Alice stand am Fenster ihres Hotelzimmers und betrachtete das Verkehrsgewühl unten auf der Straße. Jeden Tag verbrachte sie Stunden damit, das Leben in New York zu beobachten, das sie noch immer faszinierte. Zu jeder Tages- und Nachtzeit herrschte geschäftiges Treiben. In rastloser Eile fuhren Kutschen und Pferdebahnen, wurden Handkarren dahingezerrt, und sogar die Fußgänger schienen sich schneller fortzubewegen als in London. Hier war es auch viel lauter und lärmender – die Menschen sprachen ein verwirrendes Gemisch verschiedener Sprachen.
Manchmal fand sie den Lärm der Großstadt unerträglich. Dann dachte sie an die Ruhe auf Gwenfer an einem sonnigen Tag, wenn eine leichte Brise wehte und das Meer sanft gegen die Klippen schwappte. Zu diesen Zeiten wurde sie von einer unendlichen Sehnsucht nach Cornwall überwältigt, und diese Einsamkeit und Leere konnte auch Chas nicht ausfüllen. Vor allem in diesen Stunden fehlte ihr Queenie. Alice seufzte und lehnte den Kopf gegen den Fensterrahmen. In ihrem Leben und ihren Gefühlen herrschte so viel Durcheinander, daß sie wünschte, sie könnte Queenie um Rat fragen. Wie merkwürdig es doch war, daß sie in der Fremde selten an ihre Eltern dachte, sondern oft von ihrem alten Kindermädchen träumte. Alice schob den schweren Damastvorhang zur Seite. Dieses Hotel war der Inbegriff von Luxus. Die Möbel waren aus schwarzem Mahagoni und von erlesener Eleganz. In den flauschigen Teppichen versanken die Füße bis zu den Knöcheln, und vor allem genoß sie den Luxus, jederzeit baden zu können. Aus den vergoldeten Hähnen strömte scheinbar unerschöpflich heißes Wasser, und sie ließ es unter der Dusche in kindlicher Freude wie einen Wasserfall über ihren Körper fließen. Im Gegensatz zu den wenigen englischen Häusern, in denen eine Zentralheizung installiert worden war, funktionierte hier die Heizung, und in den Räumen war es immer warm. Die Speisen waren ausgezeichnet und die Auswahl überreich. George Tregowan wäre von dem Angebot an erlesenen Weinen überrascht gewesen. Alice hatte gewiß keinen primitiven Lebensstil erwartet, doch dieser Luxus erstaunte sie.
Sie schaute auf ihre Uhr und seufzte. Es war schon elf. Manchmal fragte sie sich, was um alles in der Welt Chas jeden Morgen tat. Er holte sie vor Mittag ab. Draußen war es kalt geworden. Der herrliche Spätsommer war vorbei, und die Herbsttage Ende Oktober waren kühl. Sie brauchte unbedingt warme Kleidung. In ihren hastig gepackten Koffern hatte sie nur das Allernötigste mitgenommen, und ihre Sommergarderobe wirkte allmählich abgetragen und genügte nicht für den bevorstehenden Winter.
Alice befand sich in einem Dilemma. Sie besaß noch genau fünf Pfund. Jetzt wünschte sie, sie hätte mehr Geld mitgenommen, aber sie war ohne einen Gedanken daran, wovon sie leben sollten, aus London geflohen. Liebe und Geld lassen sich schlecht vereinbaren, dachte sie und lächelte ihrem Spiegelbild im Fenster zu. In letzter Zeit allerdings begann sie sich trotz ihrer Liebe zu Chas häufiger Sorgen über dieses Thema zu machen. Das Hotel war sicher teuer. Chas hatte ihr gesagt, wieviel Geld er besaß – das konnte nicht lange reichen. Alles wird leichter, wenn Chas einen Job hat, tröstete sie sich.
Chas hatte nie über die Kosten geklagt. Er war großzügig bis zur Verschwendung. Da war das Hotel zu bezahlen, die Blumen und Pralinen, und er brachte ihr immer kleine Geschenke in Form von Parfüm oder Taschentüchern mit. Außerdem führte er sie regelmäßig in teure Restaurants aus, was sie als überaus aufregend empfand. Hinzu kamen ihre Theater- und Opernbesuche. All diese Ausgaben zehrten Chas’ Erbe auf.
