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Unverdrossen marschierte Ia trotz der stechenden Augustsonne den Hügel hinauf und ließ die letzten Häuser von Truro hinter sich. Vor Einbruch der Nacht wollte sie von der Stadt weit entfernt sein. An einer Kreuzung blieb sie stehen. Auf dem Wegweiser stand Penzance, in dessen Nähe Gwenfer lag. Frohgemut folgte sie dieser Straße. Ihr Herz machte einen Freudensprung bei dem Gedanken, endlich wieder Gwenfer, die bekannten Gesichter und die Bucht in den Klippen zu sehen. Dann blieb sie abrupt stehen und machte kehrt. Auf Gwenfer würde man sie zu allererst suchen. »Nach Falmouth« stand auf dem anderen Wegweiser. Aber das lag nur ein paar Meilen von Truro entfernt. Bleibt nur noch Bodmin, dachte sie und seufzte, denn das bedeutete einen Fußmarsch von über zwanzig Meilen. Vielleicht suchte man schon nach ihr? Auf der Straße konnte sie leicht entdeckt werden. Man würde sie einsperren oder, noch schlimmer, zum Stadtrat schicken. Ihr blieb nur der Weg über die Felder, bis sie in Sicherheit war.

Drei Stunden später ging die Sonne unter. Ia war völlig erschöpft. Ihre Beine schmerzten vom Stapfen durch hohes Gras, vom Klettern über Zäune und Hecken. Morgen, entschied sie, kann ich es sicher riskieren, auf der Straße weiterzugehen.

Sie breitete ihren Mantel unter einer Eiche aus, holte ihre Arbeitskleidung aus dem Beutel und zog alles übereinander an. Kichernd betrachtete sie ihre unförmige Gestalt. Dann wickelte sie den Mantel um sich und benutzte den Beutel als Kissen. Gott sei Dank ist das Wetter schön, dachte sie und schlief ein.

Noch vor Sonnenaufgang wurde sie von einem Nieselregen geweckt. Sie war schon bis auf die Haut durchnäßt und fror erbärmlich. Ein paar Sekunden lang blieb sie wie erstarrt liegen. Dann stand sie hastig auf und marschierte forsch weiter. Die Bewegung wärmte ihre kalten Glieder.

Den ganzen Tag bis spätabends trottete sie die Landstraße entlang, blickte weder nach rechts noch links und ignorierte die Kutschen, die an ihr vorbeipolterten und sie von oben bis unten mit Dreck und Schlamm bespritzten, In ihrem Kopf nahm allmählich ein –Plan Gestalt an. Bodmin schien eine große Stadt zu sein, sonst würden nicht so viele Kutschen und Karren in diese Richtung fahren. Dort würde sie Arbeit finden, jeden Penny sparen und in sechs Monaten oder einem Jahr von Plymouth aus die Schiffsreise nach Amerika antreten, wo sie ihren Bruder Paul oder Onkel Ishmail suchen würde. Ia war fest davon überzeugt, auch ihre Schwester Mary in Amerika. wiederzufinden. Dann würde sie nicht mehr allein sein.

Dieser Entschluß weckte eine derartige Begeisterung in ihr, daß sie die Nässe, die Kälte und den Hunger vergaß. Den Hunger würde sie einfach ignorieren, denn sie hatte beschlossen, daß der Shilling aus dem Waisenhaus der Grundstock für ihre Ersparnisse sein sollte. Sie würde erst essen, wenn sie eine Arbeit gefunden hatte.

Am folgenden Morgen geriet ihr Entschluß etwas ins Wanken. Ihr Magen schmerzte vor Hunger, und in der schmutzigen Kleidung sah sie sicher wie eine Landstreicherin aus. In dem Aufzug würde sie nie eine Stellung finden. An einem Fluß säuberte sie sich, so gut es ging, und kämmte mit den Fingern ihr zerzaustes Haar. Im Gebüsch fand sie eine Handvoll Heidelbeeren, die sie gierig verschlang. Wenigstens hatte es aufgehört zu regnen. Es war ein wunderschöner Sonntagmorgen.

Ia kam nicht bis nach Bodmin. Hinter einer Kurve in der Straße lag ein Gasthaus. Vor dem Gebäude standen zahlreiche Kutschen. Wenn hier so viele Gefährte halten, dann lassen sich sicher eine Menge Gäste bewirten, und das bedeutet viel Arbeit, überlegte Ia. Sie umrundete das Haus und ging zur Hintertür. Als auf ihr Klopfen niemand antwortete, trat sie ein und fand sich in einem Korridor wieder. Der Duft von frischgebackenem Brot und Braten hing in der Luft. Ia lehnte sich erschöpft gegen die Wand.

»Hallo, bist du das neue Mädchen?« Eine große Frau mit einem fröhlichen Gesicht stand in einer der Türen.

