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Ein Champagnerglas in der Hand, stand Chas Cordell im Salon des englischen Landsitzes und sah am anderen Ende des Salons die schönste junge Frau, die ihm je begegnet war. Sie bemerkte seinen Blick, senkte die Augen und errötete auf bezaubernde Weise. Als sie wieder aufblickte, lächelte er. Sein Lächeln hatte auf Frauen eine umwerfende Wirkung, und das wußte er.

»Wer ist das hübsche blonde Mädchen neben der Tür?« fragte er seinen Freund Gordon Ffetherting-Smythe.

»Welches Mädchen? Manchmal sehen sie alle gleich aus in ihren jungfräulich weißen Kleidern«, antwortete Gordon und lachte schallend.

»Die junge Frau mit dem auffallenden Perlenkollier.«

»Reine Zeitverschwendung, Sportsfreund. Das Mädchen scheint sich nicht für Männer zu interessieren. Eine typische eisige Jungfrau.«

»Ich möchte es trotzdem wissen.«

»Das ist Alice Tregowan. Ihr Vater ist ein steinreicher Baron – besitzt mehrere ergiebige Zinnminen. Er hat erst kürzlich die reizende Daisy Fielding geheiratet – eine bezaubernde Frau.«

»Was ist mit ihrer Mutter?«

»Sie starb vor ein paar Jahren, war dem Wahnsinn verfallen. Den Gerüchten nach hat sie Selbstmord begangen. Tregowan hat alles vertuscht. Wahrscheinlich gibt sich die Kleine deswegen so reserviert, eine Verrückte in der Familie fördert nicht gerade den Ruf. Aber ihr Vermögen dürfte diesen Makel vergessen machen.«

»Unter diesen Umständen ist es doch erfreulich, daß sie ein kleines Vermögen besitzt«, sagte Chas mit vorgetäuschtem Desinteresse.

»Von wegen kleines Vermögen! Ihre Mutter war enorm reich. Außerdem ist Alice Tregowans Erbin: Sein Sohn starb vor Jahren. Es sei denn, Daisy Dear schenkt ihm einen neuen Erben. Aber ihr Vermögen ist für einen wohlhabenden Mann wie dich eher bescheiden.«

Chas lächelte leicht spöttisch. Es war ihm ein Rätsel, wie er in den Ruf gekommen war, reich zu sein. Die Engländer hatten ihm Tür und Tor geöffnet, weil sie ihn für einen Millionär hielten. Nachdem sich dieses Gerücht einmal festgesetzt hatte, unterließ er es wohlweislich, den Irrtum aufzuklären. Welcher Mann könnte schon der Versuchung widerstehen, als begehrter Junggeselle zu gelten?

Als er in England angekommen war, mit einem Empfehlungsschreiben von Lord Chisholm ausgestattet, hatte er sich Sorgen gemacht, wie lange er wohl mit seinen begrenzten Mitteln auskommen würde. Seit jenem Tag hatte er im Luxus gelebt, war in der Gesellschaft herumgereicht worden und hatte sein Kapital kaum angetastet. Die Engländer faszinierten Chas: Geld hielten sie für vulgär – nie wurde darüber in kultivierten Kreisen gesprochen –, und doch schienen sie vom Reichtum besessen zu sein. Eine junge Debütantin konnte von strahlender Schönheit sein, aber ohne Geld hatte sie kaum mehr Chancen als eine Verkäuferin. Chas konnte sich an unzählige Unterhaltungen mit Gordon und dessen Freunden erinnern, die ausschließlich die Herkunft eines Mädchens zum Thema hatte.

»Kennst du sie? Ich würde ihr gern vorgestellt werden.«

»Ja, natürlich kenne ich sie«, sagte Gordon gelangweilt, denn seine Familie pflegte natürlich gesellschaftlichen Umgang mit allen wichtigen Persönlichkeiten.