Alice liebte die Opernbesuche in der kürzlich gebauten Metropolitan Opera. Sie genoß nicht nur die herrliche Musik, sondern auch den dort zur Schau gestellten Luxus der amerikanischen Oberschicht. Chas hatte ihr Mrs: Astor, Mrs. Vanderbilt, die Goulds und andere Berühmtheiten gezeigt, deren Namen ihr nichts sagten. Chas schien stets über den letzten Klatsch informiert zu sein, wußte, wer mit wem liiert war, wie wertvoll der Schmuck war, den die Damen trugen, und vor allem, wie reich sie waren. Anscheinend war in Amerika Vermögen wichtiger als die Abstammung. Alice hatte zunächst mit Befremden darauf reagiert, daß für die Menschen hier Geld eine Obsession zu sein schien, doch allmählich gewöhnte sie sich an Chas’ Vorliebe, ständig über dieses Thema zu reden, und fand es ganz amüsant.
Es kam ihr jedoch nach wie vor merkwürdig vor, als Außenseiter die berühmten »Vierhundert« der amerikanischen Gesellschaft zu betrachten, wo sie aufgrund ihrer Abstammung ein willkommener Gast in deren Mitte hätte sein können – wenn sie nicht davongelaufen wäre.
Ende des Sommers hatte sie in den Klatschspalten gelesen, daß die bedeutenden Familien der Gesellschaft aus ihren Villen in Newport für den Beginn der Saison nach New York zurückkehrten. Beiläufig hatte sie erwähnt, daß William Astor ein enger Freund ihres Vaters sei und ihn regelmäßig auf seinen Reisen nach Europa besuche. Chas hatte sofort vorgeschlagen, sie solle Mrs. Astor einen Brief schreiben und sich vorstellen. Alice war dieser Vorschlag fragwürdig vorgekommen, und sie hatte darauf hingewiesen, daß ihr nur ein Empfehlungsschreiben die Pforten zur Gesellschaft öffnen würde, an der sie überdies nicht interessiert war. Sie wollte nicht noch einmal diesen Zirkus mitmachen. Da Chas jedoch darauf bestand, hatte sie an Mrs. Astor geschrieben und nie eine Antwort bekommen. Was Alice nicht wußte, war, daß Mrs. Astors verheiratete Tochter im Jahr zuvor mit einem anderen Mann durchgebrannt war. Auf Abwege geratene Töchter waren in Mrs. Astors Salon zu diesem Zeitpunkt tabu. Chas war darüber bitter enttäuscht gewesen.
Da ihnen die Crème de la crème der New Yorker Gesellschaft den Zutritt zu ihren Kreisen verwehrte, begnügten sich die beiden mit ihren eigenen Freunden, jungen und unbekümmerten Menschen wie sie selbst. Die Tage verliefen nach einem bestimmten Muster. Chas holte sie im Hotel ab, dann trafen sie sich in einem von vier bevorzugten Restaurants zum Lunch mit ein paar Freunden. Nach dem Essen gingen sie und Chas einkaufen oder spazierten durch den Park. Am Abend trafen sie sich wieder mit Freunden zum Dinner – meistens im Delmonico – und vergnügten sich anschließend beim Tanz in einem Club, was für Alice eine völlig neue und aufregende Erfahrung war. Sie fand ihre Lebensweise sehr nonkonformistisch. Die Mädchen schminkten sich, und manche rauchten sogar. Sie scheuten auch nicht davor zurück, ihre männlichen Begleiter in der Öffentlichkeit zu berühren, zu umarmen und zu küssen, was Alice schockierend fand.
Roger und Delaware waren Chas’ beste Freunde und wurden stets von Beth und Caroline begleitet. Die beiden jungen Frauen schüchterten Alice mit ihrer unbekümmerten, forschen Art ein. Ihre Gesprächsthemen waren ausschließlich Kleider, Frisuren und Klatschgeschichten. Beide Mädchen waren hübsch, wirkten aber mit ihren schmalen Mündern und harten Augen leicht verkniffen. Sie erinnerten Alice an exotische, aber räuberische Vögel. Ihr war auch bewußt, daß die beiden Amerikanerinnen sie für eingebildet und prüde hielten. Eigentlich fühlte sie sich in dieser Gesellschaft nicht wohl und sehnte sich oft nach Gertie.
Wenn sie Chas’ Freunde auch manchmal fragwürdig fand, so war Chas die Perfektion in Person – nun, beinahe. Es gab Zeiten, da war er aus unerklärlichen Gründen ziemlich schroff zu ihr. Das geschah meistens am späten Abend, wenn er sich von ihr verabschiedete. Dann küßte er sie nur flüchtig auf die Wange und schob sie abrupt von sich. Dieses Verhalten verletzte sie, aber da er morgens stets gutgelaunt wiederkam, dachte sie nicht weiter darüber nach.