»Ja«, log Ia hastig.

»Ich brauche dich, Mädchen. Das hier ist heute ein Irrenhaus. Am Markttag herrscht immer ein schreckliches Gedränge. Komm mit ...« Die Frau stapfte eine Treppe hinauf. Ia folgte ihr. Auf dem Speicher angekommen, sagte die Frau: »Es ist klein, aber sauber.«

Ia riß erstaunt den Mund auf, als sie das Zimmer sah. Geblümte Vorhänge flatterten vor dem offenen Fenster. Auf zwei Betten lagen weiße Tagesdecken. Auf einem Waschtisch standen ein Krug und eine Schüssel.

»Wasch dich und komm dann sofort hinunter in die Küche. Das schmutzige Geschirr türmt sich in der Spüle.«

»Mrs ....«

»Bottrell. Amy Bottrell. Und wie heißt du?«

»Ia Blewett. Aber ... Mrs. Bottrell, ich muß Ihnen etwas beichten ... ich habe vorhin gelogen. Ich bin nicht das Mädchen, das sie erwarten. Ich suche verzweifelt eine Arbeit, und ich kann hart arbeiten ... Sie werden es nicht bereuen, wenn Sie mich einstellen.« In Ias Augen war ihre Verzweiflung zu lesen, während sie ängstlich Mrs. Bottrell ansah.

Die Frau stemmte ihre Hände in beide Hüften und musterte Ia streng. »Es ist gut, daß du mir die Wahrheit gesagt hast. Aber es war töricht, überhaupt zu lügen, nicht wahr?«

»Ja«, antwortete Ia beschämt. »Ich lüge normalerweise nicht. Ich hätte nur keine weitere Nacht im Freien verbringen können ... deshalb habe ich gelogen.«

»Bist du fortgelaufen?«

»Ja.«

»Sucht man nach dir?«

»Das weiß ich nicht.«

»Von wo bist du fortgelaufen?«

Ia holte tief Luft. »Ich war im Waisenhaus in Truro. Dann bekam ich eine Stelle im Haus des Vorsitzenden des Verwaltungsrats, aber ... nun, ich habe dem Mann mißtraut. Er hat mich so merkwürdig angesehen und mich berührt ...« Ia erschauderte.

Mrs. Bottrell verzog angeekelt das Gesicht. »Es gibt überall alte Lüstlinge. Wasch dich und komm hinunter, Mädchen.«

»Heißt das, ich kann bleiben?«

»Drei Shilling die Woche und kostenloses Essen. Die Trinkgelder gehören dir. Bis Oktober keine Freizeit, aber dann hast du einen halben Tag in der Woche frei. Beeil dich jetzt, die Mittagessen werden bald serviert.«

Ia machte sich rasch zurecht und eilte in die Küche hinunter. Bald steckte sie bis über beide Ellbogen in der Seifenlauge.

Mrs. Bottrell hatte zwar ein fröhliches Gesicht, aber in der Küche entwickelte sie sich zum Tyrannen. Sie schrie, schimpfte und fluchte. Bratpfannen flogen durch die Luft, und ihre Küchengehilfinnen bekamen auch gelegentlich eins hinter die Ohren. Kaum war die mittägliche Schlacht erfolgreich geschlagen und alle Essen serviert, war sie wieder die freundlichste Person von der Welt. Um drei Uhr versammelte sich das Personal am Küchentisch, und Ia aß zum erstenmal seit Jahren wieder köstliche Speisen: Suppe mit frischem Brot, Steak und Austern-Pastete und Erdbeeren mit Schlagsahne. Sie hätte sich nie träumen lassen, daß einfache Küchenmädchen wie sie ein derartiges Essen vorgesetzt bekamen.

John Bottrell, der Gastwirt, war korpulent und eine Frohnatur wie seine Frau. Ihr Sohn, John, war von schlichtem Gemüt und half dem Stallknecht bei den Pferden. Außer Ia arbeiteten noch drei Mädchen in der Küche. Dann war da noch Sarah, die dem Wirt hinter der Bar half.

Während der Mahlzeit kam das Mädchen an, dessen Stelle Ia eingenommen hatte. Es war ein schmales, verängstigtes Wesen. Selbst die wohlmeinendste Seele hätte es nicht hübsch nennen können. John Bottrell musterte das Mädchen kurz, unterhielt sich flüsternd mit seiner Frau, und beide starrten dann Ia an, die vor Verwirrung errötete.

»Ich könnte noch eine Hilfe an der Bar und beim Servieren brauchen, Ia. Das übernimmst du.«

Ia verbarg ihre Begeisterung. Sie hatte sich schon ausgerechnet, daß sie bei drei Shilling Lohn als Spülmädchen weniger verdiente, als sie in Truro bekommen hätte, und in der Küche würde sie kein Trinkgeld bekommen.

