Kapitel 27

K apitän Fanes Enthüllung jagt eine Schockwelle durch die Menge der Piraten.

Zuerst herrscht fassungsloses Schweigen. Ich spüre, wie Hunderte von Augenpaaren sich auf mich richten, mich eindringlich mustern. Dann schlägt der Schock in etwas anderes um. Etwas Schlimmeres.

Die Piraten beginnen zu grölen, bis sie sogar das Knurren der Feuerklauen übertönen. Ich zucke zusammen, versuche erneut, meine Hand loszureißen, aber der Kapitän packt mein Handgelenk nur noch fester.

Er wendet sich erneut zu mir um, und ich sehe deutlich die Euphorie in seinem Blick. «Schaut sie euch nur an! Selbst ihr Kleid ist golden. Das Haar auch.» Er lässt mein Handgelenk los, um stattdessen die Faust in meinem Haar zu vergraben. «Die goldene Hure von Hohenläuten.»

Der Kapitän blickt über seine Männer, die Hand weiter in meinem Haar verkrallt. «Wir haben Midas’ Favoritin erbeutet!» Die Piraten lachen selbstgefällig, so unendlich zufrieden mit sich.

«Er wird zahlen», stoße ich hervor, als ich endlich meine Stimme finde. Schwach klingt sie und dünn. Der Kapitän gibt mein Haar frei, und meine Kopfhaut pocht schmerzhaft im Takt meiner Herzschläge. «Für seine Wachen, seine Sättel … für mich … Er wird Euch jedes Lösegeld zahlen, das Ihr verlangt. Tut uns nur nichts an.»

Kapitän Fane feixt. «Oh, ich werde kein Lösegeld von Midas fordern. Anderswo bekomme ich weitaus mehr.»

Seine Worte reißen mich in den Abgrund, dunkel und bodenlos.

«Die hier werde ich behalten, bis wir sie an den Höchstbietenden verkaufen. Verbreite die Nachricht, dass wir einen Haufen edler Sättel anzubieten haben, nur verrate noch nicht alles.»

«Aye, Käpt’n», antwortet der Quartiermeister mit einem Nicken. «Aber König Midas’ Favoritin? Da wird es eine Menge Bieter geben.»

«Den Rest von ihnen könnt ihr unter euch aufteilen. Sie sollen die Männer unterhalten und sie für ihre harte Arbeit belohnen», weist Fane seinen Stellvertreter an.

Die Piraten in Hörweite jubeln. Die Sättel beginnen zu weinen.

Kapitän Fane senkt den Blick auf Polly, die immer noch bewusstlos im Schnee liegt. «Und lasst sie arbeiten, um sich ihren Unterhalt zu verdienen. Sie müssen abgehärtet werden.»

Der Quartiermeister nickt. «Ist so gut wie erledigt, Käpt’n.»

Der Kapitän erwidert das Nicken, dann mustert er mich mit einem anzüglichen Blick. «Wie ich es genießen werde, Midas’ goldene Gefangene in meiner Kabine einzusperren.»

Mein Körper zittert immer stärker, und mein Kinn bebt. Ich erahne bereits die Schmerzen, die er mir zufügen will, die Brutalität, mit der er mich behandeln wird. All das leuchtet in seinen Augen.

Er hebt die Hand, um meine Brust zu betatschen, knetet und kneift sie. Die Berührung ist widerlich. Ich versuche, ihn von mir wegzustoßen, aber er lacht nur und packt umso fester zu. «Aye, ich werde Spaß daran haben, sie zu brechen. Midas’ verdammte Favoritin», lacht er, als könne er sein Glück nicht fassen. «Ich wünschte nur, ich könnte das Gesicht dieses Bastards sehen, wenn er herausfindet, dass ich sie gefangen, benutzt und anschließend weiterverkauft habe.»

Tränen steigen in meine Augen, lassen die Welt verschwimmen, drohen alles zu ertränken. Ich kann nicht atmen, spüre meine Gliedmaßen nicht mehr. Das kann nicht wahr sein. Das ist ein Albtraum. Ich werde bald aufwachen. Ich muss einfach nur aufwachen.

Kapitän Fanes Finger packen fester zu, kneifen mich, bis ich aufschreie. «Mmm, und laut ist sie auch noch. Das gefällt mir.»

Er beginnt, am Kragen meines Kleides zu zerren, an meinem Oberteil. Doch dann schreit jemand hinter ihm: «Fass sie nicht an!»

Kapitän Fane erstarrt in der Bewegung. Er lässt seine Hand sinken. Langsam dreht er sich um. «Wer hat das gesagt?»

Einer der Piraten tritt neben Segl, der immer noch im Schnee kniet. «Der hier, Käpt’n.»

