Kapitel 21

D er Sturm tobt und tobt.

Dieser Wind klingt nicht wie die Sturmwitwe mit ihrem verzweifelten Geheul. Er hört sich eher an wie eine verschmähte Frau, die aus Rache eine gefrorene Hölle herabregnen lässt – genau wie Segl es vorhergesagt hat.

Drei lange Tage und drei noch längere Nächte. Nichts als Hagel und Schnee, gefolgt von einem schrecklichen Regenguss, der in beißender Kälte vom Himmel fällt, unser gesamtes Lager durchtränkt und zu Eis gefriert, kaum dass er den Boden berührt.

Alle, selbst der umgängliche Segl, sind schlecht gelaunt. Ich glaube, der arme Knusper steht kurz davor, zu rebellieren. Das Feuer erlischt immer wieder, egal, wie viele Schutzwände aus Holz die Wachen auch errichten, um den Wind und die Feuchtigkeit abzuhalten.

Schließlich müssen sie eine der Zeltplanen zerschneiden und hoch oben zwischen den Bäumen aufspannen, um zu verhindern, dass der strömende Regen direkt in die Flammen fällt. Das ist gut fürs Feuer, aber weniger gut für die Männer, die jetzt in den verbliebenen Zelten noch enger zusammenrücken müssen.

Niemand kann auf die Jagd gehen, und bei diesem Wetter sind sowieso keine Tiere unterwegs. Das bedeutet, dass es nur Trockenfleisch und Nüsse zu essen gibt. Nichts Warmes, nichts Frisches, abgesehen von dem gekochten Wasser aus unserem Endlos-Vorrat an geschmolzenem Schnee. Zumeist bleiben alle in ihren Zelten und verfluchen den Himmel, gelangweilt, durchgefroren und übellaunig.

Bis der Sturm am vierten Tag endlich nachlässt.

Beim Aufwachen höre ich das Knistern der Flammen und nicht das Prasseln von Hagel und Regen. Auch der Wind ist verklungen. Ich spähe zum ersten Mal seit Stunden aus meinem Zelt und stelle fest, dass der schlammige Schneematsch nicht mehr zu sehen ist. Stattdessen glitzern etwa dreißig Zentimeter frischer Schnee im grauen, schwindenden Licht. Vereinzelte Flocken trudeln in einem trägen, friedlichen Tanz vom Himmel.

«Der Göttlichkeit sei Dank.»

Die Sonne steht bereits tief, uns bleibt wahrscheinlich nur noch eine knappe Stunde Tageslicht.

Ich schaue mich um. Die meisten Männer kundschaften entweder die Gegend aus oder werkeln an den Kutschen, die noch immer festgefahren sind. Die übrigen schärfen ihre Schwerter oder essen. Aber ich bemerke sofort, dass die Stimmung nicht mehr so niedergeschlagen ist. Die Männer ziehen sich gut gelaunt gegenseitig auf oder unterhalten sich entspannt.

Die meisten von ihnen haben sich inzwischen, nach Tagen des gemeinsamen Reisens, an mich gewöhnt, doch hin und wieder werfen sie mir immer noch verstohlene Blicke zu. Aber niemand versucht, mir näher zu kommen oder mit mir zu reden, einmal abgesehen von Digby und Segl. Entweder hat Midas es ihnen untersagt oder Digby. Wahrscheinlich beide.

Ich wasche mich in meinem Zelt und warte auf den Einbruch der Nacht. Dann werden wir so schnell wie möglich das Lager abbrechen und auf die Straße zurückkehren.

Zum Waschen verwende ich einen Wasserkrug und einen kalten, feuchten Lappen. Reisen ist nicht gerade glamourös, und ich vermisse schmerzlich die Dinge, durch die ich inzwischen verwöhnt bin – etwa mein Bett, meine Kissen, meine Badewanne.

Allein der Gedanke daran, mich in heißes Wasser sinken zu lassen, entlockt mir ein Stöhnen. Stattdessen muss ich mich mit dieser eiligen Katzenwäsche zufriedengeben, komplett mit Gänsehaut und klappernden Zähnen.

Es kostet mich echte Überwindung, mir den Inhalt des Kruges über den Kopf zu gießen. Das Wasser ist so kalt, dass ich ein Aufkreischen kaum unterdrücken kann. Eilig säubere ich Kopfhaut und Haare, bevor meine Fingerspitzen zu taub dazu werden.