»Dafür braucht sie aber ein hübsches Kleid. Leih ihr eins, Sarah, bis ich Stoff kaufen und Ia sich eins nähen kann.«

An diesem Abend war Ia mit ihrem frischgewaschenen, schulterlangen Haar in Sarahs enganliegendem, gemustertem Baumwollkleid die Sensation in der Bar. Mr. Bottrell war sehr zufrieden mit ihr und mit der geduldigen Art und Weise, wie sie mit den lüsternen Männern umging – denn die erregten Männer tranken mehr.

Die vollbeladenen Tabletts mit den Speisen zu tragen, war Schwerstarbeit. Je später es wurde, um so weiter schien die Küche von den Tischen des Gastraums entfernt zu sein. Ias Arme schmerzten vom Tragen der sechs Krüge mit schäumendem Bier, die sie auf einmal zu den durstigen Zechern schleppte. Und sie war es auch müde, die. grapschenden Hände der Gäste abzuwehren und dabei eine freundliche Miene zu bewahren.

Um halb zwei Uhr morgens erbarmte sich der Wirt ihrer und schickte sie zu Bett. Erschöpft kletterte sie die Treppe hinauf. Als sie vor ihrem Zimmer ankam, öffnete sich die danebenliegende Tür, und Sarah kam mit einem Mann heraus.

Ia hatte einen Monat im Gasthaus gearbeitet. Sie besaß jetzt zwei Kleider – eins zum Tragen und eins für die Wäsche. Obwohl jeder nett zu ihr war, hatte sie keine Freunde. Das neue Mädchen, Sue, mit der sie die Kammer teilte, war sehr wortkarg, und vor Sarah hatte sie Angst. In ihr spürte sie eine Härte, die sie an die Aufseherinnen im Waisenhaus erinnerte. Auch inmitten der vielen Menschen fühlte sich Ia einsam, sie dachte oft an Jinny und wünschte, sie wäre bei ihr.

Die Arbeit war ihr mittlerweile zur Gewohnheit geworden und ermüdete sie nicht mehr bis zur völligen Erschöpfung. Das Betatschen der männlichen Gäste ertrug sie mit Gelassenheit, denn sie hatte schnell begriffen, daß ihr Entgegenkommen meistens mit einem großzügigen Trinkgeld belohnt wurde. In der blauen Schale hatte sich inzwischen eine ansehnliche Summe angesammelt.. Jeden Abend machte ihr irgendein Mann den Vorschlag, mit ihm ins Bett zu gehen, und jeden Abend wies sie das Angebot mit witzigen Bemerkungen zurück.

»Warum amüsierst du dich nicht mit den Männern?« fragte Sarah sie eines Abends.

»Nein, danke.«

»Bist du dir zu gut dafür?«

»Nein. Ich bin noch zu jung dafür.«

»Ha! Männer denken da anders. Du geilst sie richtig auf. Worüber ich mich nicht beklagen kann. Du heizt ihnen ein, und ich mache das Geschäft.« Sarah lachte. »Je früher du deine Jungfräulichkeit verlierst um so reicher wirst du..«

Ia polierte stumm die Gläser weiter. Und ich würde bald so aussehen wie du, dachte sie und betrachtete Sarahs blasses Gesicht und die nie verheilenden Entzündungen auf ihren Lippen. Ia war nicht naiv. Sie hatte Sarah genau beobachtet und wußte, daß der Lohn für ihre Gunst drei Pennies waren. Zutiefst ahnte sie, daß ihr dieses Schicksal nicht erspart bleiben würde, wenn sie mehr vom Leben erwartete. Eine Anstellung in einem Haushalt kam jetzt nicht mehr in Frage, denn ohne Referenzen würde niemand sie nehmen. Obwohl sie in dem Gasthaus relativ glücklich war, hatte sie nicht die Absicht, ihr ganzes Leben in einer Kneipe zu verbringen. Ia sehnte sich nach einer Umgebung voller schöner Dinge.

Ihre Pläne nahmen langsam eine andere Gestalt an. In der Bar wurde viel über London gesprochen. Im Vergleich zu London war Bodmin ein Dorf. Ein Mann hatte erzählt, daß man tagelang durch die Straßen gehen konnte, ohne die Stadtgrenze zu erreichen. In London konnte man auch Geld verdienen viel Geld. Die Männer sprachen von Guinees, und Ia hörte auf, von Pennies zu träumen.

jetzt arbeitete sie für das Fahrgeld nach London. Amerika konnte warten. Außerdem brauchte sie eine gewisse Summe, um die Zeit zu überbrücken, bis sie in der Großstadt Fuß gefaßt hatte. Dieser Entschluß erleichterte es ihr, die plumpen Annäherungsversuche der Gäste zu ertragen.

Ia beschloß, im April nach London zu fahren.