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»Sieh dir nur diesen Haufen Kleider an, Flo«, sagte Alice entgeistert, als ihre Zofe mit einem weiteren Paket ins Zimmer kam. Alice war von Schachteln, Seidenpapier, Schleifen und Bändern umgeben und deutete auf den Berg von Seiden- und Satinkleidern auf ihrem Bett. »Wer, um alles in der Welt, braucht so viele Kleider?«

»Jemand wie Sie, Miss Alice. Sie sind jetzt eine große Dame«, antwortete Flo.

»Ich fühle mich nicht als große Dame, Flo. Ich fürchte, ich bin für meinen Vater eine schreckliche Enttäuschung. Ich wäre viel lieber wieder auf Gwenfer. Nachts träume ich davon, den Wind in meinen Haaren zu spüren, den Turmfalken zuzusehen und Mrs. Trelawns Safrankuchen zu essen ...« Da schluchzte Flo plötzlich und brach in Tränen aus. »Flo, meine Liebe, was hast du?«

»Ich habe so Heimweh nach Gwenfer, Miss Alice«, stammelte sie.

»Arme Flo. Ich war so mit meinen Gefühlen beschäftigt, daß ich gar nicht an dich gedacht habe. Ich hatte keine Ahnung, daß du hier unglücklich bist.«

»Alles ist eine schreckliche Enttäuschung. Ich war so glücklich, als Sie mir sagten, daß ich Sie begleiten soll. In meinen Augen war London ein Paradies voller Überraschungen und Aufregungen. Aber die Dienstboten hier sind hochnäsig und lachen mich aus. Und ich hasse diese Véronique, sie macht mir das Leben zur Hölle ...«

»Du wirst morgen nach Gwenfer zurückkehren. Ich will nicht, daß du unglücklich bist.«

»Ach, Miss Alice!« Flos Gesicht hellte sich vor Erleichterung auf. Dann runzelte sie besorgt die Stirn. »Nein, ich muß bleiben. Ich kann Sie doch nicht allein hier lassen. Sie sind doch auch unglücklich.«

»Unsinn! Es hat doch keinen Sinn, daß wir beide leiden. Ich bleibe nur den Sommer über und kehre dann nach Gwenfer zurück.«

»Und wenn Sie sich verloben?«

»Ich habe nicht die Absicht, mich zu verloben oder zu heiraten. Ich möchte nach Hause zurückkehren. Kein Mann wird mich davon abhalten. Nein, Flo« Alice hob die Hand, als Flo protestieren wollte. »Ich werde Phillpott bitten, alles Nötige für dich zu arrangieren. Geh jetzt und packe deine Sachen!« Alice war erst einen Monat in London, und die Saison hatte noch nicht einmal richtig begonnen. In diesen vier Wochen hatte sie keine Zeit gefunden, die Kunstgalerien und Museen zu besuchen, wie Miss Gilby vorgeschlagen hatte, denn jede Minute wurde den Vorbereitungen für ihr Debüt gewidmet. Alice mußte stundenlange Anproben über sich ergehen lassen, während die Näherinnen um sie herumschwärmten. Ihr Haar wurde einer täglichen Tortur unterzogen, mit der Brennschere gelockt und am Hinterkopf hochgesteckt, so daß ihre Lockenpracht wie eine Kaskade auf die Schultern fiel. Gegen ihren Willen mußte sie Daisys Energie bewundern. Ab Mittag war dieses zarte Püppchen ein wahrer Wirbelwind.

Gemeinsam machten sie ausgedehnte Einkaufsbummel durch die Stadt. Die Geschäftsleute waren ängstlich darum bemüht, Lady Tregowans ausgefallene Wünsche zu erfüllen. Alice bekam nie eine Rechnung zu Gesicht, wußte aber, daß ihre Garderobe eine Unmenge Geld verschlang. Wenn sie an die Kosten dachte, bekam sie ein schlechtes Gewissen. Bei der Rückfahrt von der Oper, vom Theater oder einem der unzähligen Dinner sah sie Bettler auf den Straßen oder Obdachlose, die in Toreinfahrten und im Park schliefen. Sie hatte die jungen, grell geschminkten Mädchen in ihren kurzen Röcken gesehen, die sich am Haymarket herumtrieben – und konnte in ihrer Naivität nur ahnen, welchem Gewerbe sie nachgingen.

