Kapitel 29

D ie Piraten lassen uns in Ruhe, zumindest für ein oder zwei Stunden.

Sie haben alle Hände voll damit zu tun, durch diese dunkle, eiserstarrte Welt zu navigieren, wobei sie sich offenbar an irgendwelchen unsichtbaren Wegmarken orientieren.

Begleitet von viel Geschrei und Geschäftigkeit preschen wir voran, gezogen von den Feuerklauen. Unser Schiff fährt an der Spitze, die anderen zwei folgen uns.

Immer schneller gleiten die Schiffe über das kahle, eisige Ödland. Die Bestien ziehen uns mit ihrer Stärke wie Wölfe einen Schlitten. Peitschen knallen, während wir immer mehr Fahrt aufnehmen und die Schiffe schließlich wie von selbst mit voller Geschwindigkeit über den eisglatten Boden driften.

So rasen alle drei Schneepiratenschiffe über die weiße Ebene. Der Wind treibt Graupel in unsere Gesichter. Unaufhaltsam schlittern die glatten Holzkufen vorwärts, werfen Schnee neben den Rümpfen auf wie spritzende Wellen.

Obwohl der Wind an meinem Haar zerrt und der Regen mein Kleid durchnässt, bleibe ich weiterhin stehen, halte die Reling umklammert und starre Segls Körper am Bug an.

Und wieder steigt diese Wut in mir auf – dieser erste Funke, der aufglühte, als meine Bänder Flair weggestoßen haben.

Die entsetzte Trauer über Segls Tod war kalt. Aber das hier, diese Wut, die ist heiß und rot – so rot wie der Stoff, den Kapitän Fane vor dem Gesicht trägt.

Mein Blick fixiert ihn. Er steht am Bug, ruft Befehle und gibt Richtungsangaben. Die schwarze Feder in seinem Hut beugt sich im Fahrtwind, und etwas glänzt an seiner Hüfte – das Messer, das er dort trägt.

Es ist dieses Messer, auf das ich mich konzentriere, als ich endlich die Reling loslasse. Meine Finger sind verkrampft, und ich trage immer noch nur einen einzelnen Handschuh, weil der Kapitän mir den anderen abgenommen hat, um die Farbe meiner Haut zu prüfen.

Mir ist egal, dass es tiefe Nacht ist und die Schatten meine Seele unterdrücken. Mir ist egal, dass sich eine wahre Sturzflut aus den Wolken ergießt. Mir ist egal, dass ich als einzelne Frau gegen eine ganze Schiffsladung Männer stehe. Mir ist egal, dass ich verwundbar bin; dass ich allein auf den Kapitän zugehe.

Weil Segl mein Freund war.

Und weil nichts gut ist.

Meine Bänder gleiten wie eine Schleppe hinter mir über den Boden, während meine Schritte fester werden, ich mich höher aufrichte. Worte hallen wie ein Mantra in meinem Kopf wider, als ich mich an Segls letzten, beruhigenden Blick erinnere.

Nichts ist gut. Nichts wird wieder gut.

Niemand hält mich auf, als ich vorwärtsschreite. Niemand schenkt mir auch nur einen Blick. So unbedeutend bin ich für diese Männer – wie alle Sättel auf dem Deck. Das kann man schon daran erkennen, dass sie keine Wache für uns abgestellt haben. Sie vertrauen ganz darauf, dass wir uns ängstlich auf dem Deck zusammenkauern.

Aber das werde ich nicht tun. Nicht, während Segl dort hängt. Vermutlich hat jede Person irgendwo ihre Grenze … und meine ist jetzt erreicht.

Es ist einfach, so lächerlich einfach, das Deck zu überqueren. Vorwärtszukommen, ohne dass jemand auch nur in meine Richtung schaut. Ein Ergebnis der Arroganz von Männern, die Frauen nichts zutrauen. Und das wird ihr Untergang sein.

Fässer, aufgerollte Seile, Piraten, die Beute verstauen – an alledem gehe ich vorbei. Bis ich den Bug erreicht habe. Und hinter den Kapitän trete.

Alle meine vierundzwanzig Bänder zucken wie Tentakeln. Sie entsprießen in perfekter Symmetrie an meiner gesamten Wirbelsäule entlang aus meiner Haut: weiche Streifen, breit wie zwei Finger, die sich rechts und links von mir erheben, von meinem Nacken bis hinunter zur Hüfte.

