Alice war verzweifelt. Am Donnerstag hatte sie Chas zum letztenmal gesehen. Jetzt wartete sie jeden Tag vergeblich auf seinen Besuch. Er war nicht gekommen. Am liebsten wäre sie zu Hause geblieben, falls er unvermutet erscheinen sollte, doch Daisy wollte davon nichts hören.
»Soll er kommen und dich nicht antreffen, wird ihm das eine Lehre sein. Mein Besuchstag ist der Donnerstag. Wenn er dann nicht kommt, haben wir uns in ihm getäuscht«, erklärte Daisy unumwunden.
Sechs Tage vergingen, in denen eine sehr verzweifelte und lustlose Alice ihre Stiefmutter zu Einladungen und zum Einkaufen begleitete. Aber wenigstens hatte sie jetzt eine Freundin, der sie sich anvertrauen konnte – und Genie war überzeugt, daß Chas wiederkommen würde. Die beiden Mädchen verbrachten jede freie Minute gemeinsam, besuchten Museen und Kunstgalerien, saßen stundenlang beisammen und plauderten und kicherten wie alle achtzehnjährigen Mädchen. In dieser kurzen Zeit entwickelte sich zwischen Alice und Gertie eine Freundschaft, die ein Leben lang dauern sollte.
Am Donnerstag fieberte Alice voller Ungeduld dem Nachmittag entgegen. Als die ersten Gäste kamen, um zwanglos bei Tee und Gebäck zu plaudern, vermochte Alice nicht der Unterhaltung zu folgen, sondern starrte immer wieder erwartungsvoll zur Tür.
Nach einer Stunde hätte sie sich am liebsten in ihrem Zimmer verkrochen, um sich ganz ihren Gedanken an Chas hingeben zu können. Die Intensität ihrer Gefühle für diesen Mann war für sie wie ein Schock. Ist das die Liebe? fragte sie sich unablässig. Sie fand sich in diesem Wirrwarr von Emotionen nicht zurecht, denn sie hatte zu lange geglaubt, sich nie verlieben zu können. Außerdem war Chas der absolut ungeeignetste Mann für sie. Nie im Traum hatte sie daran gedacht, einmal nach Amerika zu gehen. Aber wie Millionen von Frauen vor ihr mußte sie lernen, daß die Liebe alle Pläne, Ideale und Vorsätze dahinschwinden läßt.
»Miss Tregowan.« Alice hatte sich vergeblich bemüht, den Ausführungen eines alten Freundes ihres Vaters zu folgen. Beim Klang der Stimme zuckte sie zusammen und ließ den verblüfften Mann einfach stehen. Mit strahlendem Gesicht drehte sie sich zu ihm um.
»Mr. Cordell, was für eine freudige Überraschung.« Er stellte alle anderen Männer im Salon in den Schatten.
»Miss Tregowan, ich hoffe, Sie finden mich nicht aufdringlich.«
»Im Gegenteil, Mr. Cordell. Sie beehren uns mit Ihrem Besuch.« Frustriert über den Zwang der Höflichkeitsfloskeln schüttelte sie den Kopf. »Ich fürchtete schon, Sie würden nicht kommen«, platzte sie heraus.
»Ich lag die ganze Woche mit mir im Widerstreit. Wie habe ich mich danach gesehnt, Sie zu besuchen, wagte aber nicht, diesem Wunsch nachzugeben, weil ich nicht wußte, ob Sie mich wiedersehen wollen.«
»Ach, ich habe voller Ungeduld auf Sie gewartet.« Lächelnd blickte sie zu ihm hoch, und es kostete ihn unendliche Überwindung, sie nicht zu küssen. Ihre natürliche Art machte ihn überglücklich. Er sah sich in dem überfüllten Salon um.
»Können wir irgendwo allein miteinander sprechen?«
Alice sah, daß ihre Stiefmutter angeregt mit einem Offizier plauderte. »Ich gehe hinaus, und Sie folgen mir in ein paar Minuten. Im Damensalon wird sich jetzt niemand aufhalten«, flüsterte sie und drängte sich durch die Menge zur Tür. Sie hatten zehn kostbare Minuten und genossen davon jede Sekunde, ehe Alice darauf bestand, wieder in den großen Salon zurückzukehren. Chas betrachtete Alice voller Bewunderung. Ihre blonde Schönheit schien im Halbdunkel des Zimmers zu leuchten. Alice konnte sich später nicht mehr daran erinnern, worüber sie gesprochen hatten. Völlig unbefangen und fröhlich hatte sie mit Chas geplaudert und auch mit ihm geflirtet. Sie hatten sich nicht berührt, obwohl sie sich danach sehnten. Diese Sehnsucht hatte im Zimmer eine elektrisierende Atmosphäre geschaffen – wie vor einem Gewitter.
Als junge Frau, die glaubte, verliebt zu sein, hatte sie das Zimmerbetreten. Als sie es verließ, war sie sich ihrer Liebe gewiß.