Kapitel 17

D ie Nachricht von dem Wagenzug, der durch die Stadt kommt, verbreitet sich schnell. Bald schon drängen sich die Leute in fünf oder sechs Reihen an der Straße. Sie winken uns mit aufgeregten Rufen zu, fragen sich, wer da in der Gruppe reist, auf welche bedeutende Persönlichkeit sie vielleicht einen Blick erhaschen werden. Ich halte den Kopf gesenkt, die behandschuhten Hände an den Zügeln. Wage nicht aufzublicken, weil meine Kapuze verrutschen könnte.

Die Wachen vor uns räumen den Weg frei, doch unser Zug bewegt sich jetzt viel langsamer. Ständig müssen sie Leute zur Seite drängen, um Platz für die Kutschen zu schaffen.

Nach einer Weile biegen wir von der gepflasterten Straße ab und entfernen uns von der versammelten Menge, dringen tiefer ins Herz von Niederläuten vor. Ich seufze leise auf, als wir nicht länger von Dutzenden neugierigen Gaffern beäugt werden. Meine Hände entspannen sich an den Zügeln, doch meine Erleichterung ist nur von kurzer Dauer.

Je weiter wir vorankommen, desto armseliger wird die Umgebung. Direkt vor meinen Augen verwandelt sich Niederläuten von einer schönen, sauberen Stadt in ein trostloses Elendsviertel mit engen Gassen.

Ich achte genau auf die Veränderungen und bemerke, dass selbst die Geräusche hier gedämpft klingen, ohne die Lebensfreude, die auf der Hauptstraße zu spüren war. Hier gibt es nur weinende Babys, brüllende Männer, knallende Türen.

«Normalerweise wären wir auf der Hauptstraße geblieben, aber wir wollen ja ins Fünfte Königreich, da ist die südliche Straße der schnellste Weg aus der Stadt», murmelt Segl. Er und Digby reiten nun viel dichter neben mir auf der engen, festgetretenen Straße.

Die Gebäude ringsum bestehen nicht länger aus festem Stein, sondern sind aus Holz errichtet, und das nicht gerade solide. Manche stehen schief, andere sacken vor Alter bereits in sich zusammen, als würden sich Schnee und Wind schon seit Jahren mit schwerem Gewicht auf sie legen. Die Natur siegt über den Menschen.

Selbst die Pechkiefern wirken hier rauer. Ihre Borke ist von Rissen durchzogen und aufgeplatzt, die Äste sind halb kahl.

Die Laternen entlang der Straße werden weniger und stehen immer weiter voneinander entfernt, bis sie schließlich ganz verschwinden. Der ungepflasterte Weg verwandelt sich in weichen, eisverkrusteten Schlamm, der von den Hufen der Pferde aufgeworfen wird.

Und dann erst der Gestank … Die Luft riecht nicht länger frisch, sauber und frei. Stattdessen wird sie zwischen den windschiefen Gebäuden gefangen gehalten, so durchtränkt von Schweiß und Pisse, dass meine Augen tränen.

«Wo sind wir hier?», frage ich, während ich meinen Blick über diesen heruntergekommenen, deprimierenden Teil der Stadt schweifen lasse.

«In den Baracken», erwidert Segl.

Mehr Babys schreien, mehr Leute streiten sich lautstark. Schatten huschen durch enge Gassen, und streunende Hunde schnüffeln an den Ecken, die Rippen treten deutlich unter ihrem räudigen, eisverklebten Fell hervor.

Niederläuten wirkt plötzlich gar nicht mehr so pittoresk.

«Wie lange ist es hier schon so?», frage ich, unfähig, den Blick abzuwenden.

«Es war schon immer so», antwortet Segl mit einem Achselzucken. «Ich selbst stamme von der Ostseite. Dort ist alles etwas geräumiger, aber … sonst auch nicht anders als hier», gibt er zu.

Kopfschüttelnd mustere ich die Pfützen auf dem Boden. Ich weiß, dass sie nicht vom Regen stammen, sondern von den Eimern mit Unrat, welche die Leute aus den Fenstern kippen.

«Aber … Midas hat doch so viel Gold», meine ich verwirrt.

Vermutlich bin ich naiv, aber ich war davon ausgegangen, dass seit Midas’ Krönung – seit der steinerne Palast in pures Gold verwandelt wurde – auch die gesamte Stadt Niederläuten wohlhabend geworden ist.

