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Dr. Salmon fand Alice. Zuerst fürchtete er, sie sei tot, doch als er sie untersuchte, kam ein leiser Seufzer über ihre Lippen. Er nahm sie auf die Arme und lief mit ihr zum Haus. Queenie sah ihn mit der reglosen, durchnäßten Gestalt kommen und sank ohnmächtig zu Boden.

Jetzt hatte der Arzt zwei Patienten.

Queenie wurde mit Riechsalz schnell wiederbelebt und mit der strengen Anweisung, zu ruhen, ins Bett gesteckt. Nach zwei Stunden war sie wieder auf den Beinen und wich nicht mehr von Alice’ Seite.

Den ganzen Tag bangte Dr. Salmon um Alice’ Leben. Immer wieder rief er ihren Namen und rieb ihre Hände. Er glaubte fest daran, daß sie ihn hören konnte und nur in einer tiefen Ohnmacht lag. Er hatte den Eindruck, daß das Mädchen nicht leben wollte und den Tod herbeisehnte.

Die ganze Nacht wachten Dr. Salmon und Queenie an Alice’ Bett und versuchten, sie ins Leben zurückzuholen. Gegen drei Uhr morgens öffnete sie plötzlich die Augen und lächelte.

»Es tut mir leid«, flüsterte sie und versank in einen tiefen, heilsamen Schlaf. Dr. Salmon fühlte, wie die Anspannung von ihm wich.

Er und Queenie saßen am Küchentisch und tranken warme Milch mit Rum. Queenie hatte nur widerstrebend ihren Schützling Mrs. Malandine anvertraut.

»Sie muß die Wahrheit über Ia erfahren, Queenie. Wir haben ein sehr gefährliches Spiel gespielt.«

»Ich habe nicht über Ia gesprochen«, entgegnete Queenie schnell.

»Nein, das weiß ich. Alice hat mir Fragen gestellt, und ich habe ihr ausweichend geantwortet. Aber da wußte ich noch nicht, daß ihre Mutter gestorben war.«

»Das hat sie herzlich wenig bekümmert.«

»Wir wissen nicht, was in ihr vorgegangen ist, Queenie.«

»Sie hat nur an Ia gedacht. Ihre Reaktion hat mich sehr betroffen gemacht.«

»Vielleicht ist Alice’ extreme Reaktion, was Ia betrifft, ein Ausdruck ihrer Gefühle für ihre Mutter.«

Queenie schnaubte nur verächtlich.

»Werden Sie ihr heute morgen die Wahrheit sagen, Queenie?«

»Kommen Sie, um nach ihr zu sehen, Doktor?« Queenie ignorierte die Frage.

»Das kann ich leider nicht. Die Tregowans sind Dr. Flinders’ Patienten.«

»Ich glaube, Alice würde lieber Sie sehen.«

»Warten wir ab, was ihr Vater dazu sagt. Wann kommt er?«

»Übermorgen – zusammen mit dem Leichnam Ihrer Ladyship. Was für eine traurige Heimkehr.

Alice stand neben Queenie in der Halle und wartete auf die Rückkehr ihrer Mutter. Die weitläufige Halle war mit weißen Lilien aus dem Garten geschmückt, deren süßlicher Duft in Alice für den Rest ihres Lebens Grauen erwecken würde. Alle Fensterläden waren verschlossen und die Spiegel mit schwarzem Tuch verhängt. Über der Eingangstür hing ein Lorbeerkranz mit langen schwarzen Seidenschleifen. In den Wandleuchtern brannten Kerzen und verbreiteten in der abgedunkelten Halle ein düsteres Licht. Der lange Tisch in der Mitte war mit schwarzem Krepp verhüllt und mit Lilien und Lorbeerzweigen geschmückt. Am Kopfende standen ebenfalls Leuchter mit brennenden Kerzen.

Alice hörte die Kutsche vorfahren, blieb jedoch reglos stehen. Sechs Männer trugen den schweren, mit Schnitzereien verzierten Sarg herein und stellten ihn auf den Tisch. Alice’ Vater trat neben sie und wartete mit gesenktem Haupt, bis der Sargdeckel abgenommen worden war.

