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Alice saß im luxuriösen Erster-Klasse-Waggon des Zuges. In ihrem neuen Reisekostüm und dem steifen Korsett fühlte sie sich äußerst unwohl. Außerdem war sie es nicht gewohnt, einen Hut zu tragen, und zupfte dauernd an ihrem Haar herum, das Flo heute morgen hochgesteckt hatte. Ihr Nacken fühlte sich merkwürdig entblößt an. Alice wußte, daß andere Mädchen aufgeregt dem Augenblick entgegenfieberten, wenn sie in die Gesellschaft eingeführt wurden, aber ihr war das ganze Theater zuwider. Warum mußte sie sich als Frau herausputzen, wenn sie am liebsten das Mädchen vom Lande geblieben wäre?

Als der Zug über die Tarnar Bridge ratterte, dachte Alice voller Traurigkeit an Queenie, die hier immer angstvoll die Augen geschlossen hatte. Wäre nur Queenie anstelle von Flo bei ihr, dann wäre ihr der Gedanke an den bevorstehenden Sommer erträglicher gewesen. Außerdem würde sie ihrer Stiefmutter begegnen, und davor hatte sie Angst. Wahrscheinlich ähnelt Vaters neue Frau Tante Maude und ist ebenso autoritär, dachte sie verzagt.

Alice verließ das Abteil und vertrat sich auf dem Gang die Beine. Hinter Exeter verzehrten sie und Flo das Essen, das Mrs. Trelawn eingepackt hatte Krabben, Hühnchenbrust und frische Früchte.

Am Ende des Zuges, in einem überfüllten Dritter-Klasse-Waggon mit hölzernen Sitzbänken, wickelte Ia ein Stück Pastete, das ihr Mrs. Bottrell mitgegeben hatte, aus ihrem Taschentuch. Auf einen Zettel hatte die Wirtin eine Empfehlung für ihre Schwester geschrieben, die in Barnet ein Gasthaus betrieb.

Alice stand in der Menschenmenge auf der Paddington Station und sah sich hoffnungsvoll nach ihrem Vater um. Er würde sie gewiß abholen. Flo hatte ein dutzendmal die Koffer gezählt und stritt sich jetzt mit einem Gepäckträger herum. »Flo, geh hinaus und schau nach, ob unsere Kutsche da ist. Ich bleibe hier beim Gepäck.

An der Bahnsteigsperre drängten sich die modisch gekleideten Passagiere aus dem Erster-Klasse-Wagen. Vom Ende des Zuges näherten sich die Dritter-Klasse-Passagiere, die in ihrer schwarzen, grauen oder braunen Kleidung wie eine Schar Krähen zwischen exotisch bunten Vögeln aussahen.

Alice trat beiseite, um die Menschenmenge vorbeizulassen. In ihrer Mitte befand sich Ia. Sie marschierte resolut und mit hocherhobenem Kopf über den Bahnsteig. Ihr selbstbewußtes Auftreten entsprach keineswegs ihren Gefühlen. Die vielen Menschen und der ohrenbetäubende Lärm erschreckten sie zutiefst, aber Ia wußte ihre Gefühle zu verbergen.

Auf ihrem Weg zur Bahnsteigsperre schaute sie in die luxuriös ausgestatteten Erster-Klasse-Waggons. Neidvoll betrachtete sie die bequemen Polsterbänke, die Lampen auf den Tischchen, die holzverkleideten Wände und Decken und die Vorhänge vor den Fenstern. Eines Tages werde auch ich im Erster-Klasse-Abteil reisen, schwor sie sich.

Ia blieb abrupt stehen. Etwas weiter vorne stand eine hochgewachsene junge Dame, die ihr merkwürdig bekannt vorkam. Sie starrte die Fremde unsicher an – es war so lange her. Aber die Haltung, das wunderschöne Profil, das feine blonde Haar – das war Alice Tregowan. Eine sehr veränderte Alice: größer und schöner in ihrem cremefarbenen Reisekostüm mit dem dazu passenden eleganten Hut. Ia fühlte, wie Zorn in ihr aufstieg. Das Gefühl war so stark, daß sie physische Schmerzen empfand. Auf der Brust spürte sie einen qualvollen Druck, der ihr den Atem raubte. Sie kämpfte mit aller Kraft darum, ihre Fassung zu bewahren, dabei wäre sie am liebsten auf Alice zugestürzt,