Mir war nicht mal der Gedanke gekommen, dass manche von Midas’ Untertanen arm sein könnten, gleich hier in der Stadt. Wieso auch? Er hat genug Mittel, alle gut zu bezahlen – ganz egal, was sie auch arbeiten. Es herrscht kein Mangel an Gold. Warum also leben seine Untertanen in solchem Elend?

«Gewiss verwendet er sein Gold für andere Dinge, Milady», sagt Segl, und ich bemerke, dass er den Blick für einen Moment auf seinen goldenen Brustpanzer senkt. Und mir entgehen auch nicht die Schuldgefühle in seinen blauen Augen, als er sich umsieht.

Er ist in höchster Alarmbereitschaft, genau wie alle anderen Wachen auch. Sie scheinen halb mit einem Angriff von Banditen zu rechnen. Und ich zweifele nicht daran, dass das in dieser Umgebung möglich wäre. Manche der Leute hier wirken verzweifelt genug, um solch einen Überfall zu wagen.

Einige Wächter ziehen ihre Schwerter blank, eine offene Drohung an die armseligen Menschen, an denen wir vorbeireiten … In diesem Moment presst etwas in meiner Brust gegen mein Herz, so hart und heftig, dass es schmerzt.

Ich sehe, wie Kinder hinter leeren Kisten voller Müll hervorspähen, wie sie uns mit ihren großen Augen folgen. Ihre Kleidung besteht nur aus Lumpen, ihre Gesichter sind ausgezehrt, die Wangen von kaltem Schlamm verkrustet … Der Druck auf mein Herz wird heftiger, der Schmerz fast unerträglich.

Ich zerre an den Zügeln und bringe Knusper neben der Kutsche zum Stehen. «Milady!», ruft Segl. Ich höre, wie Digby erneut einen Fluch ausstößt, als ich von Knuspers Rücken springe und härter aufkomme als beabsichtigt. Fast wäre ich im eisigen Schlamm ausgerutscht, aber ich kann mich an der Kutsche abstützen. Sie rollt noch immer, als ich die Tür aufreiße, hält aber ruckelnd an, während ich mich ins Innere lehne.

«Milady, wir dürfen hier nicht verweilen!», ruft Segl in meinem Rücken, aber ich ignoriere ihn. Stattdessen hebe ich den samtbezogenen Sitz der Kutsche an und wühle in meinen Sachen.

«Steigt wieder auf Euer Pferd!», knurrt Digby. Ich suche verzweifelt, schaufele Schals und Ersatz-Handschuhe beiseite, halte Ausschau nach …

«Hab’s gefunden.»

Ich ziehe mich aus der Kutsche zurück und springe wieder auf den Boden. Unser Halt mitten auf der Straße hat dafür gesorgt, dass wir von überall neugierig beäugt werden, während sich ringsum dunkle Silhouetten sammeln.

«Steigt wieder auf Euer Pferd!», befiehlt Digby nachdrücklich.

«Eine Sekunde.» Ich sehe ihn nicht an, bin zu sehr damit beschäftigt, meinen Blick suchend über die Straße schweifen zu lassen.

Da. Auf der anderen Straßenseite hat sich eine Gruppe von ihnen an einem Brunnen zusammengekauert. Löchrige Eimer und gerissene Seile liegen um die jämmerliche Wasserquelle verstreut.

Ich gehe hinüber. Einige Wachen schimpfen, während die Sättel in den anderen Kutschen wissen wollen, warum wir angehalten haben. Ich höre das unverwechselbare Geräusch von jemandem, der von seinem Pferd springt, um mir mit entschlossenen, sicheren Schritten zu folgen.

Aber ich halte nicht an, gehe direkt auf die Gruppe Kinder zu. Sie sind sehr schreckhaft. Sobald sie mich kommen sehen, huschen zwei von ihnen davon und verschwinden in der Dunkelheit. Vielleicht liegt es auch an der Wache hinter mir. Doch die kleinste Gestalt, ein Mädchen von vielleicht vier Jahren, läuft nicht weg. Sie bleibt ganz vorne stehen und beobachtet, wie ich mich vor ihr hinknie.

Insgesamt sind es zwölf Kinder – die beiden nicht mitgerechnet, die geflohen sind –, und alle sind zu dünn, zu schmutzig. Und ihre Augen … ihre Augen wirken zu alt für ihre wenigen Lebensjahre. Ihre Schultern hängen auf eine Weise herab, wie es bei Kindern niemals der Fall sein sollte.

