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Ia hatte eine Woche in der Küche gearbeitet. Jedesmal, wenn sich die Tür zur Bar öffnete, hörte sie das Stimmengewirr und sehnte sich danach, im Gastraum zu servieren. Aber sie wagte nicht, Bert Fowler darum zu bitten, denn sie hatte Angst, er könnte sie mißverstehen und denken, sie wolle die Gäste animieren.

Beim Küchenpersonal war sie nicht sehr beliebt. Die Mädchen und älteren Frauen, ehemalige Prostituierte, beneideten sie um ihr gutes Aussehen.

In ihrer Einsamkeit sehnte sich Ia oft zu Mrs. Bottrell zurück. Doch ihr ehrgeiziges Streben nach schönen Dingen, das frühzeitig in ihr geweckt worden war, hinderte sie am Fortlaufen. Der Lohn von fünf Shilling pro Woche würde ihre Ersparnisse schnell wachsen lassen.

»Entschuldigen Sie, Mr. Fowler, Sie haben mir nur drei Shilling gegeben«, sagte Ia und zeigte ihm die Münzen. Der Wirt saß am Schreibtisch in seinem Büro. Vor ihm stand eine Geldkassette, daneben lag das Abrechnungsbuch.

»So?«

»Sie haben mir fünf Shilling Lohn versprochen.«

»Weil ich dachte, du wärst eine Hure.«

»Aber ... aber davon haben Sie nichts gesagt. Sie wollten eine tüchtige Arbeitskraft, und das bin ich.«

»Küchenmädchen hab ich genug, aber zu wenige Huren.« Er warf ihr einen verschlagenen Blick zu und stapelte gleichzeitig zwei Shillingmünzen vor sich auf.

»Tut mir leid, Mr. Fowler, ich kann das nicht.« Sehnsuchtsvoll starrte sie auf die zwei Münzen.

»Auch nicht für sechs Shilling?« Er legte eine dritte Münze auf den Stapel.

»Nein, Mr. Fowler«, sagte Ia entschieden und wandte den Blick von dem Geld ab.

»Weißt du, Ia, irgendwie mag ich dich, und deswegen werde ich warten, denn früher oder später wirst du deinen Widerstand aufgeben. Ich gebe dir vier Shilling, weil du eine tüchtige Arbeitskraft bist.«

»Danke, Mr. Fowler.«

Hastig griff Ia nach der zusätzlichen Münze und floh aus dem Büro. Bert Fowler lehnte sich zufrieden zurück, stopfte seine Pfeife und zündete sie an. Er war sich seiner Sache sicher. Ia würde ihre Meinung ändern. Er hatte den Ausdruck in ihren Augen gesehen, als sie das Geld anstarrte. Bert brüstete sich gern mit seiner Menschenkenntnis – dieses Mädchen war geldgierig und würde die einzige Chance nutzen, die es hatte, um es zu verdienen.

Ein Monat war vergangen. Die unfreundliche Atmosphäre in der Küche hatte sich nicht verändert, doch Ia dachte nur an ihre Ersparnisse. Sie würde als zahlender Passagier nach Amerika reisen. Von anderen Mädchen hatte sie erfahren, unter welch schrecklichen Bedingungen die Auswanderer im Zwischendeck während der Überfahrt lebten. Ihre Ersparnisse würden ihr helfen, die Zeit nach der Ankunft zu überbrücken, bis sie eine anständige Stellung gefunden hatte, und so mußte sie nicht sofort jede verfügbare Arbeit annehmen.

Ia ging jeden Abend als erste zu Bett. Wenn sie allein in der Kammer war, zählte sie ihr Geld. Obwohl sie die Summe genau kannte – zwei Pfund, drei Shilling und vier Pennies bereitete es ihr ein beinahe sinnliches Vergnügen, das Geld zu berühren und zu zählen.

Eines Abends entdeckte sie, daß drei Pennies fehlten. Ihr wurde vor Schreck ganz übel. Verzweifelt kroch sie auf allen vieren über den Boden und suchte jeden Zentimeter ab –vergeblich. Dann durchsuchte sie das Bett und die Nachttische. Das Geld war verschwunden. Es war gestohlen worden. In dieser Nacht lag Ia lange wach und sann auf Rache. Die anderen Frauen gingen zu Bett – die fette Sybil, die stinkende Phoebe und die magere Ruby. Ia wußte, daß sie von jeder zutiefst gehaßt wurde.

Am nächsten Tag in der Küche beobachtete sie die anderen wie ein Habicht. Als Sybil hinausging, folgte sie ihr heimlich. Auf Zehenspitzen schlich sie die Treppe hinauf, den Korridor entlang zu ihrem Zimmer. Leise stieß sie die Tür auf und sah Sybil vor ihrem Nachttisch stehen, auf dem die azurblaue Schale stand.