Sie machte einen vergeblichen Versuch, ihre Stiefmutter daran zu hindern, weiterhin derart verschwenderisch Geld auszugeben.

»Ich habe jetzt doch wirklich genug Kleider, Daisy Dear. Könnten wir nicht statt dessen den Bettlern etwas geben?«

Daisy starrte sie mit ihren kornblumenblauen Augenentgeistert an. »Warum denn, um Himmels willen? Sie würden es doch nur für Bier ausgeben.«

»Vielleicht würden sie sich eine warme Mahlzeit kaufen.«

»Natürlich nicht.«

»Das weißt du doch nicht, Daisy Dear. Es kommt mir einfach ungerecht vor, daß wir im Überfluß leben, während diese armen Menschen weder zu essen noch ein Dach über dem Kopf haben.«

»Was für lächerliche Ansichten! Würden wir nicht alle diese hübschen Sachen kaufen, wovon sollten dann die Näherinnen, die Schuhmacher und andere Handwerksleute leben? Du meine Güte, Alice, du gibst manchmal wirklich erschreckende Dinge von dir. Diese Neigungen kommen wohl von deinem vertrauten Umgang mit den Dienstboten. Nun, was wollen wir heute abend anziehen?«

Diese kurze Unterhaltung zeigte Alice, daß es keinen Sinn hatte, mit ihrer Stiefmutter darüber zu diskutieren.

Alice haßte die ausgedehnten Dinner, an denen sie teilnehmen mußte. Herausgerissen aus der Einsamkeit von Gwenfer er, war es ihr unerträglich, beinahe jeden Abend höflich Konversation mit Fremden machen zu müssen. Sie hatte sich nie für schüchtern gehalten, aber mit diesen Menschen konnte sie nichts anfangen. Sie wußte nicht, worüber sie reden sollte, verstand deren Witze nicht und fand auch keine geistreichen Antworten. Der Klatsch interessierte sie nicht, da ihr die Leute unbekannt waren, über die getratscht wurde. Auch die jungen Leute, die sie kennenlernte, boten ihr keine Anregung. Sie verfiel bei Tisch meist in gehemmtes Schweigen und kam sich linkisch und unattraktiv vor, während ihre Stiefmutter vor Lebenslust und Witz sprühte.

In ihrer Verzweiflung bat Alice Daisy Dear, bis zum Beginn der Saison die Anzahl der Dinner, an denen sie teilnehmen mußte, auf eines pro Woche zu beschränken. Verärgert über das gehemmte Verhalten ihrer Stieftochter in der Gesellschaft, stimmte Daisy Dear diesem Vorschlag derartig begeistert zu, daß Alice noch schüchterner und unbeholfener auftrat.

Ohne die täglichen Spaziergänge im Park, in Begleitung einer Anstandsperson wäre Alice wohl verrückt geworden. Jetzt hatte sie nicht einmal mehr Flo, mit der sie sich hatte ungezwungen unterhalten können, sondern war der Obhut Chantals anvertraut, einer neuen französischen Zofe, die ihre Stiefmutter für sie ausgewählt hatte.

Alice konnte nicht wissen, daß auch Ia zu den Obdachlosen gehörte, die sich nachts auf den Straßen herumtrieben. In den Wochen, die vergangen waren, seit sie aus Bert Fowlers Kneipe geflohen war, hatte Ia ein erbärmliches Dasein am Rande des Hungertodes gefristet.

Sie war ohne Ziel und Plan aus Whitechapel davongelaufen. Als es Nacht wurde, fand sie eine billige Imbißstube, in der sie sich aufwärmte. Die Besitzerin ließ sie bis elf Uhr in einer Ecke sitzen, doch dann wischte sie den Tisch ab und sagte: »Wir schließen jetzt, Mädchen. Hast du denn keinen Platz, wo du übernachten kannst?«

»Nein.«

»Es regnet, da kannst du nicht im Freien schlafen. Hast du Geld?« Ia nickte und sah die Frau argwöhnisch an. »Wenn du dich beeilst, bekommst du im Obdachlosenheim ein paar Häuser weiter vielleicht noch ein Bett.«

»Was kostet das?«

»Sechs Pennies für ein Einzelbett, vier für ein Doppelbett.«

»Ich will nicht mit einem fremden Menschen das Bett teilen.«

»Recht hast du, Mädchen. Ich gebe dir einen Rat: Zieh das Bett ab und wickele dich in diese Zeitung, die schützt vor Flohbissen.« Sie lachte gutmütig. »Und leg dich auf deine Habseligkeiten, damit sie dir nicht geklaut werden.«

»Vielen Dank, ich werde Ihren Rat beherzigen. Sie brauchen nicht zufällig eine Hilfe, wie? Mir ist keine Arbeit zu schwer.«

»Leider nicht. Die Bude wirft wenig ab. Es reicht gerade für meinen Mann und mich. Mach’s gut«, fügte sie hinzu und schloß die Tür hinter Ia.