Während meine Haut sich noch feucht anfühlt, ziehe ich mich wieder an. Meine Bänder flechten mir die Haare. Dann schlingen sie sich eng um meinen Körper, als weitere wärmende Schicht.

Als ich gerade meine warme Strumpfhose unter mein schweres Kleid ziehe, wird ein Tablett mit Essen ins Zelt geschoben – wahrscheinlich von Digby, der sicherstellen will, dass ich etwas esse, bevor wir uns wieder der Straße anvertrauen.

Ich greife mir das Tablett und setze mich auf meine Bettrolle, damit ich mir beim Essen die Pelze über den Schoß ziehen kann. Es gibt eine komplette gebratene Fleischkeule. Sie ist nicht im Geringsten gewürzt, aber ich verschlinge sie trotzdem innerhalb von Sekunden. Das Fleisch ist wunderbar heiß und frisch, viel besser als dieses zähe, getrocknete Zeug, das ich in den letzten Tagen heruntergewürgt habe.

Ich leere den Teller komplett und kann mich nur mit Mühe davon abhalten, ihn auch noch abzulecken. Anschließend helfe ich dabei, alles zusammenzupacken. Ich rolle meine Pelze ein, packe meine Kleider in die Reisekiste, mache die Öllampe aus.

Als ich schließlich aus meinem Zelt trete, ist das Lager so gut wie abgebaut. Die Männer tragen bereits ihre Rüstungen und schaufeln gerade Schnee über das Feuer. Auch die Pferde sind schon weggeführt worden, sie stehen in ihrem Geschirr vor den freigeschaufelten und reparierten Kutschen. Der Schatten der Nacht drängt über den Horizont heran, bereit, die Welt in Dunkelheit zu tauchen.

«Bereit zum Aufbruch, Lady Auren?», fragt Segl hinter mir.

Ich wische mir eine Schneeflocke von der Wange. «Mehr als bereit, mich endlich wieder zu bewegen. Ich dachte, dieser Sturm würde nie aufhören.»

«Wir haben ein paar Tage verloren, und der Boden ist gefroren. Aber auf dem frischen Schnee werden wir gut vorankommen, und wir sind nicht mehr weit vom Fünften Königreich entfernt.»

«Gut», entgegne ich und folge ihm vom Waldrand zu den Pferden, die schon bereitstehen.

Digby hält mich auf, seine Miene ist wie immer grimmig. «Euer Haar ist feucht.»

«Hervorragend beobachtet, Digby», erwidere ich spöttisch und ziehe mir die Kapuze über den Kopf.

Doch selbst Segl mustert mich stirnrunzelnd. «Er hat recht. Ihr werdet Euch erkälten.»

«Das geht schon.»

«Ihr werdet in der Kutsche fahren, bis Euer Haar getrocknet ist», verkündet Digby.

Jetzt ist es an mir, schlecht gelaunt das Gesicht zu verziehen. Ich will nicht in der Kutsche eingesperrt sein, nachdem ich schon drei Tage lang in meinem Zelt festsaß. «Ich möchte aber lieber reiten.»

Digby schüttelt den Kopf.

«Ich werde auch meine Kapuze aufsetzen», beharre ich.

Statt einer Antwort führt er mich einfach zur Kutsche, öffnet die Tür und starrt mich an. Offenbar wird er sich das nicht ausreden lassen. Und ich kann Knusper ohnehin nirgendwo entdecken.

Ich seufze resigniert. «Na schön», grummele ich. «Aber sobald es trocken ist, reite ich neben dir. Und ich werde stundenlang reden», warne ich ihn.

Vielleicht bilde ich es mir ein, aber seine Mundwinkel heben sich ein wenig, nur ein winziges Stück. Triumphierend zeige ich auf ihn. «Ha! Du hast fast gelächelt», verkünde ich und wende mich dann an Segl. «Du hast es auch gesehen, richtig?»

Er nickt grinsend. «Definitiv.»

Digby verdreht die Augen und deutet mit dem Daumen auf die Kutsche. «Einsteigen.»

«Schon gut, schon gut», sage ich und folge der Aufforderung. Segl schenkt mir ein Lächeln, bevor er die Tür schließt. Ich lasse mich auf den gepolsterten Sitz sinken, als unsere Reisegruppe sich wieder in Bewegung setzt. Zumindest hatten meine Beine und mein Rücken Gelegenheit, sich vom Reiten zu erholen. Meine Muskeln schmerzen jedenfalls nicht mehr.

