Ia wälzte sich müde aus dem Bett, tastete im Dunkeln nach ihren Kleidern und zog sich so leise wie möglich an, um Fanny nicht zu wecken. Fanny war erstes Küchenmädchen und durfte eine halbe Stunde länger schlafen.
In Strümpfen und auf Zehenspitzen schlich Ia aus der Mansarde im Dachgeschoß, die Hintertreppe hinunter und wagte erst im Keller, ihre Schuhe anzuziehen. Vorsichtig öffnete sie die Küchentür und knipste das Licht an. Grinsend beobachtete sie die Schar von Küchenschaben, die hastig in ihre dunklen Ecken flohen.
Dann durchquerte sie die Küche und starrte mißmutig den riesigen Herd an, in dem sie jeden Morgen Feuer machen mußte. Diese Arbeit fürchtete sie am meisten. Für Ia war der Herd ein unberechenbares, böswilliges Monster. Sie war davon überzeugt, daß er ein Eigenleben hatte, deswegen sprach sie stets sehr höflich mit ihm, um ihn nicht gegen sich aufzubringen. Sie folgte jeden Morgen derselben Routine, kratzte die Asche vom Rost, legte Papier, Holzspäne und Kohle darauf. An manchen Tagen loderten die Flammen sofort auf, doch an anderen spuckte ihr der Herd qualmenden Rauch ins Gesicht, bis ihr Tränen über die Wangen liefen.
»Na, mein Schöner, wirst du heute für Ia ordentlich brennen oder nicht?« fragte sie laut und hielt das Zündholz ans Papier. Mit diesem Stoßgebet begann für sie jeder Tag, denn um halb sieben kam die Köchin herunter, und wenn dann das Feuer nicht brannte und das Wasser im Kessel nicht brodelte, bekam sie Schelte.
An diesem Morgen fingen die Späne sofort zischend und prasselnd Feuer. »Ach, du lieber, braver Kerl, was bist du doch für ein Engel.«
»Wenn du weiter so mit dem Herd sprichst, kommst du noch in die Klapsmühle.«
Ia kniete noch vor dem Ofenloch und schaute grinsend zu Jim, dem Schuhputzer, hoch, der wie sie jeden Morgen seine Arbeit zu verrichten hatte. »Manchmal ist er ein richtiges Miststück«, flüsterte sie.
»Psst, er könnte dich hören«, sagte er lachend. »Gibt’s schon Tee?«
Ia füllte einen Kessel mit Wasser. Jim war der einzige freundliche Mensch, den sie in den vier Wochen, die sie jetzt hier arbeitete, kennengelernt hatte. Die Köchin, Mrs. Longman, war ganz das Gegenteil von Mrs. Trelawn. An manchen Tagen, wenn sie herumschrie und alles mögliche durch die Küche schleuderte, hielt Ja sie für verrückt. Diese Temperamentsausbrüche jagten ihr Angst ein. Der Butler hingegen, Mr. Phillpott, war eine ehrfurchtgebietende Erscheinung, der die Dienstboten nicht einmal wahrzunehmen schien. Die Haushälterin, eine strenge, hoffärtige Frau, pflegte nur Umgang mit der Köchin, dem Butler und ihrer speziellen Freundin Veronique, der Zofe der Herrin. Die Schar der Dienstmädchen schäkerte mit den Lakaien. Ia hatte gemerkt, daß ihr manche Diener heimliche Blicke zuwarfen, aber sie ließen sich nicht dazu herab, mit ihr zu sprechen. Fanny, das erste Küchenmädchen, war die Beförderung derart zu Kopf gestiegen, daß ihr Vergnügen jetzt darin bestand, Ia das Leben zur Hölle zu machen. Blieb noch Jim, und niemand außer Fanny und Ia schien mit ihm zu sprechen.
Es gab Tage, an denen die unfreundliche Atmosphäre Ia beinahe dazu trieb, mit ihrer Freundschaft zu Alice zu prahlen. Aber sie schwieg. Wer hätte ihr denn geglaubt? Zuerst hatte sie gehofft, hier Jemanden aus Cornwall anzutreffen, der ihren Namen vielleicht Alice gegenüber erwähnen würde, denn der Stolz verbot es ihr, von sich aus an Alice heranzutreten. Aber keiner der Dienstboten stammte aus Cornwall. Den Butler hatte sie in Begleitung Seiner Lordschaft ein paarmal auf Gwenfer gesehen, aber Mr. Phillpott erinnerte sich natürlich nicht an sie.