Alice sah eine Fremde vor sich. Eine ausgezehrte alte Frau mit runzeligem Gesicht. Das ist nicht meine Mutter, dachte ihr von Laudanum verwirrter Geist. Dr. Flinders hatte ihr vorsorglich eine starke Dosis verabreicht. Pflichtbewußt trat sie nach ihrem Vater an den Sarg und starrte in das Gesicht ihrer Mutter, die sie nie geliebt hatte. Kein Gefühl regte sich in ihr. Sie hatte ihre Mutter schon vor langer Zeit im Meer begraben, dort, wo Oswalds Seele ruhte. Die dämpfende Wirkung des Beruhigungsmittels hatte auch ihre Trauer um Ia gemildert.

Queenie war besorgt. Solange Alice das Sedativum einnahm, hatten sie nichts zu befürchten. Aber was würde danach geschehen? Sollte sie Alice die Wahrheit über Ia sagen? Alice’ gleichgültige Reaktion auf den Tod ihrer Mutter hatte Queenie in einen Gewissenskonflikt gestürzt. Hätte Alice ein Anzeichen von Trauer gezeigt, hätte sie ihr gesagt, daß Ia lebte und im Waisenhaus von Truro untergebracht worden war. Aber die Gewißheit, daß ein armes Dorfkind Alice mehr bedeutete als ihr eigenes Fleisch und Blut, verwirrte Queenie zutiefst.

Später wurde dieses Thema in der Küche heftig debattiert. Schließlich nahm Mrs. Malandine die Sache in die Hand, bat Lord Tregowan um eine Unterredung und erzählte ihm, was passiert war.

George ließ Queenie zu sich kommen.

»Deine Entscheidung, dieser Freundschaft ein Ende zu setzen, war völlig richtig, Queenie. Dieses Mädchen war nicht der passende Umgang für meine Tochter.«

»Nein, Mylord.«

»Wie konntest du nur zulassen, daß sich die beiden Mädchen überhaupt angefreundet haben?«

»Es tut mir leid, Mylord.«

»Nun, wir wollen nicht mehr darüber sprechen. Alice soll in dem Glauben bleiben, daß das Mädchen gestorben ist.«

»Ja, Mylord. Danke, Mylord.« Befreit von Schuldgefühlen kehrte Queenie in die Küche zurück.

George ging bedrückt und mit Trauermiene durchs Haus. Dieser, dem Anlaß entsprechende Ausdruck sollte jedoch nur über seine wahren Gefühle hinwegtäuschen. Im Grunde war er zutiefst erleichtert, daß Etty von ihrem Leid erlöst war. Für ihn war seine Frau schon vor Jahren gestorben. In angetrunkenem Zustand hätte er vielleicht sogar zugegeben, daß er froh darüber war, endlich wieder frei zu sein. George hoffte, eines Tages wieder zu heiraten, und war fest davon überzeugt, daß ihm eine willfährige junge Frau den ersehnten Erben schenken würde.

Eine Woche lang nahm Alice noch das verordnete Laudanum ein Eine Woche nach der Beerdigung traf ihr Vater Vorbereitungen für die Rückkehr nach London. Obwohl er sich wegen der Trauerzeit ein Jahr lang in der Gesellschaft Zurückhaltung auferlegen mußte, gab es gewisse Kreise, in denen er sich ohne Zwang bewegen konnte. Höflichkeitshalber fragte er Alice, ob sie ihn nach London begleiten wolle und atmete erleichtert auf, als sie ablehnte. Er hatte sich grundlos Sorgen gemacht – Alice wollte auf Gwenfer bleiben. Obwohl sie noch unter der Einwirkung des starken Beruhigungsmittels stand, wußte sie, daß sie Ias Tod bewältigen mußte –und das würde ihr nur hier gelingen.

Ihr Vater reiste ab. Alice weigerte sich, weiterhin das Medikament einzunehmen. Allmählich kehrte sie in die Wirklichkeit zurück und bekämpfte ihre Verzweiflung über den Verlust ihrer einzigen Freundin. Sie sprach mit niemandem. Während dieser Zeit war Queenie oft versucht, Alice trotz des Verbots Seiner Lordschaft die Wahrheit zu sagen.