Es dauerte eine Weile, bis sich die beiden durch die Menschenmenge gedrängt hatten, denn sie wurden immer wieder von Bekannten und Freunden in Gespräche verwickelt. Endlich standen sie vor Alice.

»Miss Tregowan«, sagte Gordon und verneigte sich. »Darf ich Ihnen meinen Freund, Chas Cordell aus Amerika, vorstellen?«

Alice streckte ihm die Hand hin. »Mr. Cordell, ich bin noch nie einem Amerikaner begegnet.«

»Wie erfreulich für mich, Miss Tregowan, dann werde ich Sie nicht so schnell langweilen.«

Sein Lächeln machte Alice nervös. Ihr logischer Verstand sagte ihr, daß allein ein Lächeln unmöglich ihren Puls zum Rasen bringen konnte. Er war gutaussehend, hatte blondes Haar wie sie, klare blaue Augen und war breitschultriger als die meisten Männer im Salon. Aber es gab doch viele gutaussehende Männer ... »Ich kann mir nicht vorstellen, daß sich jemand in Ihrer Gegenwart langweilt«, hörte sie sich zu ihrem eigenen Erstaunen antworten.

Alice bedauerte es, daß in diesem Augenblick zu Tisch gebeten wurde und sie sich von diesem interessanten Mann trennen mußte. Wenn sie sich leicht vorneigte und den Kopf nach links wandte, konnte sie Chas Cordell sehen. Es fiel ihr schwer, sich auf die Unterhaltung ihres Tischherrn zu konzentrieren. Ihre Gedanken wanderten auf beängstigende Weise.

Das ausgedehnte, üppige Mahl war endlich zu Ende. Die Damen zogen sich zurück. Alice mied im Salon die Nähe ihrer Cousine, die inmitten ihrer kichernden Freundinnen saß und ständig zu ihr herschaute.

»Deine Cousine ist einfach unverschämt«, sagte Gertie und setzte sich neben Alice.

»Ich kann dir nur zustimmen, Gertie. Gladys war ein boshaftes Kind und scheint sich nicht geändert zu haben.«

»Es ist eine Schande, daß man sich die Verwandtschaft nicht auswählen kann wie Freunde.«

»Kennst du Chas Cordell?« fragte Alice möglichst beiläufig. »Ein gutaussehender Mann, nicht wahr? Ich habe gehört, er ist ein sehr reicher Amerikaner. Er ist ein Freund meines Bruders. Großer Gott, ich spreche ja schon wie deine widerliche Cousine!« Sie lachte. »Entdecke ich in meiner neuen Freundin, die gesagt hat, sie wolle nie heiraten, etwa ein gewisses Interesse?«

»Gertie, mach dich nicht über mich lustig. Ich habe mich nur nach ihm erkundigt.« Aber ihr Erröten verriet sie.

In einem kleineren Salon begann Musik zu spielen, und die jüngeren Gäste schlenderten dorthin, um zu tanzen.

Alice saß in einem mit Brokat bezogenen Sessel und hoffte, daß Chas Cordell weder das Billardspiel vorzog noch eines der anderen Mädchen zum Tanz auffordern würde.

»Miss Tregowan, tanzen Sie Polka? Erweisen Sie mir die Ehre?«

»Ich tanze nicht sehr gut.«

»Bestimmt nicht schlechter als ich.« Chas lächelte sie an und führte sie zur Tanzfläche. Alice tanzte so gut wie nie zuvor. Auf die Polka folgte ein Walzer, und nur weil es die Anstandsregeln geboten, verzichtete sie auf einen weiteren Tanz. Entgegen ihrer Erwartung gesellte sich Chas Cordell nicht zu seinen Freunden, sondern blieb hinter ihrem Sessel stehen. Gertie stellte ihr Basil Frobisher, einen großen, gutmütig aussehenden Mann, vor, der die klaren Augen und den rötlichen Teint eines Menschen hatte, der sich viel im Freien aufhielt. Gertie hatte recht: Basil verstand sehr viel von Kunst, und zu Alices immenser Freude beteiligte sich auch Chas sachkundig und vehement an einer Diskussion über Mr. Ruskins Werk und Engagement für die Kunst.