Sie gleichen Schlangen, die bereit sind zuzupacken. Doch ihr Ziel ist nicht der Kapitän, sondern Segl; und die Seile, die ihn an diesem Pfosten halten.

Einige der Sättel in der Mitte des Schiffs bemerken mich und schauen sich nervös um. Ein paar treten vor, um durch den Vorhang des peitschenden Regens besser sehen zu können.

Ich stehe direkt vor dem Pfosten, den Blick nach oben gerichtet, und dirigiere voller Entschlossenheit meine Bänder. Sie sind durchnässt und schwer vom Regen, doch sie zerren unablässig an den Knoten. Als das nicht ausreicht, verhärten sich ihre Kanten. Jetzt sind sie nicht mehr weich wie Satin, sondern scharf – so scharf wie die Schneide einer Klinge. Goldene Seide kämpft mit verknotetem Hanf, reißt und zerrt, durchschneidet mühelos die Fasern.

«Oy!»

Ich ignoriere den Aufschrei, der die Aufmerksamkeit der Piraten erregt; ignoriere die Männer, als sie endlich bemerken, was ich tue. Meine Bänder zerren und hacken weiter an den Seilen herum.

Als der erste Pirat mich erreicht und meinen Arm packt, erwartet ihn bereits ein Band, um ihn abzufangen. Es peitscht ihm entgegen, trifft seinen Arm, durchschneidet die dicke Pelzkleidung, als wäre sie so dünn wie ein Blütenblatt.

Der Mann jault überrascht auf, stolpert zurück und gibt mich frei, um die Hand auf seine Wunde zu legen. Doch ich beachte ihn gar nicht. Mein Blick ist immer noch nach oben gerichtet, meine Aufmerksamkeit gilt allein Segls Körper.

Runter. Er muss da runter .

Meine Bänder arbeiten fieberhaft. Ich lenke sie mühelos, obwohl sie durchnässt und schwer sind, angetrieben von einer Wut, die so heiß glüht wie die Flammen der Feuerklauen.

Eine nach der anderen lösen sich die Fesseln um Segls Körper … bis jemand mich von hinten packt und herumreißt.

Kapitän Fane starrt mich aus nächster Nähe an, die braunen Augen funkeln in seinem unmaskierten Gesicht. «Was zur Hölle glaubst du, was du da tust?»

Seine Hände halten meine Arme so fest umklammert, dass er meine Haut quetscht, trotz des schützenden Stoffes darüber. Ich versuche ihn wegzustoßen, doch das ist hoffnungslos. Er bemerkt es kaum, weil er zu sehr damit beschäftigt ist, über meine Schulter zu starren, den Blick nach oben gerichtet.

Dorthin, wo meine Bänder gerade die letzten Seile durchtrennen.

Die Augen des Kapitäns werden groß. «Schei…»

Bevor er seinen Fluch beenden kann, stürzt Segls Körper herab.

Er fällt direkt auf uns drauf. Kaltes Fleisch und steife Muskeln reißen uns zu Boden, befreien mich aus dem Griff des Kapitäns.

Wir landen in einem verworrenen Haufen, Segls Beine über meinem Oberkörper. Schritte kommen in unsere Richtung gedonnert. Stimmen erheben sich über den heulenden Wind.

Ich rolle mich unter Segl hervor und strecke erneut meine Bänder aus, schlinge sie um seinen Körper. Sie umklammern ihn vom Hals bis zur Hüfte … und dann beginne ich zu ziehen .

Er ist schwer, und wir sind beide durchnässt, doch meine Bänder zerren, so fest sie nur können; weigern sich, ihn freizugeben. Zentimeter für Zentimeter ziehen sie Segl über das feuchte Deck.

Sofort spüre ich das Gewicht an meiner Wirbelsäule. Meine Rückenmuskulatur brennt von der Belastung, ist jetzt schon erschöpft. Doch ich darf nicht innehalten, darf mich nicht ausruhen. Denn die Roten Räuber stürmen bereits auf mich zu. Kapitän Fane knurrt wütend, das Gesicht vor Wut verzerrt, als ich Segls Körper zum Rand des Schiffes schleife.