Ia fand die Herberge und wurde in einen Schlafsaal mit über sechzig Betten, zwischen denen Matratzen auf dem Boden lagen, geführt. Sie bezahlte die sechs Pennies für ein Bett.

Voller Ekel betrachtete sie die schmutzige graue Decke und warf sie unters Bett. Dann zog sie alle ihre Kleider an, wickelte sich in die Zeitung und versteckte die blaue Schale zwischen ihren Beinen. Sie war so erschöpft, daß sie gleich einschlief. Gegen ein Uhr schreckte sie aus dem Schlaf auf. Eine Horde Betrunkener torkelte in den Saal. Mit der Nachtruhe war es vorbei, denn die Männer grölten und sangen bis zum Morgengrauen.

Am nächsten Tag suchte sie vergeblich Arbeit. Die Sonne zeigte ihr den Weg in den Westen der Stadt, in die reichere Gegend, wie man ihr gesagt hatte. Auch am Abend herrschte dort noch geschäftiges Treiben auf den Straßen. Aus den überfüllten Pubs und Restaurants drangen Stimmengewirr und Gelächter. Straßenmusikanten spielten auf den Plätzen, und ein Mann ließ zum Klang seiner Flöte einen Bären tanzen. Die heitere Atmosphäre gefiel Ia.

»Verschwinde, du blöde Kuh.«

Ia fühlte einen Stoß im Rücken und fiel der Länge nach in den Rinnstein. Als sie aufblickte, sah sie zwei aufgetakelte Mädchen, die ihre Röcke bis zu den Waden gerafft hatten, so daß die in engen schwarzen Lederstiefeln steckenden Beine zu sehen waren.

»Das ist unser Revier«, zischte die Blonde.

»Tut mir leid. Ich will zum West End.«

»Ha! Auf ’ne Schlampe wie dich warten sie dort gerade. Verschwinde, oder wir rufen unsere Kerle. Willst du Prügel?«

»Nein, nein. Ich geh ja schon.« Ia rappelte sich auf, drückte ihren Stoffbeutel an sich und lief, bis sie zu einem großen Park kam. Dort ließ sie sich erschöpft ins Gras fallen. Die Nacht war ungewöhnlich warm, überall lagen zusammengekauerte Gestalten. Ia suchte sich einen geschützten Platz unter einem Strauch, bettete ihren Kopf auf den Sack und verbrachte ihre erste Nacht im Freien.

Tagsüber suchte sie Arbeit. Manchmal hatte sie Glück und fand für ein paar Stunden Arbeit als Spülerin in einem Imbißstand oder Pub. Doch an den meisten Tagen ging sie leer aus und verkroch sich abends mit knurrendem Magen unter einem Busch im Hyde Park. Nur wenn das Wetter zu schlecht war, suchte sie Unterschlupf im Obdachlosenheim. Nach einer regnerischen Woche ohne Arbeit waren ihre Ersparnisse fast aufgebraucht. Ihre Kleider waren in einem miserablen Zustand, obwohl sie sich einigermaßen sauber hielt und jeden Tag in die öffentliche Badeanstalt ging, was auf die Dauer zu teuer wurde.

An einem wunderschönen Maitag saß Ia inmitten der blühenden Narzissen im Hyde Park, doch sie war blind für die Schönheit ihrer Umgebung. Ihr feingeschnittenes Gesicht war von Sorgen gezeichnet – so konnte sie nicht weiterleben. Zu Bert Fowler wagte sie nicht zu gehen. Sie hatte nicht genug Geld, um nach Cornwall zurückzukehren. Aus dieser aussichtslosen Lage scheint es nur einen Ausweg zu geben, dachte sie deprimiert: Vergiß deine Träume von einem Gentleman, und verkauf deinen Körper an den nächstbesten Mann.