Als ich wieder zu Segl schaue, tritt der Pirat ihm gerade heftig in den Rücken.

Mein Freund fällt nach vorne, mit dem Gesicht in den Schnee. Kapitän Fane stampft zu ihm hinüber. Grauen liegt in der Luft und befällt auch mich.

«Wie heißt du?», fragt der Kapitän und baut sich direkt vor Segl auf.

Dieser kämpft sich wieder auf die Knie. Er beißt die Zähne zusammen und schaut zu Fane auf, trotzig und blutend. «Segl.»

Kapitän Fane wirft lachend den Kopf in den Nacken. «Habt ihr das gehört, Rote? Wir haben endlich ein Segel für unsere segellosen Schiffe!»

Bösartiges Gelächter hallt über die vereiste Ebene. Rote Flammen flackern in der schwarzen Nacht.

«Nun gut, Segl . Du hast etwas zu sagen? Muss wohl so sein, sonst hättest du nicht gejault wie eine rollige Katze.»

Wieder lachen die Piraten. Segls blasse Wangen hätten sich wahrscheinlich vor Wut gerötet, wenn die Kälte das nicht schon erledigt hätte.

Aber er zieht den Kopf nicht ein. Er sieht zum Kapitän auf, die Augen voller Hass. Stille legt sich über das Ödland, als alle Blicke sich auf Segl richten. Selbst die eisige Landschaft scheint zu lauschen.

Sag nichts. Sag einfach nichts, Segl.

Doch Segl schweigt nicht. «Ich habe gesagt: Fass sie nicht an», wiederholt er wütend.

Mein Herz verkrampft sich.

Kapitän Fane lacht leise, als würde ihn das alles amüsieren. «Schaut euch das an, Rote. Er zeigt echten Mut. Wie ungewöhnlich für jemanden aus Midas’ Armee.» Die Piraten lachen. Die anderen Wachen, die ringsum knien, lassen die Köpfe hängen, niedergedrückt von Erniedrigung und Grausamkeit.

Doch Segl starrt unverwandt den Kapitän an, die Hände zu Fäusten geballt. «Sie ist die Favoritin des Königs. Er wird großzügig für sie zahlen, wenn sie ihm unversehrt zurückgegeben wird. Und egal, was Ihr denkt: Midas wird mehr zahlen als jeder andere. Er verfügt als Einziger über solche Mittel.»

«Aye, der König mit der goldenen Macht», antwortet Kapitän Fane höhnisch, fast bitter. Hass. Da schwingt Hass in seiner Stimme mit. Und vielleicht auch Neid.

«Womöglich wird es Zeit, dass der König eine Lektion erteilt bekommt», überlegt der Kapitän. «Er muss lernen, dass es Dinge gibt, die er sich nicht kaufen kann. Vielleicht behalte ich sie einfach für mich selbst, nur um das sicherzustellen.»

Segl öffnet den Mund, doch die Worte werden ihm abgeschnitten, als der Kapitän sich zu ihm vorbeugt. Fanes Gesicht schwebt nun direkt vor dem von Segl, Auge in Auge. Hier braun, dort blau. Hier Grausamkeit, dort Güte. Seine Finger streichen über den Schnee, häufen ihn gelangweilt auf seiner Handfläche an.

«Jetzt hör mir mal gut zu», setzt Kapitän Fane an. Er spricht leise, ist aber doch ringsum zu hören. «Ich werde sie ficken. Wo und wann auch immer ich Lust dazu habe.» Er sagt das ganz beiläufig, locker, als spräche er übers Wetter. «Ich werde sie benutzen. Sie zerstören», fährt Kapitän Fane fort, ohne sich darum zu kümmern, dass Segl vor Wut zittert.

Ein Schluchzen steigt in meiner Kehle auf, entkommt über meine Lippen.

«Ich werde etwas von ihrem glänzenden Haar abschneiden und in einer hübschen Kiste an Midas schicken … weil es mir Spaß macht, ihn zu verhöhnen. Vielleicht nehme ich Haare von ihrer goldenen Möse.»

Kapitän Fane hebt die Hand, auf der sich ein kleiner Schneehügel angesammelt hat. Dann klatscht er den Schnee auf Segls unbedeckten Kopf, sodass mein Beschützer vor Kälte zusammenzuckt. Kleine Klumpen laufen über sein Gesicht und fallen nach unten, landen auf seiner bereits durchnässten Hose.

Der Kapitän greift erneut in den Schnee.

«Und wenn ich genug von ihr habe – aber wer weiß schon, wann das so weit ist –, werde ich sie an den Meistbietenden verscherbeln. Doch das wird noch Wochen dauern. Vielleicht sogar Monate.»