«Stopp!», brüllt er – aber er schreit nicht mich an, sondern seine Männer. «Ich werde mich selbst um das Miststück kümmern.»

Grauen steigt in mir auf, doch ich lasse mir nichts anmerken, lasse mich nicht aufhalten.

Weil es mir egal ist.

Mir ist egal, dass der Gesichtsausdruck des Kapitäns mir grausame Strafen androht, als er auf mich zustampft. Mir ist egal, was er mir antun wird. Weil er meinen Freund getötet hat. Er hat Segl getötet, und ich konnte nichts dagegen tun.

Aber das hier kann ich verhindern. Ich kann die Roten Räuber davon abhalten, Segls Körper zu schänden. Also werde ich es tun.

Mit zusammengebissenen Zähnen zerre ich ihn weiter voran, während Schweiß und geschmolzener Graupel über meine Schläfen rinnen. Ich löse zwei Bänder von ihm und halte sie wachsam an meiner Seite erhoben, bereit, jeden abzuwehren, der sich mir nähert oder mich aufzuhalten versucht.

Aber auf Kapitän Fanes Befehl hin halten sich die Piraten zurück, also bleibe ich allein. Allein ziehe ich Segls Körper langsam – zu langsam – über das Deck, während der Kapitän mit blitzenden Augen auf mich zukommt, die Hände zu Fäusten geballt.

Ich stoße mit dem Rücken an die Reling und verliere keine Zeit. Rasch beuge ich mich vor und schiebe die Hände unter Segls Arme. Dann zerre ich, so fest ich kann. Meine Bänder spannen sich zeitgleich mit meinen Muskeln an, um ihn hochzuheben.

Er ist schwer. So verdammt schwer.

Ich sacke gegen die Reling. Meine Brust brennt, Wind und Regen lassen mich kaum atmen, vernebeln meine Sicht. Mein Körper ist durchgefroren, meine Finger taub und gefühllos.

Dass ich jetzt so erschöpft bin, liegt nur an meiner jahrelangen Untätigkeit. Die ganze Zeit in meinem Käfig war ich nutzlos, viel zu passiv. Meine Bänder gleiten von Segl ab.

Schwach. Ich bin so verdammt schwach.

Meine goldenen Augen finden die Sättel, die sich am Rand zu einem Kreis zusammendrängen, als könnten sie so das Wetter – und die ganze Welt – von sich fernhalten. «Helft mir», flehe ich sie an.

Mein Blick huscht zu Polly, die wieder meinen Mantel trägt, eingehüllt in Gold, um den Regen abzuhalten. Doch sie bleibt stehen, regungslos, unwillig.

«Bitte», bettele ich und sehe als Nächstes Nissa an. Doch auch sie bewegt sich nicht. Vielleicht Rosh … Aber er wendet den Blick ab, kaum dass meine Augen ihn finden.

Die Außenseiterin. Selbst wenn ich versuche, einem unserer Leute zu helfen – einem Wächter, der zu jedem von ihnen stets freundlich war –, bin ich die Außenseiterin. Ich bin auf mich allein gestellt.

Kapitän Fane lacht. «Nicht mal deine Hurenfreundinnen sind bereit, dir zu helfen.» Er klingt so unglaublich selbstzufrieden.

Ich halte die Tränen zurück, zwinge mich durchzuhalten. Ich darf nicht aufgeben. Segl hat nicht aufgegeben, keine Sekunde lang. Ich schulde ihm dasselbe.

Ich werde das schaffen.

Erneut versuche ich, seinen Körper anzuheben. Meine Bänder dehnen sich, zerren an der Haut meines Rückens, als würde man mir Nadeln durch die Muskeln fädeln.

Kapitän Fane tritt spöttisch einen Schritt auf mich zu. Er kommt näher, aber nicht nah genug, um mit meinen Bändern nach ihm zu schlagen. Er schätzt ihre Länge ab, beobachtet, wie sie sich winden, wie sie an Segl ziehen. Seine widerlichen Augen leuchten plötzlich, und ein schiefes Grinsen enthüllt diese hölzernen Zähne. «Schaut euch das an, Rote! Eine echte Marionette. Sie bringt sogar ihre eigenen verdammten Fäden mit.»

Hämische Heiterkeit macht sich um mich herum breit. Das Gelächter ist schrecklich, die Worte noch schlimmer.