«Wie heißt du?»

Sie antwortet mir nicht. Doch ihr Blick huscht über mein Gesicht, als könnte sie das Schimmern meiner Haut unter der Kapuze sehen.

«Bist du eine Prinzessin?», fragt ein älteres Mädchen.

Ich schüttele lächelnd den Kopf. «Nein. Du vielleicht?»

Die Kinder schnauben abfällig und tauschen Blicke. «Prinzessinnen leben nicht in den Baracken.»

Ich schenke ihr ein verschwörerisches Lächeln und schiebe meine Kapuze nach hinten. «Prinzessinnen, die im Verborgenen leben, tun das vielleicht doch.»

Ein Haufen Kinder starrt mich mit offenen Mündern an. «Du bist das goldene Mädchen! Das goldene Mädchen, das der König hat.»

Ich will gerade antworten, als Digby sich zwischen uns schiebt, sämtliche Muskeln angespannt. «Zeit zum Aufbruch.»

Ich nicke und stehe auf. Doch zuvor versenke ich meine Hand in der Samtbörse. «Na gut, meine geheimen Prinzen und Prinzessinnen. Streckt die Hände aus.»

Sie merken, was ich vorhabe. Alle strecken mir eifrig die offenen Handflächen entgegen, drängeln sich dabei gegenseitig zur Seite. «Nicht schubsen», sage ich mahnend.

Nacheinander lege ich in jede Hand eine Münze. Sie laufen davon, kaum dass ihre dreckigen Finger sich darum geschlossen haben. Das überrascht mich nicht und verletzt mich auch nicht. Wenn man auf der Straße lebt, hält man sich nicht lange auf. Besonders nicht, wenn man Geld oder etwas zum Essen in den Händen hält. Schließlich braucht es nur eine Begegnung mit jemandem, der größer oder gemeiner ist, um alles zu verlieren.

Als ich zu dem stummen, kleinen Mädchen in der ersten Reihe komme, drücke ich ihr die Börse in die Hand, in der sich noch drei Münzen befinden. Ihre Augen werden groß. Als wüsste ihr Körper, was das bedeuten könnte, knurrt ihr Magen in diesem Moment laut genug, um den streunenden Hunden Konkurrenz zu machen.

Ich lege einen Finger auf die Lippen. «Eine zum Ausgeben, eine zum Verstecken und eine zum Verschenken», flüstere ich.

Ein Risiko. Es ist ein Risiko, ihr so viel Geld zu geben. Zur Hölle, es ist riskant, diesen Kindern überhaupt etwas zu geben. Aber ich muss darauf hoffen, dass sie gerissen genug ist. Klug genug, um auf sich aufzupassen. Das Mädchen nickt mir ernst zu, dann dreht es sich um und rennt davon, so schnell sie ihre kleinen Füße tragen. Braves Kind.

«In die Kutsche. Sofort.»

Ich richte mich auf und wende mich meinem Wächter zu. Digby trägt seine Wut im Gesicht, wie andere Leute einen Mantel tragen – schwer und dunkel. Ich öffne den Mund, um ihn aufzuziehen oder einen cleveren Kommentar abzugeben – und schließe ihn abrupt wieder. Erst jetzt bemerke ich, dass sämtliche Wachen ihre Schwerter gezogen haben und die Leute in Schach halten, die sich nun auf der Straße sammeln. Sie haben beobachtet, wie ich ganz offen goldene Münzen verteilt habe, genug Geld, um dafür zu kämpfen. Und dafür zu töten.

Die zerlumpten, hungrigen, verzweifelt wirkenden Männer und Frauen wagen es, näher heranzudrängen. Die Blicke huschen über die vergoldeten Beschläge der Kutschen, die prachtvollen Rüstungen der Wachen – wahrscheinlich malen sie sich aus, wie viel sie von einem einzigen Stück kaufen könnten.

Und dann fallen ihre Blicke auf mich. Auf mein Haar, mein Gesicht. Zu spät wird mir klar, dass ich die Kapuze nicht wieder aufgesetzt habe.

«Die Favoritin des Königs!»

«Das ist die goldgeküsste Frau.»

«Midas’ vergoldete Hure!»

Sie kommen immer näher, obwohl die Wachen Warnungen rufen. Schuldgefühle und Sorge vermischen sich in meiner Magengrube. Dumm. Das war einfach nur dumm.

