8

Übermüdet von der langen Reise wachte Alice am folgenden Morgen erst spät auf und merkte beschämt, daß sie verschlafen hatte. Nachdem sie sich gewaschen und angezogen hatte, war es kurz vor Mittag, als sie die Küche betrat. Sie entschuldigte sich bei Mrs. Trelawn, bat um Brot und Milch und verzehrte heißhungrig ihr karges Frühstück. Plötzlich hörte sie Mrs. Trelawn laut schniefen. Alice schaute verblüfft auf und sah Tränen über Mrs. Trelawns Wangen laufen und in die Füllung tropfen, die sie für das Brathuhn zubereitete.

»Mrs. Trelawn, was ist denn passiert?«

»Ich kann es Ihnen nicht sagen, Miss Alice.«

»Doch, bitte. Was ist los?« Alice legte ihr den Arm um die Schultern. »Mrs. Trelawn!« drängte sie barsch.

»Ach, es ist zu grausam.« Die Köchin sank schluchzend auf einen Stuhl. In Alice stieg Angst auf.

»Es ist etwas passiert. Etwas Schreckliches. Ich muß sofort zur Siedlung.«

»Nein, Miss Alice, bitte.« Mrs. Trelawn streckte die Hände nach ihr aus. »Queenie hat gesagt, Sie müssen hier warten.«

»Warum erzählen Sie mir nicht, was passiert ist? Sie müssen es mir sagen!«

»Bitte, Miss Alice, fragen Sie mich nicht. Queenie wird gleich kommen. Mr. George ist zur Siedlung gefahren, um sie zu holen.«

»Es ist was mit la. Ich weiß, es geht um Ia.« Widerstrebend kehrte Alice zum Küchentisch zurück. »Ich hätte nicht verreisen dürfen.« Geistesabwesend zupfte sie an ihrem Rock herum. Ihr Herz pochte zum Zerspringen, und eine entsetzliche Vorahnung drohte sie zu ersticken.

Ihr Kopf schnellte hoch, als draußen die Kutsche vorfuhr. Ihre Angst wuchs, als sie Queenies tränenüberströmtes Gesicht sah.

»Na, na, meine Schöne«, murmelte Queenie tröstend und nahm Alice in die Arme, die sich schluchzend an Queenies weichen Busen schmiegte. »Weiß sie es schon?« fragte sie über Alices Kopf hinweg Mrs. Trelawn.

»Ich habe kein Wort gesagt«, antwortete die Köchin schluchzend.

»Wäre ich nur nicht nach London gefahren, Queenie. Ich hätte bei ihr bleiben müssen. Ich werde mir nie verzeihen, daß ich sie allein gelassen habe.«

»Quäl dich nicht, meine Kleine. Dich trifft keine Schuld. Was hättest du denn tun können? Wahrscheinlich ist es besser so. Das kannst du jetzt natürlich nicht einsehen, aber später wirst du es begreifen. Hör auf deine Queenie.«

Alice befreite sich aus Queenies Armen und starrte sie voller Entsetzen an. »Wie kannst du so etwas sagen? Für wen ist es besser? Meine Freundin, meine liebste und einzige Freundin.«

»Ach, mein Liebling, ich spreche von deiner Mutter. Die arme Seele ... letzte Nacht ... endlich ist sie von ihrer Qual erlöst worden.«

»Meine Mutter?« Alice starrte Queenie entgeistert an. »Was ist mit meiner Mutter?«

»Es tut mir so leid, Alice.«

Ein zaghaftes Lächeln huschte über Alice’ Gesicht. »Ia ... ich muß sofort zu la.« Schwindlig vor Erleichterung lief sie aus der Küche.

»Nein, so was! Mrs. Trelawn, haben Sie das gesehen? Sie hat kein Wort über ihre arme Mutter verloren. Diese Ia hat sie völlig verhext.«

»Es ist wirklich schockierend, Queenie«, entrüstete sich Mrs. Trelawn und wischte sich mit ihrem Schürzenzipfel über die Augen. »Ist Ia noch zu Hause?«

»Nein, sie wurde vor zwei Stunden fortgebracht.«

»Und welche Erklärung werden Sie Miss Alice geben?«

»Ich weiß es nicht, Mrs. Trelawn. Und das ist die bittere Wahrheit.«

Alice nahm sich nicht die Zeit, ihr Pferd zu satteln, sondern lief ungeachtet der Hitze die Auffahrt hinunter und verlangsamte ihre Schritte erst, als sie in die Gasse einbog, in der Ia wohnte. Die Siedlung war wie ausgestorben. Alice stieß die Tür zu las Cottage auf und trat ein. Der Wohnraum war leer. Sie rief las Namen. Niemand antwortete.