Ich blende all das aus, beiße die Zähne so fest zusammen, dass meine Muskeln sich verkrampfen. Mitten in all dem Spott zerre ich ein weiteres Mal. Endlich gelingt es mir, Segls Körper auf die Brüstung zu wuchten.

Mein Rücken schreit vor Schmerz, während Regen und Schweiß an meiner Wirbelsäule entlanglaufen, aber ich habe es fast geschafft … nur ein kleines Stück noch …

Der Kapitän verzieht in grausamer Erheiterung den Mund, während er meinen Kampf beobachtet. Ich muss jämmerlich aussehen, wie ich mich, durchnässt bis auf die Haut, an einem Wächter abmühe, der mindestens fünfzig Kilo mehr wiegt als ich.

«Versuchst du, über Bord zu springen und deine tote Wache wie einen Schlitten zu reiten?», fragt der Kapitän und bringt damit die Piraten hinter sich wieder einmal zum Grölen.

Er hebt die Arme und dreht sich einmal im Kreis, um mit der Geste das weite, leere Land um uns herum zu erfassen. «Ich sage es dir ja nicht gerne, aber wir befinden uns mitten im Ödland, du dämliche Fotze. Du gehst nirgendwohin.»

Mein Körper zittert, meine Bänder beben. Aber ich gebe nicht auf. Ich gebe nicht klein bei.

Der Kapitän tritt näher an mich heran, testet die Grenzen aus, reizt mich, auf die Gelegenheit zum Angriff wartend.

Ohne darüber nachzudenken, beschließe ich, auch die zwei freien Bänder um Segl zu schlingen. Das lässt mich wehrlos zurück. Aber wenn ich es nicht tue, war alles umsonst.

Und die letzten beiden Bänder verleihen mir die zusätzliche Kraft, die ich brauche.

Kapitän Fane stürmt auf mich zu, aber es ist zu spät. Ich habe Segls Körper bereits über die Reling gehievt. Sofort lösen meine Bänder ihren Griff, übergeben ihn der Schwerkraft. Und er fällt.

Fällt, fällt, fällt, um auf einem weichen Schneehaufen weit unter uns zu landen.

Ich beuge mich vor, verfolge ihn mit den Augen. Meine Brust hebt und senkt sich in schweren Atemzügen. Eisige Tränen vermischen sich auf meinem Gesicht mit dem Regen, während wir davongleiten.

Einen Wimpernschlag später ist Kapitän Fane da und packt meine Bänder mit einem grausamen Griff. Er presst sie in seiner Faust zusammen, direkt an meiner Wirbelsäule, sodass ich schmerzerfüllt den Rücken durchdrücke.

«Du dämliches Miststück! All diese Mühe, und dann versagst du. Traust dich nicht mal zu springen.»

Er reißt mich von der Reling weg, zerrt mich hinter sich her. Aber er irrt sich. Ich habe nicht versucht, zu entkommen. Ich hatte nie vor, vom Schiff zu springen. Ich hätte den Sturz sowieso nicht überlebt … Und selbst wenn ich das irgendwie geschafft hätte, hätten sie mich doch wieder eingefangen.

Nein, ich habe das vollbracht, was ich mir vorgenommen hatte. Ich habe Segl befreit. Habe ihn weggeschafft von diesen Piraten, von diesem Schiff. Seine letzte Ruhestätte mag ein Schneehaufen mitten im Ödland sein, aber das ist besser als die Alternative. Ich hätte ihn keine Sekunde länger dort oben hängen lassen können.

Grob und schnell werde ich übers Deck geschleift, auf die Kabine des Kapitäns zu – und auf die Bestrafung, die sein Blick verspricht.

«Ihr könnt seinen Körper nicht mehr schänden!», verkünde ich kühn. Mein Silberstreif. Das ist der einzige Silberstreif, an den ich mich momentan klammern kann, so düster und trostlos er auch sein mag.

Vor Wut packt Kapitän Fane meine Bänder noch fester. Sie sind müde, nass und schlaff, seinem Griff hilflos ausgeliefert … so wie ich auch.

«Schön», sagt er ganz dicht neben mir, während er mich weiter über das Deck schiebt. «Dann werde ich wohl einfach deinen Körper schänden müssen.»