Die Konvention verlangte, daß junge Damen vor Mitternacht zu Bett gingen. Widerstrebend verabschiedeten sich Alice und Gertie.

Alice fand keinen Schlaf, was für sie eine völlig neue Erfahrung war. Ihre Gedanken kreisten ausschließlich um Chas Cordell, und sie rief sich jeden Satz ihrer Unterhaltung ins Gedächtnis zurück.

Am nächsten Tag war er nicht da. Die meisten jungen Männer waren nach Windsor zu einem Kricketspiel gefahren. Alice verbrachte den Vormittag bei anregenden Gesprächen mit Gertie. Ich habe eine Freundin, dachte sie mit zunehmender Freude. Kurz vor dem Mittagessen wurde sie zu ihrer Stiefmutter gerufen.

»Alice, meine Liebe, darf ich dir einen wohlmeinenden Rat geben?« zwitscherte Daisy Dear. »Tanz nicht zu oft mit einem Verehrer – das schickt sich nicht.«

»Ich verstehe nicht, Daisy Dear«, sagte Alice, aber ihr Herz pochte wie rasend, denn sie wußte genau, was ihre Stiefmutter damit andeuten wollte.

»Junge Damen zeigen ihr Interesse nicht, Alice. Du weißt genau, daß ich von diesem feschen Amerikaner spreche. Sicher gelten in Amerika dieselben gesellschaftlichen Regeln. Du darfst ihm kein Entgegenkommen zeigen, das schreckt Männer ab. Du meine Güte, ich habe deinem Vater monatelang die kalte Schulter gezeigt, bis er völlig verrückt nach mir war.« Sie lachte fröhlich. »Das mußt du auch tun, Alice.«

»Es ist nicht, wie du meinst, Daisy Dear. Mr. Cordell und ich interessieren uns nur für dieselben Dinge – Kunst und Musik. Ich glaube nicht, daß er Interesse an mir hat.«

»Es gibt nur eine Art von Interesse, und die zeigt Mr. Cordell für dich, meine Liebe. Er ist wirklich ein sehr charmanter Mann und auch wohlhabend, wie man sagt.«

Zu Alice’ Erleichterung wechselte Daisy das Thema und besprach ihre Garderobe für den Abend. Endlich gelang es Alice zu fliehen und zu Gertie zurückzukehren.

Die jungen Damen mußten am Nachmittag ruhen. Alice hätte viel lieber einen Spaziergang am Fluß entlang gemacht oder in der Bibliothek gelesen. Ungeduldig wartete sie auf die Teestunde und ging dann hinunter in den Salon.

Als die Männer sich zu den Damen gesellten, suchte Chas sofort Alice’ Nähe. Ihr war bewußt, daß jeder im Salon über sie sprach, und sie freute sich insgeheim über Gladys’ neidvolle Blicke.

An diesem Abend setzte sich Alice über alle Konventionen hinweg und tanzte fast ausschließlich mit Chas.

Vor der Abreise am nächsten Morgen suchte Chas eine Gelegenheit, um mir ihr zu sprechen.

»Darf ich Ihnen in London einen Besuch abstatten, Miss Tregowan?«

»Ich würde mich geehrt fühlen, Mr. Cordell«, entgegnete sie und ärgerte sich über die steife Etikette, die sie daran hinderte, ihn Chas zu nennen und ihm zu sagen, wie sehr sie sich danach sehnte, ihn wiederzusehen. »Mein Debütantinnenball findet in drei Wochen auf Fairhall, dem Besitz meines Vaters in Berkshire, statt. Falls Sie keine anderen Verpflichtung haben ...«

»Miss Tregowan, ich wäre überglücklich, daran teilnehmen zu dürfen.«

»Ich werde Ihnen eine Einladung zukommen lassen«, antwortete sie, erstaunt über ihre Keckheit.