Wieder landet eine Handvoll Schnee auf Segls Kopf. Ein Teil bleibt in seinem Haar hängen, einige Klumpen fallen auf seinen Rücken und rutschen über seine bebende Wirbelsäule. Und die ganze Zeit über mustert Kapitän Fane interessiert Segls Miene, wie eine Katze, die mit einer Maus spielt. Und die Roten Räuber sehen zu. Ihre roten Masken sehen aus wie ein vielfaches blutiges Grinsen.

«Wenn ich mit ihr fertig bin, wird nur noch eine goldene, mit Wichse gefüllte Hülle von ihr übrig sein.»

Segl zuckt zusammen. Inzwischen zittert er am ganzen Körper, seine Zähne klappern. Mein Herz rast und hämmert, als wolle es tiefer sinken, einen Tunnel nach unten graben und sich in meinen Innereien verkriechen.

Wieder sammelt der Kapitän Schnee auf seiner Handfläche, mit langsamen, methodischen Bewegungen. «Aber das wird dich nicht mehr interessieren. Und weißt du auch, warum?», fragt er, bevor er erneut Schnee über meinen Wächter, meinen Freund, verteilt.

Segl lässt den Kopf sinken, als würde der Schnee – diese eisige Demütigung – zu schwer für ihn.

Der Kapitän steht langsam auf, als hätte er genau darauf gewartet … auf diese erzwungene Kapitulation. Er klopft sich die Reste des Schnees von den Händen.

Mein Herz rast weiter, hämmert flehend gegen meine Rippen.

«Dich wird es nicht interessieren», fährt Kapitän Fane fort, den Blick auf Segl gerichtet, «weil du tot sein wirst.»

Ein Rammbock prallt gegen meine Rippen. Für einen einzelnen, kurzen Augenblick passiert nichts, gerade lang genug, um zu blinzeln. Zu starren.

Segl sucht erneut meinen Blick, mit Augen so blau wie der Ozean, den er nie gesehen hat. Und wieder sprechen diese Augen zu mir. Wieder nickt er mir aufmunternd zu.

Alles wird gut, es wird wieder gut.

Aber nichts wird gut. Absolut nichts. Weil der Kapitän – noch während Segl nickt – ein Messer aus der Scheide an seiner Hüfte zieht und es Segl in die Brust rammt.

Direkt ins Herz.

«Nein!»

Ich renne bereits los, noch ehe ich mich bewusst dazu entschieden habe. Aber ich komme keine drei Schritte weit, da werde ich auch schon gepackt. Breite Arme schlingen sich um meine Taille.

Ich schreie. Grauenhafte Wut zerreißt mir die Kehle. Meine Stimme ist ein Geräusch nicht von dieser Welt, das durch die Luft schneidet, die Nacht aussaugt, am Bergpass widerhallt und die verhüllten Sterne verflucht.

Mein Aufschrei lässt die Pferde nervös wiehern und die Feuerklauen fauchen. Er übertönt selbst das Heulen der Sturmwitwe und klagt direkt die Schicksalsgöttinnen an. Man presst mir eine Hand auf den Mund, um mich zum Schweigen zu bringen, doch der Schrei bricht weiter hervor … als könne ich so einen Riss in der Welt erzeugen, den Himmel zum Bersten bringen.

Rot blüht auf Segls Brust auf, durchtränkt seine Baumwolltunika, als würde sich dort eine scharlachrote Blume öffnen. Heiße Tränen rinnen in wilden Strömen über meine Wangen und gefrieren dort.

Die Arme geben mich frei, und ich falle zu Boden, krieche auf Händen und Knien zu Segl. Die Kälte spüre ich nicht. Stattdessen sage ich immer wieder seinen Namen, während die Zeit stillzustehen scheint und die Welt schockiert den Atem anhält.

Seine blauen Augen sind immer noch auf mich gerichtet, doch sie blinzeln flackernd. Dann senkt er den Blick auf die Klinge. Auf das Rot.

Ich erreiche ihn, als sein Körper nach vorne kippt; als er fällt.

Ich packe ihn an den Schultern, aber Segl sackt dennoch zu Boden. Ich kann nichts tun, als ihn zu drehen, sodass sein Gesicht nach oben zeigt, zum Himmel.

Roter Schaum quillt aus seinem Mund, sein Atem gurgelt. Seine Lippen sind blau wie seine Augen, aus denen Tränen dringen.

Mein Herz zerspringt unter meinen Rippen. Segl schaut mich an, und meine Tränen vermischen sich mit seinen. Ich schluchzte. Er zittert.

«Alles wird gut, es wird wieder gut», bringe ich schluchzend hervor. Ich lüge für ihn, so wie er für mich gelogen hat.

Und mit seinem letzten Atemzug nickt er mir zu.