Alice ging hinaus und blickte sich ängstlich nach allen Seiten um. Keine Menschenseele war zu sehen. Da trat Dr. Salmon aus einer Hütte. Alice lief zu ihm.

»Dr. Salmon, warten Sie!« rief sie, worauf der Arzt stehenblieb. »Doktor, las Cottage ist leer. Was ist passiert?«

»Es tut mir leid, Alice, aber Ada Blewett ist tot«

»Ach, du lieber Gott, nein!« rief Alice aus.

»Und Reuben Blewett ist verschwunden.«

»Arme Ia. Ach, Dr. Salmon, wie schrecklich ist das alles für la. Ich muß sofort zu ihr. Wo ist sie?«

Dr. Salmon senkte den Blick und starrte lange Zeit stumm auf seine Schuhe. Dann bückte er sich, griff nach seiner Arzttasche und räusperte sich.

»Dr. Salmon ... was ist los? Warum geben Sie mir keine Antwort?«

»Es tut mir leid, Alice, aber Ia ist nicht mehr hier.«

»Ist sie fortgegangen?«

»Das habe ich nicht gesagt, Alice.« Er wich ihrem Blick aus und beobachtete die Männer, die den Abort neben der Wasserpumpe abrissen.

Alice starrte den Arzt entsetzt an. »Heißt das, sie ist tot?« Alices Stimme wurde schrill. »Nein, das kann ich nicht glauben. Sagen Sie mir, daß es nicht wahr ist. Bitte, sagen Sie mir, daß es nicht wahr ist.«

Aber der Arzt antwortete nicht. Er ging langsam die Gasse hinunter, haßte sich für das, was er getan hatte, und hoffte zu Gott, daß Queenie recht behalten würde.

Alice hetzte wie ein wildes Tier an ihm vorbei und stieß einen entsetzlichen Schrei aus: »Ia ...« Der Name gellte durch die Gasse und folgte Alice übers Ödland zu den Klippen.

Blindlings stolperte sie durch dichtes Gestrüpp. Zweige und Sträucher peitschten ihr Gesicht, aber sie fühlte nur die Qual in ihrem Herzen, eine Qual, die ihre Seele zerstörte. Taumelnd folgte sie dem Flußufer, floh vor der Tragödie, als wollte sie alles ungeschehen machen. In der Bucht lief sie an ihrem Lieblingsfelsen vorbei und kletterte über Steine und Klippen. Während der ganzen Zeit hatte sie leise gewimmert. An der Spitze des Felsvorsprungs angekommen, blieb sie abrupt stehen und verstummte. Hier endete ihr Weg.

Auf diesem Fels hatte vor neun Jahren Oswald gestanden. Damals hatte sie eine Familie gehabt und hatte sich geliebt gefühlt. Aber Oswald hatte sie verlassen, und jetzt war auch ihre Mutter gegangen. Erst in diesem Augenblick wurde ihr bewußt, daß sie immer auf die Rückkehr ihrer Mutter gehofft hatte. Ihr jahrelanges Warten war vergeblich gewesen. Ihre Mutter würde sie nie mehr lieben. Sie schaute zum Himmel hoch und schrie verfluchte den Gott, der sie im Stich gelassen hatte. Dann rief sie nach la, mit einer Qual in der Stimme, die den Schmerz über den Verlust ihrer Freundin, ausdrückte.

Das klare grüne Wasser schwappte gegen den Fels zu ihren Füßen und schien eine verlockende Melodie zu singen. Sie lauschte dieser Musik. »Um der Liebe Gottes willen, nimm mich auch«, rief sie und sprang ins Meer.

Eine mächtige Welle hob sie hoch, warf sie der nächsten Woge zu, die eine Weile mit ihr zu spielen schien und sie dann sanft auf den Sandstrand der Bucht legte.

Das Meer wollte Alice nicht haben.