was als Nächstes geschieht. Ich will nicht ihre Reaktionen sehen, wenn mir gleich die Kehle aufgeschlitzt wird.

Ich werde sterben.

Sobald meine Lider geschlossen sind, presst sich die Klinge fester gegen meine Haut, als wolle sie mich jagen, um Fulkes Todesdrohung wahr zu machen. Ich schnappe ein letztes Mal nach Luft und halte den Atem an. Wappne mich, kämpfe darum, diesen letzten kostbaren Atemzug nicht freizugeben.

Doch bevor die scharfe Klinge tiefer schneiden kann, zuckt Fulkes Körper hinter mir. Ich werde am Arm zur Seite gezerrt. Der König fällt neben mir zu Boden und windet sich heftig vor meinen Füßen. Mein entsetzter Blick entdeckt das Schwert, das ihm den Rücken durchbohrt hat und nun aus seiner Brust hervorschaut.

Ich fahre herum und entdecke Digby. Digby! Ich hatte vergessen, dass er auch hier war … Er hält mich mit festem Griff am Arm. Blutspritzer bedecken sein Gesicht, und die Schwertscheide an seinem Gürtel ist leer.

Ein schreckliches Gurgeln lässt mich wieder zu Fulke schauen. Er hebt die Hände und betastet das Schwert, das aus seiner Brust ragt. Sein Mund öffnet und schließt sich, ohne dass ein Laut hervordringt, seine Lippen blutig. Er packt die Klinge und umklammert sie fest, schlitzt sich selbst dabei die Handflächen auf, als könne er das Metall irgendwie erwürgen.

Und so stirbt er, beide Hände um die goldene Waffe geschlossen, mit verzerrten Lippen, auf denen ein Fluch zu kleben scheint – ein Fluch, der uns alle in die Hölle schicken soll.

Midas steht mit seinen beiden Wachen am anderen Ende des Raums. Alle Augen sind auf König Fulke gerichtet, als sein Brustkorb sich mit einem letzten, gurgelnden Ausatmen senkt. Mein Blick saugt sich daran fest, an dem dunkelroten Blut, das aus der Wunde dringt, langsam wie Sirup.

Zuerst fange ich an zu zittern. Dann folgt das verschwommene Sichtfeld.

Mein Herzschlag pocht heftig in meinen Schläfen, mit einem Dang, dang, dang  – oder ist das der Hagel am Fenster?

Ich fahre herum und vergrabe das Gesicht an Digbys Kragen. Mir ist vollkommen egal, wie unbequem das wegen seiner Rüstung ist. Ich klammere mich trotzdem an ihm fest. Mein gesamter Körper zittert.

«Danke, danke, danke», murmele ich immer wieder an seiner Brust. Er hat mich gerettet. Mein ruhiger, stoischer Wächter hat einen König getötet, um mein Leben zu retten.

Ich höre Stimmen – die von Midas, von einem der Wächter, vielleicht auch die von Digby. Doch ich kann nicht verstehen, was sie sagen, weil ich mich nicht genug konzentrieren kann, um den Worten zu lauschen.

Ich schwanke leicht, und schwarze Punkte tanzen vor meinen Augen. Mehr Stimmen. Mehr trommelnder Hagel. In meinem Kopf höre ich immer noch dieses Lied.

«Bring sie in ihre Gemächer», sagt Midas – aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein.

Digbys Hände verlagern ihren Griff, dann hebt er mich hoch. Mein Gesicht bleibt an seinen Brustpanzer gepresst.

«Du hast Blut auf dir. Ich habe Blut auf mir.» Meine Stimme klingt, als käme sie von weit entfernt. Schwach. Dieses Blut ist doch vollkommen egal. Keine Ahnung, warum ich es überhaupt anspreche.

Er trägt mich davon und dann nach oben.

«Ich brauche einen Silberstreif», murmele ich.

Der Silberstreif. Ich muss den Silberstreif finden, um mich zu erden. Um nicht komplett zu zerbrechen.

Silberstreif … Silberstreif: Ich wurde nicht vergewaltigt oder ermordet.

Große Göttlichkeit, was für ein entsetzlicher Silberstreif.

Digby schweigt. Er macht mir keine Vorschläge für den Silberstreif. Nicht, dass ich das erwartet hätte. Doch aus irgendeinem Grund beruhigt mich das Geräusch seiner festen Schritte, auch wenn meine Gedanken rasen und die schwarzen Punkte immer dichter vor meinen Augen tanzen. «Du hast einen König für mich getötet, Digby», murmele ich.

Er brummt nur.

Ich schließe für einen Moment die Augen, eingelullt vom regelmäßigen Schwanken seines Gangs. Gefühlt sind lediglich ein paar Sekunden vergangen, als ich die Lider wieder öffne – nur um festzustellen, dass wir uns bereits im obersten Stockwerk der Burg befinden, in meinem Schlafzimmer. Digby legt mich gerade auf mein Bett.

Ich setze mich auf, stemme die Hände auf die Matratze, vergrabe die Finger im Laken. Mit einem letzten Blick über die Schulter wendet Digby sich ab und verschwindet mit leisen Schritten. Meine Käfigtür klickt sanft, als er mich allein zurücklässt, mit den brennenden Kerzen als einziger Gesellschaft.

Ich sollte heute Nacht von einem König vergewaltigt werden.

Aber dieser König wurde getötet. Eine Klinge hat nur wenige Zentimeter von mir entfernt seinen Körper durchbohrt. Sein Blut hat meine Schuhe getränkt. Ich kann noch immer seinen heißen Atem in meinem Nacken spüren. Die Geschehnisse dieses Abends erdrücken mich, stürmen von allen Seiten auf mich ein. Alles, was passiert ist, drängt sich in meinen Geist. Er wiederholt das Geschehen immer wieder in meinem Kopf, versucht, es auseinanderzunehmen und zu begreifen.

Wieder und wieder zeigt mein Gehirn mir, was passiert ist – seit ich heute Morgen aufgestanden bin bis zum jetzigen Moment.

So sitze ich lange Zeit da, denke nach, lausche auf den Hagel und den Wind. Ich frage mich, ob ich in einem früheren Leben etwas getan habe, das die Göttinnen gegen mich aufgebracht hat. Oder ob ich hier, im Sechsten Königreich, unter dieser ewigen Wolkendecke so gut verborgen bin, dass die Sterne mich einfach nicht sehen können.

Eine volle Stunde sitze ich so da und grüble über diese Frage nach. Mit dem Blut eines toten Königs an meinen Schuhen und einer schmalen Wunde an meiner Kehle.