»Da ist dein Tee, Jim.« Sie stellte die Tasse auf den Tisch und schenkte dem Jungen ihr bezauberndes Lächeln, das ihm die Knie weich werden ließ.
»Du bist so hübsch, la«, sagte er schüchtern und errötete. Zaghaft berührte er ihre Wange.
»Jim, laß das!« sagte sie und wich zurück. Als sie seinen verletzten Gesichtsausdruck sah, bereute sie sofort ihre schroffen Worte. »Ich mag dich auch«, fügte sie hastig hinzu. Es stimmte, sie mochte diesen Jungen, aber nicht auf die Weise, wie er es erhoffte. Ihre Zuneigung galt einem anderen, denn Ia war zum erstenmal in ihrem Leben verliebt. Ihr Herz klopfte wie verrückt, wenn »er« nur in der Nähe war. Es war Frederick, der Lakai, der ihr die Tür geöffnet hatte. Und er gehörte zu jenen, die ihr heimlich begehrliche Blicke zuwarfen. Aber seit jenem ersten Tag hatte er nie wieder mit ihr geredet, und er flößte ihr so viel Ehrfurcht ein, daß sie nicht wagte, ihn anzusprechen. Nachts im Bett, ehe sie einschlief, träumte sie nicht länger von Amerika. Alle ihre Sehnsüchte und Wünsche drehten sich nur noch um Frederick.
Ia richtete das Tablett für die Köchin her. Dann kehrte sie den Fußboden, füllte die Kessel und stellte sie auf den Herd. Schließlich setzte sie sich zu Jim an den Tisch und trank ihren Tee.
»Dir gefällt es hier nicht, wie?«
»Nicht besonders.«
»Wo hast du vorher gearbeitet?«
»In einem Pub in Whitechapel.«
»In Pubs verdient man gutes Geld. Da würde ich gern arbeiten.«
»Was sitzt ihr zwei da faul herum und trinkt Tee? Ich werde es Mrs. Longman sagen«, schimpfte Fanny, die gerade in die Küche kam.
»Ach, stell dich nicht so an, Fanny. Das haben wir beide doch auch getan, ehe du so verdammt hochnäsig wurdest.«
»Sprich nicht so unverschämt mit mir, Jim Trotter. Was ich getan habe, steht hier nicht zur Debatte. Ihr erlaube ich es nicht, und damit basta!« Fanny warf Ia einen gehässigen Blick zu.
»Was regst du dich so auf, Fanny? Sie hat doch ihre Arbeit getan. Laß Ia in Ruhe, Fanny. Du bist ja ’ne richtige Giftkröte geworden.«
»Ich gebe dir gleich ’ne Giftkröte, du dreckiger kleiner Gassenköter.« Fanny schlug nach ihm, aber er wich ihr grinsend aus.
»Willst du ’nen Kuß, Fanny?« Jim sprang auf, packte Fanny und gab ihr einen schmatzenden Kuß. »Vielleicht vergeht dir davon deine Nörgelei«, sagte Jim lachend und zwinkerte Ia zu. Zu ihrem Erstaunen ließ sich Fanny mit einem albernen Lächeln auf den Lippen auf einen Stuhl sinken.
»Ach, du Schlawiner«, seufzte sie schmachtend. »Gib mir auch eine Tasse Tee, ehe ich den Drachen wecke.«
Ia hatte Fanny und Jim wie fasziniert beobachtet. Die Veränderung in Fanny war verblüffend: Vielleicht war auch sie verliebt.
Fanny trug der Köchin das Tablett mit Tee aufs Zimmer. Ia legte Speck, Würstchen, Eier und Brot für das Frühstück bereit. Eine halbe Stunde später kam Mrs. Longman herunter und scheuchte Ia und Fanny mit dröhnender Stimme an die Arbeit.