Es waren mehr als drei Monate vergangen, seit Chas’ Kutsche vor dem Haus in London vorgefahren war und Alice nach Tilbury entführt hatte, wo sie an Bord der Luxusjacht von John Waddell gingen, einem alten Freund von Chas. Der Luxus auf dieser Jacht erstaunte Alice. In dem Plüschsalon mit dem dicken Teppich, den holzverkleideten Wänden, den schweren Vorhängen vor den Bullaugen und den bequemen Polstersesseln und Sofas erinnerte nur die sanfte Bewegung des Schiffes daran, daß man sich auf See befand. Die Mahlzeiten wurden im anschließenden, elegant ausgestatteten Speisezimmer eingenommen. Ihre Kabine mit dem breiten Bett, dem Feuer im Kamin und dem in Marmor gehaltenen Badezimmer ähnelte eher einem Prunkgemach. Umgeben von diesem Luxus, war Alice entsetzt über den Anblick, der sich ihr bei der Ankunft im New Yorker Hafen bot. Sie stand an der Reling und beobachtete, wie die Passagiere aus dem Zwischendeck der Einwandererschiffe in Boote verladen und nach Ellis Island transportiert wurden. Nach der langen Überfahrt boten diese Menschen einen jämmerlichen Anblick, wirkten völlig erschöpft und verängstigt. Alice war sofort von Schuldgefühlen über ihre eigene bequeme Atlantiküberquerung gequält worden.
»Wie schmutzig und krank diese Menschen aussehen«, hatte sie zu ihrem Gastgeber gesagt, der neben ihr stand und völlig ungerührt das erbärmliche Spektakel betrachtete.
»Für zehn Dollar kann man keinen Komfort verlangen«, hatte der gesagt. »Außerdem bereitet es die Leute auf Ellis Island vor.«
»Was passiert denn dort?« hatte Alice gefragt.
»Ach, es macht Spaß, sich das anzusehen. Wir arrangieren einen Ausflug für Sie dorthin«, hatte John Waddell geantwortet und ihr erklärt, daß seinen Gästen diese demütigenden Formalitäten erspart blieben.
Zwei Tage später hatte Alice in Begleitung ihrer reichen und eleganten Freunde die riesige Immigrationshalle auf Ellis Island betreten. Der Lärm und das Geschrei war ohrenbetäubend, denn Tausende von Menschen versuchten sich in Dutzend verschiedenen Sprachen Gehör zu verschaffen. Die Bündel mit ihren wenigen Habseligkeiten an sich gepreßt, warteten sie geduldig wie die Tiere darauf, das strenge Auswahlverfahren zu bestehen. Über der Halle lag ein unbeschreiblicher Gestank. Alice sah die Verzweiflung in den Gesichtern dieser Menschen, die voller Hoffnung die Reise in ein verlockendes Land angetreten hatten. Jeder Immigrant mußte eine flüchtige Untersuchung über sich ergehen lassen, und wenn der Arzt innerhalb dieser fünf Minuten eine Krankheit diagnostizierte, wurden die Unglücklichen erbarmungslos von Verwandten und Freunden abgesondert und in eine andere Halle gebracht. In diesen paar Minuten zerbrachen Lebensträume, und Alice versuchte Augen und Ohren vor diesem Elend zu verschließen. Sie hatte genug gesehen. In der Geborgenheit ihrer Kutsche wandte sich Alice an Chas. »Das war ein entsetzliches Erlebnis. Ich fühle mich beschmutzt.«
»Sei nicht so zimperlich, Alice.«
»Ich bin nicht zimperlich. Es ist eine Schande, wie diese armen Leute behandelt werden.«
»Von wegen arme Leute! Sie bekommen die Gelegenheit, in einem herrlichen Land zu leben. Die Ankunft hier ist die Erfüllung ihrer Träume.«
»Ich fand es abscheulich, sie wie die Tiere im Zoo anzugaffen. Du hättest mich nicht dorthin bringen dürfen«, sagte Alice schrill. Sie liebte Chas, das wußte sie genau, aber manchmal erschreckte sie seine Gefühllosigkeit. Mißmutig starrte sie aus der Kutsche. Arme la, mußte sie plötzlich denken. Das Elend, das sie eben gesehen hatte, wäre ein Teil von las Traum von Amerikagewesen – weniger ein Traum als ein Alptraum. Wenigstens war Ia die Demütigung erspart geblieben, die sie eben gesehen hatte.