Der Park war voller Menschen, die: den herrlichen Frühlingstag genossen. Kinder trieben Reifen vor sich her und spielten mit Bällen, während die Kindermädchen auf Bänken saßen und miteinander plauderten. Junge, verliebte Pärchen schlenderten selbstvergessen Hand in Hand dahin. Alte Männer und Frauen beobachteten sie und erinnerten sich wehmütig an ihre Jugendlieben.

Ia fühlte sich inmitten dieser Menschenmenge zutiefst unglücklich. Wohin hatten ihre ehrgeizigen Pläne und ihr Stolz sie geführt? Für einen Gentleman hatte sie sich aufgespart, doch welcher Herr würde sie jetzt in ihrem heruntergekommenen Zustand haben wollen? Voller Neid betrachtete sie die hübsch gekleideten jungen Frauen und wußte instinktiv, wie schön sie in eleganter Garderobe aussehen würde.

Im Waisenhaus in Truro und im Gasthaus der Bottrells hatte sie sich die Verwirklichung ihrer Träume so einfach vorgestellt. Damals hatte sie keine Ahnung gehabt, wie brutal das Leben in der Stadt war und wie einsam man sich inmitten so vieler Menschen fühlen konnte.

Eine bildschöne junge Frau näherte sich ihr. Sie trug ein weißes Kleid, und ein hübscher, weißer Parasol beschattete ihr Gesicht. Sie plauderte angeregt mit der Zofe an ihrer Seite. Ia bewunderte die stolze Haltung und die anmutigen Bewegungen dieser Frau. Als sie näher kam und den Parasol in die andere Hand nahm, konnte Ia ihr Gesicht sehen. Es war Alice Tregowan. Ia verkroch sich tiefer unter dem Busch und beobachtete sie voller Neid und Verbitterung. Die beiden jungen Damen schlenderten vorbei und warfen nicht einmal einen flüchtigen Blick in las Richtung. Warum sollten sie auch? Ia war nur eine von Hunderten, die sich ihrer Armut schämten:

Ia stand auf, raffte ihre Habseligkeiten zusammen und folgte Alice in sicherer Entfernung durch den Park, zum Tor hinaus und in die Park Lane. Hinter einem Baum verborgen, beobachtete sie, wie Alice mit ihrer Zofe die Stufen einer eleganten Villa hinaufging und eingelassen wurde. Hastig lief Ia zum Personaleingang des Hauses, sprang die Kellertreppe hinunter und klopfte an die Tür.

Ein Lakai in Hemdsärmeln öffnete ihr. Ia hielt ihn für den schönsten Mann, den sie je gesehen hatte.

»Entschuldigen Sie bitte, haben Sie Arbeit für mich?«

»Verschwinde!«

»Bitte.« Ehe er ihr die Tür vor der Nase zuschlagen konnte, schenkte sie dem Diener ein strahlendes Lächeln, ein Lächeln, das Männer bezirzte, wie sie wußte. »Ich komme vom Besitz der Tregowans in Cornwall, aus Gwenfer. Ich habe gehofft, hier in der Küche Arbeit zu finden.«

Der Lakai zögerte und musterte Ia von Kopf bis Fuß. »Aus Gwenfer? Warte einen Augenblick.«

Ia schien eine Ewigkeit zu warten, bis die Tür wieder geöffnet wurde. »Komm mit«, sagte der gutaussehende Lakai, und sie folgte ihm in die Küche.

»Bist du wirklich aus Gwenfer?« fragte die Köchin argwöhnisch.

»Ja.«

»Schade, daß Flo nicht mehr hier ist, sie hätte uns sagen können, ob es stimmt. Kennst du Miss Alice?«

»Nicht persönlich. Aber ich habe sie natürlich ein paarmal gesehen«, antwortete la. »Mich kennt sie selbstverständlich nicht«, fügte sie hastig hinzu.

»Wie heißt die Köchin auf Gwenfer

»Mrs. Trelawn.«

»Und die Haushälterin?«

»Mrs. Malandine, und Mr. George ist der Kutscher.«

»Stimmt. Nun, dann wasch dich erst mal gründlich. Du kannst probehalber einen Monat als zweites Küchenmädchen bleiben. Fanny wird dir zeigen, wo du schläfst und was du zu tun hast.«

Ia hatte zwar ganz andere Pläne gehabt, aber hier war sie wenigstens in Sicherheit, hatte Arbeit und konnte wieder sparen.