»Du Miststück! Leg sofort mein Geld zurück!« Ia stürzte ins Zimmer, packte ihre kostbare Schale und spähte ängstlich hinein.

»Ich hab dein blödes Geld nicht gestohlen, du hochnäsige Kuh.«

»Doch. Ich hab’s gesehen. Lüg mich nicht an, du Diebin!« Ia stellte die Schale zurück, drehte sich um, packte mit einer Hand Sybil und boxte sie in den Magen. Sybil klappte mit einem Schmerzensschrei zusammen. Ia zerrte sie an den Haaren, schlang ihr Bein um Sybils Beine, die daraufhin polternd zu Boden stürzte. Ia packte mit beiden Händen den Kopf ihrer Feindin und schmetterte ihn ein paarmal auf die Holzdielen. Sybils Schreie gellten durchs Haus. Gwen kam als erste angelaufen, gefolgt von vier Mädchen, die abwechselnd Sybil und Ia anfeuerten.

Ia war außer sich vor Wut und schlug mit den Fäusten noch immer auf Sybil ein. Plötzlich wurde sie am Kragen gepackt und hochgezogen.

»Verdammt noch mal, was ist denn hier los?« brüllte Bert.

»Sie hat mein Geld gestohlen« Ia deutete anklagend auf Sybil.

»Stimmt das, Sybil?«

»Nein, sie lügt, Mr. Bert. Unverschämte Frechheit«, schimpfte Sybil und stand mühsam auf.

»Sybil?« Bert hob drohend die Hand. Sybil zuckte zusammen und starrte zu Boden ... »Sybil, du gibst ihr das Geld zurück. Ich kenne dich.«

Mit gesenktem Kopf kramte Sybil in der Tasche ihres schmutzigen Rocks und holte eine Handvoll Pennies heraus. Bert nahm die Münzen und gab sie la, die sie hastig in ihre Schale legte. »Du bist eine Närrin. Du darfst niemandem auf dieser Welt vertrauen, hörst du? Geld sperrt man weg und läßt es nicht herumliegen, damit jeder es klauen kann.« Er schlug nach Sybil, die auswich und aus dem Zimmer floh. »Verschwindet! Ich will mit Ia reden.«

Bert schloß die Tür hinter den Mädchen und stellte sich breitbeinig davor.

»Ia, ich habe jetzt lange genug gewartet. Es wird höchste Zeit, daß du aufhörst, das Veilchen Rühr-mich-nicht-an zu spielen. Heute nacht bist du dran. Jetzt ist Schluß mit dem Gezeter.«

»Kommt überhaupt nicht in Frage.«

»Oh, doch. Ich betreibe hier doch kein verdammtes Wohlfahrtsinstitut. Das ist ein Bordell und kein Nonnenkloster.«

»Ich habe nichts angestellt und arbeite hart. Fragen Sie die Köchin.«

»Für diese Art von Arbeit stehen die Mädchen Schlange an der Küchentür. Du steigst heute abend ins Gewerbe ein, hast du verstanden? Gwen gibt dir ein Kleid und zeigt dir, wie man Männer aufgeilt ...«

»Tut mir leid, Mr. Fowler, ich habe Ihnen meine Ansichten darüber erklärt.«

»Du bist dir wohl zu gut dafür, wie?«

»Nein, Mr. Fowler. Ich bin mir nicht zu gut dafür, aber Ihre Gäste sind mir nicht gut genug.« Ia stand angriffslustig vor ihm.

»Für wen hältst du dich eigentlich, hm? Da draußen hältst du es keine fünf Minuten aus! In ein paar Tagen bist du wieder hier und wirst mich auf Knien anflehen, dich zu meinen Bedingungen aufzunehmen.

»Lieber würde ich verhungern, als Sie um etwas zu bitten.«

»Jetzt reicht’s mir! Du hast es dir selbst zuzuschreiben. Wenn du deine Jungfräulichkeit nicht verkaufen willst, dann nehme ich sie mir.« Er stürzte sich auf Ia, schleuderte sie aufs Bett und schob ihren Rock hoch.

Ia starrte ihn entsetzt an und lächelte dann.

»Ach, hast du deine Meinung geändert? Bist wohl scharf auf mich, wie?«

»Ja, Mr. Fowler«, hauchte Ia, winkelte ihr Knie an und rammte es ihm mit aller Wucht in die Genitalien.

»Du verdammte Hure ...« keuchte er und wand sich wimmernd auf dem Fußboden. »Das wirst du mir büßen ... ich bringe dich um ...« brüllte er.

Ia sprang über seinen zusammengekrümmten Körper, raffte ihre wenigen Habseligkeiten zusammen und steckte sie mit der Schale in ihren Stoffbeutel. Dann rannte sie wie von allen Furien gehetzt aus der Kammer, die Treppe hinunter und durch die Kneipe hinaus auf die Straße. Sie lief und lief, bis sie sicher war, Whitechapel hinter sich gelassen zu haben.