In den darauffolgenden Wochen dachte sie öfter als in den Jahren zuvor an ihre alte Freundin. Früher hatte sie den Gedanken an Ia einfach verdrängt, weil ihr die Erinnerung zu schmerzhaft gewesen war. Aber jetzt schien sie ständig in ihren Gedanken herumzuspuken.
Sechs Wochen nach ihrer Ankunft in New York hatte Alice einen Brief von Miss Gilby erhalten, in dem sie ihr den Inhalt einer Unterhaltung mit Mrs. Trelawn wiedergab, die ihr in einem leicht angetrunkenen Zustand anvertraute, daß Alice auf grausame Weise von Queenie getäuscht worden war. Mrs. Trelawn hatte Miss Gilby enthüllt, daß Ia Blewett nicht gestorben, sondern in ein Waisenhaus gesteckt worden war. Ihren jetzigen Aufenthaltsort kannte allerdings niemand. Als Alice zu Ende gelesen hatte, zitterte sie vor Aufregung. Ia lebte! Dieses Wissen war gleichzeitig aufregend und schockierend. Wie verletzt Ia über ihren scheinbaren Verrat gewesen sein mußte! Wie hatte sie unter dieser bitteren Enttäuschung leiden müssen! Welche Not hatte sie als Folge dieses Betrugs erleiden müssen? Als Chas kam, fand er Alice in einem Zustand höchster Erregung vor.
»Mein Liebling, setz dich, beruhige dich und erzähle mir alles.«
Alice holte tief Luft und erzählte ihm von dem Brief. »Ich werde nicht zulassen, daß sie auf Ellis Island landet. Sie wird Zweiter Klasse reisen. Ich sorge dafür, daß sie ein Ticket bekommt.«
»Wer, Alice?«
»Meine Freundin. Ich habe dir von ihr erzählt. Ich hielt sie für tot, aber es besteht die Chance, daß sie noch am Leben ist. Ich muß sie finden. Ich liebe sie von Herzen. Ich möchte, daß sie zu mir nach New York kommt. Ich werde ihr die Überfahrt bezahlen. Es war immer ihr Traum, eines Tages nach Amerika zu gehen.«
»Warum kann sie die Überfahrt nicht selbst bezahlen?«
»Chas, sie ist arm, arbeitet wahrscheinlich irgendwo als Dienstmädchen. Sie kann den Fahrpreis nicht aufbringen.«
»Dann ist das Zwischendeck wohl gut genug für sie«, antwortete er lakonisch.
Alice ärgerte sich plötzlich über diese unverhohlene Kälte den Problemen anderer Leute gegenüber, die sie als schreckliche Gefühllosigkeit empfand.
»Ich dachte, Amerika sei ein demokratisches Land«, fuhr sie ihn an.
»Ist es auch, innerhalb gewisser Grenzen. Großer Gott, wir freunden uns doch nicht mit unseren Dienstboten an.« Er griff nach Hut und Handschuhen. »Willst du ausfahren?« fragte er barsch.
»Nein, danke«, entgegnete Alice verletzt und verwirrt. Zum erstenmal hatten sie sich gestritten.
Ohne auch nur den Hut abzunehmen, setzte sich Alice sofort an den Sekretär und schrieb an Mr. Woodley in Penzance. Sie bat ihn, ungeachtet der Kosten, nach Ia zu suchen und ihr ein Ticket Zweiter Klasse für die Überfahrt nach Amerika und Geld für die Reise auszuhändigen. Den Rest ihres Vermögens, das sich jetzt auf etwa 1500 Pfund belief, solle er nach New York transferieren. Auch etwaige Unterhaltszahlungen, die ihr Vater vielleicht weiterhin für sie bewilligt hatte, mögen ihr geschickt werden. Diesem Schreiben legte sie einen Brief für Ia bei, in dem sie das Mißverständnis aufklärte und ihre Freundin um Verzeihung für das ihr angetane Unrecht bat.