Ich öffne meinen Zopf, in der Hoffnung, dass mein Haar so schneller trocknet. Und schon langweile ich mich wieder, dabei sitze ich erst seit wenigen Minuten hier drin fest. Ich lehne mich gegen die Kutschenwand und schließe die Augen; frage mich, wie viele Tage wir wohl noch reisen müssen, bis wir das Fünfte Königreich erreichen. Ich weiß, dass der Sturm uns verlangsamt hat, aber ich bin mir nicht sicher, wie sehr.

Das beständige Schwanken der Kutsche muss mich eingelullt haben, denn plötzlich schrecke ich hoch und reiße die Augen auf. Ich schaue mich in der Kutsche um und stelle fest, dass die kleine Innenraum-Laterne verloschen ist.

Meine Bänder haben sich unter meinem Mantel um mich gelegt, um mir zusätzliche Wärme zu spenden, und mein Haar ist getrocknet. Die goldenen Strähnen hängen über meinen Rücken.

Ich bin verwirrt, kann nicht sagen, was mich geweckt hat. Aber dann bemerke ich, dass wir angehalten haben.

Es ist immer noch dunkel draußen, also können wir nicht allzu lange gereist sein. Wahrscheinlich hat die Kutsche sich wieder einmal festgefahren und der Ruck hat mich geweckt. Ich wische das beschlagene Fenster frei und schaue nach draußen, doch ich erkenne nichts als Dunkelheit.

Mit den Knöcheln klopfe ich gegen das Glas. «Digby? Segl?»

Niemand antwortet, und ich höre auch keinen der anderen Männer. Panik durchfährt mich wie eine scharfe Klinge, und meine Hand tastet unwillkürlich nach der Narbe an meinem Hals – das habe ich seit Tagen nicht mehr getan.

Ich rutsche näher an die Tür heran, presse mein Gesicht gegen die Scheibe in dem Versuch, irgendetwas zu erkennen. Doch ich sehe nichts als das zarte Schimmern des Schnees auf dem Boden. Alles andere ist von Dunkelheit verhüllt.

Ich umfasse den Türgriff, um auszusteigen und herauszufinden, was passiert ist – da wird die Tür plötzlich aufgerissen. Überrascht zucke ich zusammen, als Segl den Kopf in die Kutsche steckt.

«Große Göttlichkeit, hast du mich erschreckt! Was ist los?»

«Tut mir leid, Lady Auren», sagt er, und sein Blick huscht zu der Hand an meiner Kehle. Eilig lasse ich die Finger senken. Segl räuspert sich. «Digby hat einen Halt angeordnet. Die Vorhut hat Spuren im Schnee entdeckt, also hat er Späher ausgeschickt.»

«Was für Spuren?»

«Da sind wir uns noch nicht sicher.»

Ich will aus der Kutsche steigen, doch Segl gibt den Weg nicht frei. Er schenkt mir einen verlegenen Blick. «Digby möchte, dass Ihr in der Kutsche bleibt.»

Das kann ich mir vorstellen! Aber ich ertrage es einfach nicht, hier eingeschlossen zu sein. Dieses Gefühl, in der Falle zu sitzen …

Als ich Burg Hohenläuten verlassen habe, hat sich etwas in mir verändert. Als hätte jemand den Stöpsel aus einem Abfluss gezogen, begann das Wasser langsam abzufließen, das mich vollständig umhüllt hatte – eine Zehnjahresmenge an Wasser. Ich muss nicht länger angestrengt den Kopf über die Oberfläche halten. Muss nicht länger nach Luft schnappen und die Atemzüge zählen. Mich nicht länger selbst ermahnen, dass ich noch genug Luft habe und die Flut mich nicht verschlingen wird, solange ich nur Wasser trete.

Ich kann nicht dorthin zurück. Mental, emotional, selbst körperlich. Schon der Gedanke daran sorgt dafür, dass ich anfange zu schwitzen. Ich weiß einfach, dass ich es nicht ertragen würde.

Und darum kann ich nicht hierbleiben, obwohl es mir befohlen wurde; obwohl dort draußen Gefahren drohen. Das Innere der Kutsche ist zu eng, erinnert mich zu sehr an meinen endlosen Kampf darum, nicht in den Fluten zu versinken.

Also dränge ich mich an Segl vorbei und werfe mich in die Dunkelheit.