Anspannung knistert in der Luft, als könnten die Leute gleich nicht mehr an sich halten – und sich entscheiden, das Risiko einzugehen und die bewaffneten Soldaten anzugreifen. Für die Chance, einen Anteil von Midas’ Gold zu erringen.

Digby packt mich am Arm und stößt mich leicht an. «Los!»

Eilig folge ich Digbys Befehl und laufe zur Kutsche. Hinter mir wird das Stimmengemurmel lauter und lauter, und die Leute drängen noch dichter heran.

Und dann, kurz bevor ich die Kutsche erreiche, springt einer von ihnen vor und stürmt auf mich zu! Ich kreische auf, und er schreit mir ins Gesicht, dass er etwas von meinem goldenen Haar haben will, die Hände ausgestreckt wie die Krallen eines Falken, der seine Beute packt.

Digby ist sofort da, schiebt sich zwischen mich und den rasenden Mann. Er rammt ihm geschickt die Schulter in den Bauch, schleudert den Mann in eine halb gefrorene Pfütze.

«Alle zurück!», grollt Digby und zeigt mit der Schwertspitze warnend in die Menge. Die herandrängenden Menschen halten inne, doch sie gehen nicht fort, verstreuen sich nicht.

Kaum bin ich in die Kutsche geklettert, schlägt Digby auch schon die Tür hinter mir zu. Sofort setzt sich das Gefährt ruckelnd in Bewegung, inmitten der gebrüllten Befehle und Drohungen der Wachen.

Ich zucke zusammen, als draußen ein Kampf ausbricht. Ich höre, wie Fäuste auf Fleisch treffen. Im Vorbeifahren werfen mir die Leute Beleidigungen hinterher, spucken in Richtung der Kutschen, verfluchen den König.

Ich habe zu viel Angst, um aus dem Fenster zu schauen. Also sitze ich steif auf den Kissen und verfluche mich selbst für meine Dummheit.

Ich weiß, wie unklug es ist, in einem Armenviertel Reichtum zur Schau zu stellen. Aber der Anblick dieser Kinder … Es war, als schaute ich in meine eigene Vergangenheit. Ich konnte einfach nicht klar denken.

Als die Schreie lauter werden, bewegen die Pferde sich schneller, so schnell, wie es auf der schlammigen Straße eben möglich ist. Ich bete, dass niemand uns angreift, flehe immer wieder stumm die Sternengöttinnen an, die Menge zurückzuhalten.

Nicht, weil ich um mein eigenes Leben fürchte. Und ganz gewiss nicht, weil sie mir etwas stehlen könnten. Sondern weil ich nicht will, dass die Wachen gezwungen sind, diese Menschen zu verletzen. Die Leute hier haben schon genug ertragen.

Solche Art von Armut ist wie eine Wunde. Eine Wunde, die König Midas hat schwären lassen. Es ist nicht ihre Schuld, dass sie verzweifelt sind; dass sie für die Aussicht auf eine Mahlzeit, eine Decke, eine Arznei einen Raubüberfall erwägen müssen. Hier geht es ums nackte Überleben. Und wir alle, jeder Einzelne von uns, würde an ihrer Stelle dasselbe tun, getrieben von verzweifelter Hoffnung: «Was wäre, wenn …»

Aber glücklicherweise greifen sie nicht an. Glücklicherweise stecken die Wachen ihre Schwerter wieder in die Scheiden. Doch ich empfinde keine Erleichterung. Nur Schuld. Schuld, weil ich vor den Nasen der Verhungernden mit dieser Karotte gewedelt habe, um sie dann wieder verschwinden zu lassen.

Die goldene Burg, die sich in der Ferne auf ihrem Berg erhebt, muss ein beständiger Stachel in ihrem Fleisch sein. Eine allgegenwärtige Erinnerung an ein Ziel, das sie niemals erreichen können.

Ich wünschte, die Sonne würde schneller aufgehen. Ich wünschte, in meiner Börse wären mehr Münzen gewesen. Wünschte, ich hätte die Straße mit Gold fluten können. Hilflosigkeit drückt mich nieder, während unsere Reisegesellschaft ohne weitere Vorfälle weiter durch die Nacht zieht, bis die letzten verfallenen Gebäude zurückbleiben, die letzten ausgezehrten Gesichter aus dem Blickfeld verschwunden sind.

Eine traurige, bittere Erkenntnis ergreift Besitz von mir. Denn wenn selbst die Stadt des goldenen Königs so arm ist – welche Hoffnung besteht dann für den Rest von Orea?