Während sie den Brief versiegelte, blitzte in ihr plötzlich die Erinnerung an die Szene vor dem Haus ihres Vaters am Tag ihrer Flucht auf. Das Mädchen, das den Bürgersteig gefegt hatte ... jetzt wußte sie, an wen dieses Mädchen sie erinnert hatte. Drei Jahre waren vergangen, seit Ia aus ihrem Leben verschwunden war. Damals war Ia noch ein Kind gewesen ... Trotzdem ... Sie griff nach einem weiteren Blatt Papier und schrieb den Brief, vor dem sie bisher zurückgescheut hatte. Sie schrieb an ihren Vater. Sie bat ihn nicht um Verzeihung. Sie erklärte nur kurz ihren Entschluß, ihr Leben mit dem Mann teilen zu wollen, den sie liebte. Sie schrieb ihm, was für ein feiner Mann Chas sei. Sie bat um das Verständnis ihres Vaters. Als Nachschrift setzte sie unter den Brief die Frage, ob in seinem Haushalt ein Dienstmädchen namens Ia Blewett beschäftigt sei. Wenn ja, möge er ihm sagen, es solle mit Mr. Woodley Kontakt aufnehmen. Alice blickte auf die Briefe und war höchst zufrieden. Ihren Ärger auf Chas hatte sie vergessen.
Dieser Zwischenfall hatte vor einem Monat stattgefunden, und keiner von beiden hatte je wieder darüber gesprochen. Ihr Zusammenleben war wieder von Liebe und Freundschaft geprägt.
Manchmal, wenn Chas sie küßte, fühlte sie eine Woge merkwürdiger, köstlicher Gefühle durch ihren Körper strömen. Sie hätte sich ihm bereitwillig hingegeben, wenn er es gewollt hätte – aber er bedrängte sie nie. Er verhielt sich wie ein perfekter Gentleman. Für die Gesellschaft mochte Alice als kompromittierte und gefallene Frau gelten, aber in Wirklichkeit war sie noch ebenso jungfräulich wie bei der Flucht aus dem Haus ihres Vaters.
Auf der Jacht, während der Atlantiküberquerung, hatten sie getrennte Kabinen bewohnt, und als Mrs. Waddell, ihre Gastgeberin, vorgeschlagen hatte, sich vom Kapitän auf hoher See trauen zu lassen, hatte Chas zu Alice’ Enttäuschung abgelehnt. Er hatte erklärt, Alice im Haus seiner Eltern heiraten zu wollen. Dieser Begründung konnte sich niemand verschließen, und der aufregende Vorschlag wurde fallengelassen.
Jetzt, drei Monate später, war Alice noch immer nicht Chas’ Eltern vorgestellt worden. Das verwunderte sie oft. Ihr einziger Wunsch war, endlich Mrs. Cordell zu werden, doch ihre Erziehung und Schüchternheit verboten es ihr, Chas zu fragen. An manchen Tagen fragte sie sich auch, wann Chas endlich arbeiten würde. Er sprach nie davon, und ihre finanzielle Situation begann Alice allmählich zu beunruhigen.
»Alice!«
Bei seinem Anblick vergaß sie alle ihre Sorgen und warf sich ihm in die Arme.
»Ich glaube, du verbringst die Vormittage im Bett, Chas«, neckte sie ihn.
»Ich war heute morgen außerordentlich beschäftigt.«
»Was hast du getan, Chas?« fragte sie eifrig.
»Morgen –früh, beim ersten Sonnenstrahl, starten wir zu einer Expedition. Wir fahren zum Bear Mountain und verbringen in der Jagdhütte von Delawares Eltern das Wochenende. Es wird dir gefallen – die Hütte liegt mitten im Wald, und rundum herrschen nur Friede und Ruhe. Abends sitzen wir vor einem knisternden Feuer ... ich möchte, daß du siehst, wie meine Vorfahren gelebt haben.«
»Chas, das klingt einfach wundervoll.« Alices Augen strahlten vor Freude über den Ausflug aufs Land. »Aber, Chas, da ist etwas ...«
»Was bedrückt dich, meine Liebe?«
Alice rang verlegen die Hände. »Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll ... Könntest du mir etwas Geld leihen, damit ich mir warme Kleidung kaufen kann? Ich habe schon vor Wochen an Mr. Woodley, meinen Anwalt, geschrieben, und die Geldüberweisung aus England sollte eigentlich jeden Tag eintreffen.«
»Mein armer Liebling. Was bin ich doch für ein gedankenloses Monster! Natürlich mußt du Garderobe für den Winter haben. Hol sofort deinen Hut. Wir kaufen dir die schönsten Kleider, die New York zu bieten hat. Für meine zukünftige Frau gibt es nur das Beste.«
Alice schmiegte sich an ihn. Sie liebte es, wenn er so mit ihr sprach. Das gab ihr ein Gefühl der Sicherheit.